4. November 2015 Joachim Bischoff / Bernhard Müller

Politische Blockaden in der Flüchtlingsfrage

Die anhaltend hohe Zahl der nach Europa und Deutschland kommenden Schutzsuchenden belastet die politischen Kräfteverhältnisse erheblich. Im Zentrum des Konflikts: Die Skepsis und Ablehnung gegenüber dem Zustrom der Schutzsuchenden in die Bundesrepublik bei Teilen der Bevölkerung und deren Verstärkung durch kommunale und regionale PolitikerInnen hat zu einer deutlichen Richtungsauseinandersetzung innerhalb des bürgerlichen Lagers geführt.

Es gibt einen Streit über die Möglichkeiten einer deutlichen Absenkung der Flüchtlingszahlen. Während Bundeskanzlerin Merkel, unterstützt durch das trotz des wachsenden Widerstandes anhaltende zivilgesellschaftliche Engagement vieler BürgerInnen und trotz politischer Kompromisse, daran festhält, dass Bürgerkriegsflüchtlinge in der Berliner Republik willkommen sein sollen, ficht die CSU im Bund mit dem konservativen Flügel der Schwesterpartei für »Flüchtlingsobergrenzen« und einen noch repressiveren Umgang mit den Schutzsuchenden, als der den die gerade verabschiedete »Reform« der Asylgesetzgebung eh schon vorsieht.

Nach massiven Drohungen des rechten Flügels haben sich CDU/CSU auf ein Positionspapier geeinigt, für dessen Umsetzung noch die SPD gewonnen werden muss. In der Substanz ist dieses Positionspapier nicht mehr als ein weiterer Beleg für den Kontrollverlust der Mehrheit der politischen Klasse über die weitere Entwicklung der Zukunft dieses Landes und Europas. Die Richtung ist eindeutig: Eine härtere Gangart gegenüber den AsylbewerberInnen und reichlich Finanzunterstützung für die Türkei zur Abschottung ihrer Grenzen Richtung Europa – mehr fällt dem bürgerlichen Lager zur »Lösung« der mit der Bewegung der Schutzsuchenden aufgeworfenen Herausforderungen nicht ein.

Nach wie vor wird die entscheidende Ursache für die große Bevölkerungsbewegung über das Mittelmeer ausgeblendet: Angesichts von langjährigem Krieg und Bürgerkrieg, sowie dem Zerfall von staatlichen Institutionen und der daraus resultierenden Zerstörung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses sind große Teile der betroffenen Bevölkerungen zu Binnenflüchtlingen und »displaced persons« geworden. Ihre Überlebenschancen in der Nähe der Konflikt- und Kriegsgebiete hängen an den Flüchtlingslagern der UN-Hilfsorganisationen.

Seit etlichen Monaten ist die Finanzierung dieser UN-Projekte zusammengebrochen. Die Wiederherstellung ausreichender Finanzen für die UN-Organisationen von UNHCR und Welthungerhilfe wird auch in dem neuen Maßnahmenpaket von CDU/CSA ausgeblendet, obwohl dies die humanitäre Situation in den Flüchtlingslagern rund um Syrien entscheidend verbessern und viele Schutzsuchende von gefährlichen Fluchtrouten über das Meer abhalten könnte.

Damit drohen in Europa, aber auch in Deutschland, »Verwerfungen« bzw. Entwicklungen, »die niemand wolle«. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnt zu Recht vor einem Umschlag politischer Spannungen in militärischen Auseinandersetzungen, wenn Deutschland die Grenze zu Österreich für Flüchtlinge schließen sollte. Mit Blick auf die Erfahrungen mit dem ungarischen Zaunbau an der Grenze zu Serbien sagte Merkel: »Es wird zu Verwerfungen kommen.« Es gebe heute auf dem westlichen Balkan zum Teil schon wieder solche Spannungen, dass sie jüngst um eine Konferenz zur Balkanroute gebeten habe. »Denn ich will nicht, dass dort wieder (...) militärische Auseinandersetzungen notwendig werden«, die sie mit ihrer bisherigen Politik gerade verhindern wollte.

Fakt ist: Bund, Länder und Kommunen müssen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zunächst einmal Milliardenkosten stemmen. Die Kosten für die Versorgung der Flüchtlinge für das laufende Jahr 2015 werden auf rund zehn Mrd. Euro taxiert. Das ist angesichts von Überschüssen in den öffentlichen Kassen »gut verkraftbar«. Es gibt allerdings enorme Verteilungsprobleme zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Im nächsten Jahr werden die Kosten noch deutlich höher liegen. Je nach unterstellten Flüchtlingszahlen könnten auf Länder und Kommunen im Jahr 2016 flüchtlingsbedingte Ausgaben zwischen circa sieben Mrd. Euro und 16 Mrd. Euro zukommen. Angesichts dieser Größenordnungen ist es völlig unverständlich, weshalb die EU-Mitgliedsstaaten und auch die Bundesrepublik zögern, zügig die Mittel der UN-Hilfsorganisationen um einen zweistelligen Milliardenbetrag aufzustocken.

Eine verschärfte Abgrenzung gegenüber Flüchtlingen verschlimmert die humanitäre Krise und erhöht das Risiko von politischen Blockaden und Verwerfungen. Zu der im Positionspapier von CDU/CSU vorgeschlagenen härteren Gangart gegenüber den Schutzsuchenden gehört »als vordringlichste Maßnahme zur besseren Kontrolle über die Grenzen« die Einrichtung von Transitzonen im Landgrenzverfahren. »In diesen Transitzonen wird für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern, mit Wiedereinreisesperre, mit Folgeanträgen und ohne Mitwirkungsbereitschaft ein beschleunigtes Asylverfahren einschließlich Rechtsmittelverfahren und Rückführung durchgeführt. Die Ausgestaltung des Verfahrens erfolgt in enger Anlehnung an das Flughafenverfahren, das nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Hafteinrichtung ist.«

Mit der Etablierung solcher Transitzonen, wird eine gefährliche Eskalationsspirale in Gang gesetzt. Denn in der Logik solcher Transitzonen liegt es, dass dafür Haftzentren aufgebaut werden müssen, damit Kapazitäten zur Kasernierung der Flüchtlinge bereitstehen. Anders kann nicht sichergestellt werden, dass die Flüchtlinge während der Prüfung ihres Asylantrags in der Transitzone verbleiben. Und um zu verhindern, dass Flüchtlinge an den offiziellen Übertrittsstellen vorbei über die grüne Grenze nach Deutschland gelangen, müssten – denkt man den Vorschlag zu Ende – an der deutschen Grenze ein meterhoher Zaun nach ungarischem Vorbild errichtet und durch bewaffnete Grenztruppen gesichert werden.

Und: Der Personenkreis, der in solchen Haftzentren länger (möglichst bis zur Abschiebung) festgehalten wird, kann nach Bedarf weiter ausgedehnt werden. Der Kreis der Länder, die als »sichere Herkunftsstaaten« deklariert werden, wurde schon bisher mehrfach ausgeweitet. Jetzt steht zur Diskussion, auch das durch Krieg und Bürgerkrieg zerstörte Afghanistan faktisch zum »sicheren Herkunftsland« zu erklären und mit der afghanischen Regierung ein entsprechendes Abkommen zu schließen.

Die Begründung, die etwa Bundesinnenminister de Maiziere dafür liefert, ist nur mehrzynisch. Afghanistan, so de Maiziere, habe viel Entwicklungshilfe bekommen. »Da kann man auch erwarten, dass die Menschen dort bleiben.« Sicherlich sei die Sicherheit in Afghanistan nicht so hoch wie anderswo, doch es gebe durchaus sichere Gegenden. Der Abschiebe-Stopp für abgelehnte AsylbewerberInnen aus Afghanistan sei daher nicht gerechtfertigt. Auch im Falle der Türkei ist jetzt von einem »sicheren Drittstaat« die Rede. Rücknahmeabkommen mit Bangladesh, Pakistan und verschiedenen afrikanischen Ländern sollen – ganz egal wie sich die Lage konkret vor Ort darstellt – neu abgeschlossen oder »effektiver umgesetzt« werden.

Letztlich, das wird auch von Vertretern der CSU und des konservativen Flügels gar nicht bestritten, steht am Ende dieser Logik die Wiederinkraftsetzung des Dublin-Verfahrens: Flüchtlinge aus »sicheren Drittstaaten«, und da sind alle Staaten rund um Deutschland, sollen dorthin auch wieder abgeschoben werden. Deutschland macht die Grenzen dicht, und löst damit eine »Rückschiebelawine« aus, vor deren Folgen für Europa die Bundeskanzlerin noch warnt. Sie befürchtet bei Schließung der deutschen Grenze zu Österreich militärische Auseinandersetzungen. Mit dem Positionspapier von CDU/CSU wurde das Tor für solche unkontrollierten Entwicklungen weit aufgemacht. Die Sozialdemokratie wird angesichts der Machtoptionen in der Berliner Republik keinen entschiedenen Widerstand gegen die Entwicklung organisieren.

Auch die anderen Maßnahmen im Positionspapier von CDU und CSU atmen den Geist der Repression und der Abschreckung – auch gegenüber den Flüchtlingen mit »guter Bleibeperspektive«. So soll bei der »Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die »Erbringung von Sprach- und Integrationskursen künftig auf das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum angerechnet werden«.

Dabei wurde mit der Gesetzesänderung vom Oktober gerade erst beschlossen, für bestimmte Flüchtlingsgruppen mit »guter Bleibeperspektive« im laufenden Asylverfahren die Integrations- und Sprachkurse zu öffnen. Insbesondere SPD und Grüne hatten mit dieser Änderung ihre Zustimmung begründet. Selbst diese Verbesserung gerät nun durch CDU/CSU unter Beschuss. Integrations- und Sprachkurse werden verpflichtend auf den Bargeldbedarf von AsylbewerberInnen angerechnet. Bislang hat das BAMF zumindest einen Teil der Kosten übernommen.

»Das soziokulturelle Existenzminimum ist jedoch keine Sozialleistung, auf die nach politischem Gutdünken Kosten angerechnet werden können. Nach dem Bundesverfassungsgericht umfasst das aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitete soziokulturelle Existenzminimum die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Konkret fallen unter diese Leistungen beispielsweise Telefonkarten, um mit den Verwandten zu telefonieren, Fahrkarten, Kinokarten etc. Durch die Anrechnung der Kosten für Integrationskurse werden Flüchtlinge damit vor die Entscheidung gestellt: Gebe ich das Geld für den Erwerb der deutschen Sprache aus oder will ich mit meinem Ehepartner und mit meinen Kindern telefonieren?

Im Übrigen zeigen sich in der konkreten Anwendung der Sprachkursöffnung erhebliche Schieflagen. Denn unter Flüchtlinge mit ›guter Bleibeperspektive‹ fallen nach Angabe der Bundesagentur für Arbeit nur jene aus Syrien, Eritrea, Iran und Irak. Ausgeschlossen sind damit beispielsweise SomalierInnen, die ebenfalls hohe Anerkennungsquoten haben, aber auch AfghanInnen und staatenlose SyrerInnen.« (Pro Asyl)

Zu den verfassungsrechtlich sehr bedenklichen Vorschlägen im Positionspapier gehört auch, dass »der Familiennachzug für Antragssteller mit subsidärem Schutz für einen Zeitraum von 2 Jahren ausgesetzt werden« soll. »Subsidiär Schutzberechtigte erfüllen zwar nicht die Voraussetzungen der Genfer Flüchtlingskonvention, erhalten aber einen Aufenthaltstitel, da ihnen im Falle einer Abschiebung in ihr Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, beispielsweise durch Todesstrafe, Folter oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens. Eine Aussetzung des Familiennachzugs kann nicht per Verordnung oder Erlass in Kraft treten, sondern bedürfte einer erneuten Änderung des Aufenthaltsgesetzes: Für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz gelten die Neuregelungen der Gesetzesänderung vom 1. August. Zudem folgt ihr Anspruch auf Familiennachzug aus Art. 6 GG und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention, in dem die Wahrung und der Schutz der Familie unter besonderem Schutz stehen.« (Pro Asyl)

Die im Positionspapier vorgeschlagenen »Maßnahmen auf europäischer und internationaler Ebene« beschränken sich im Kern auf »einen strikten Schutz der Außengrenzen der EU«, der vor allem durch eine »gemeinsame Migrationsagenda« mit der Türkei sichergestellt werden soll. Die Türkei soll mehr Geld bekommen zur besseren Versorgung von Flüchtlingen und das Inkrafttreten »der Rückführung von Drittstaatsangehörigen aus der EU in die Türkei« beschleunigt werden. Im Gegenzug werden die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei wieder aufgenommen und eine Visumsfreiheit von türkischen BürgerInnen in Aussicht gestellt.

Mit den Drohungen der rechten Strömungen in der christlichen Union wird die Politik in der Flüchtlingsfrage in eine politische Sachgasse hineingesteuert. Die Alternative zu Abschottung und Ausgrenzung liegt in einer konsequenten Stärkung der UN-Hilfsorganisationen und der Stärkung von Ansätzen einer europäischen Antwort auf die Fluchtbewegung und den Zusammenbruch der zivilgesellschaftlichen und staatlichen Ordnungen vor allem im Bereich des Nahen Osten.


Wie wird es weitergehen?

Im Oktober sind nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 218.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Das ist die höchste Zahl, die jemals innerhalb eines Monats registriert wurde, wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mitteilte. Mit 218.394 Bootsflüchtlingen flohen im Oktober fast genauso viele Menschen über das Mittelmeer wie im gesamten Jahr 2014 mit 219.000 Flüchtlingen. »Das war die höchste Zahl seit dem Ausbruch der Syrien-Krise, die wir je in nur einem Monat verzeichnet haben«, sagte der Sprecher des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR), William Spindler. Als Grund für die hohe Zahl nannte Spindler erstens dass viele Flüchtlinge sich aus Furcht vor einem demnächst restriktiveren Vorgehen Deutschlands beeilt hätten, noch rechtzeitig nach Europa zu gelangen. Zweitens habe sich die Versorgungssituation in den Lagern der Nachbarländer Syriens verschlechtert.

Mittlerweile machen Menschen aus Syrien einen großen Teil der Flüchtlinge aus, was auch zu einer Verlagerung der Fluchtrouten Richtung Osten führte. 2014 begann der Großteil der Flüchtlinge – nämlich mehr als drei Viertel – die Überfahrt noch von der nordafrikanischen Küste nach Italien. Doch in diesem Oktober landeten laut UNHCR nur noch rund 8.000 Flüchtlinge in Italien. Die Menschen versuchen nun von der Westküste der Türkei auf eine der griechischen Inseln – in den meisten Fällen Lesbos – überzusetzen.

Die allermeisten Bootsflüchtlinge kamen im Oktober in Griechenland an. Nur rund 8.000 landeten nach Angaben des UNHCR in Italien. 2014 hatten noch mehr als drei Viertel aller Bootsflüchtlinge über Italien die EU erreicht. Einige steuern auch Malta und Spanien an. In diesem Jahr trafen bisher insgesamt bereits 744.000 Bootsflüchtlinge ein. 3.440 starben bei der Fahrt übers Meer oder werden vermisst. Im gesamten Jahr 2014 waren rund 216.000 Bootsflüchtlinge gezählt worden, die lebend an Europas Küsten ankamen.

Laut UNHCR sind 64 Prozent der Flüchtlinge auf der Westbalkanroute SyrerInnen, gefolgt von AfghanInnen (22 Prozent) und IrakerInnen (sieben Prozent). Geändert hat sich auch das Geschlechterverhältnis. Gab es bis vor einigen Monaten noch die Meldung, dass 80 Prozent der Flüchtlinge Männer seien, zeigen UNHCR-Daten nun ein anderes Bild. Nur mehr 62 Prozent der Flüchtlinge auf der Westbalkanroute sind Männer, 14 Prozent Frauen – und 22 Prozent Kinder.

In den letzten Jahren markierte der Oktober immer eine Zäsur. Mit Beginn der kalten Jahreszeit kamen weniger Flüchtlinge nach Europa. So gelangten im Oktober 7.432 Menschen über die Türkei nach Griechenland, im folgenden November waren es nur mehr die Hälfte, nämlich 3.800 Menschen, und im Dezember 2.050. Das UNHCR in Genf glaubt in diesem Jahr nicht an einen spürbaren Effekt des nahenden Winters. »Wir rechnen nicht damit, dass die Zahlen so sinken wie normalerweise im Winter«, sagt eine UNHCR-Sprecherin. An der türkischen Westküste warten noch immer Hunderttausende auf einen Platz in kleinen, oft völlig überfüllten Booten. Deshalb rechnet die griechische Polizei damit, dass auch in den kommenden Wochen täglich 7.000 Flüchtlinge Griechenland erreichen werden. Für die Zahl der Menschen auf der Flucht sei nicht das Wetter entscheidend ist: Eine gewichtige Rolle spiele auch und vor allem, ob sich die Situation in den Lagern in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei verbessere, so Christoph Pinter, Chef des UNHCR-Büros in Österreich.

Die sich abzeichnende humane Katastrophe will die EU durch einen 17-Punkte-Plan unterbinden. Es sollen insgesamt 100.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge geschaffen werden. 50.000 davon sollen in Griechenland entstehen, davon 30.000 bis Ende des Jahres. 20.000 Flüchtlinge will man in Wohnungen unterbringen. Die Mieten sollen mit EU-Geldern subventioniert werden. Die übrigen 50.000 sind in den Ländern entlang der Route nach Norden vorgesehen. Eine zentrale Rolle soll dabei das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR spielen. UNO-Flüchtlingskommissar António Guterres erklärte, die Aufnahmeplätze könnten helfen die Flüchtlingsbewegungen »besser zu bewältigen und vorhersehbarer zu machen«. Unbestreitbar ist aber, dass dies nur ein erster Schritt ist, denn 50.000 Plätze auf dem Balkan sind für den Winter natürlich zu wenig, wenn man die Zahlen der letzten Wochen sieht.

Ohne Zweifel ist Europa auf das extremste herausgefordert und ohne einen solidarischen Notplan droht eine fundamentale Beschädigung der Staatenunion. Der Notplan umfasst drei Ziele: die Einigung auf eine freiwillige Quote zur Verteilung von Flüchtlingen, die Registrierung von Flüchtlingen im ankommenden Land statt unkontrolliertes Durchwinken sowie der verbesserte Austausch von Informationen untereinander. Außerdem müssten die Registrierzentren, also die Hotspots, an den EU-Außengrenzen ausgebaut werden.

In diesem Konzept der humanitären Versorgung der Flüchtlinge muss viel größeres Gewicht auf die Verbesserung der Flüchtlingslager am Rande der Krisengebiete in Nahost gelegt werden. Die EU kann Flüchtlingslager für Millionen Menschen in der Türkei, Jordanien und im Libanon mitfinanzieren. In Absprache mit den internationalen Hilfsorganisationen und der UNHCR müssen die Unterbringung und Versorgung am Rande der Krisengebiete durchgreifend verbessert werden. Dies unterstellt weitere Schritte zu einer fairen Lastenverteilung in der EU. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte, es dürfe auf der Balkanroute nicht zu einer humanitären Tragödie kommen.

Von einer Verbesserung der humanitären Versorgung der Flüchtlinge kann aber bisher keine Rede sein. Die Unterfinanzierung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR und des Welternährungsprogramms WFP hält an. So will die EU jetzt für syrische Flüchtlinge in Jordanien angesichts des nahenden Winters zusätzliche 28 Mio. Euro zur Verfügung stellen. Das kündigte der EU-Kommissar für humanitäre Angelegenheiten, Christos Stylianides, an. Dadurch wird die humanitäre Hilfe der EU seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 auf insgesamt 198 Mio. Euro aufgestockt. Mit dem zusätzlichen Betrag sollen Partnerorganisationen der EU unter anderem für Heizkosten, Decken, sauberes Wasser und Haushaltsgeräte aufkommen.

Die UNHCR begrüßte diese Ankündigung. »Die Unterstützung der EU ist natürlich sehr willkommen und wird den Flüchtlingen helfen, über den Winter zu kommen.« Der gesamte Bedarf für die über 630.000 syrischen Flüchtlinge in Jordanien, von denen nun bereits viele das fünfte Jahr im Exil verbringen würden und kaum Zugang zum Arbeitsmarkt hätten und dementsprechend fast vollständig auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, »ist aber leider noch um einiges höher«. Laut UNHCR sind vom Gesamtbedarf für Jordanien in der Höhe von 1,2 Mrd. US-Dollar für 2015 mit Stand 20. Oktober erst 45 Prozent ausfinanziert.

Den EU-Institutionen ist es bislang nicht gelungen über die kurzfristigen Maßnahmen hinaus ein Konzept zu erarbeiten, das ganz Europa aus seinem Krisenmodus herausführt und damit in die Lage versetzt, eine Integrationsleistung zu vollziehen, die nur mit der nach Ende des Zweiten Weltkrieges vergleichbar ist. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte zu Recht: »Wenn politisch der Wille nur besteht, Zäune zu bauen oder Mauern zu bauen, dann ist Europa, das Europa, das wir kennen, auf einer Schleife, wo es dann in kurzer Zeit in sich zusammenbricht. Das müssen wir verhindern.«

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