5. November 2011 Joachim Bischoff / Richard Detje: Halten die »Brandschutzmauern«?

Postdemokratie in Europa

Es wird mindestens eine gute Dekade dauern, bis die Schuldenkrise im günstigsten Fall überwunden sein wird. Diese Einsicht ist auch bei der Bundeskanzlerin angekommen: Die Schulden seien über Jahrzehnte aufgehäuft worden, »das heißt, diese Schuldenkrise wird auch nicht mit einem Mal vorbei sein«. Angela Merkel spricht von einem »sehr mühevollen Weg«.

Mit Blick auf die Auswirkungen der Schuldenkrise auf Wirtschaft und Arbeitsplätze in Deutschland sagt sie: »Auf Dauer gilt natürlich: Wenn es Europa nicht gut geht, wird es auch Deutschland nicht gut gehen.« Deshalb müsse man alles daran setzen, »in Europa die Dinge in Ordnung zu bringen«.

Die »Dinge« zeigen aber bereits massive Kollateralschäden – ökonomisch-finanzpolitische wie Beschädigungen demokratischer Werte. Auch die mächtigsten PolitikerInnen werden in den letzten Monaten von den Imperativen des Ökonomischen Systems getrieben. Die Rezepte gegen die »Schuldenkrise« haben eine ganz geringe Halbwertzeit. Der Mitherausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, konstatiert zu Recht: »Es wird immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode ist, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen. Schon hat das Politische massiv an Boden verloren, was man daran erkennt, dass alle politischen Begriffe, die mit dem geeinten Europa verbunden waren, im Wind zerstoben sind, wie Asche. Aber der Prozess beschleunigt sich.« Insofern kann man über die Ankündigung eines Dekadenprozesses von Seiten der Bundeskanzlerin nicht beruhigt sein.

Aber mehr noch: Die Liste der politischen Opfer der Großen Krise in Europa wird immer länger. In Island, Griechenland, Großbritannien, Irland, Portugal und Dänemark verloren Parteien und Regierungen ihre Macht. Am 20. November wird mit größter Wahrscheinlichkeit die PSOE in Spanien folgen. Sicher: Nicht alle Ablösungen von Regierungen und Wechsel in den politischen Kräfteverhältnissen sind allein als Krisenfolgen zu verbuchen – in London hatte die Labour Party bereits unter Tony Blair abgewirtschaftet, aber selbst dort wirkte die Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Staatskrise noch als Brandbeschleuniger. Und nach Spanien kommen mit Sicherheit Italien und am 22. April möglicherweise auch Frankreich auf diese Liste.[1]

Das Novum in Griechenland ist, dass die Krise dort bereits ihre zweite Runde in der politischen Klasse dreht. Die sozialdemokratische Pasok unter ihrem Vorsitzenden Giorgios Papandreou stand nach zwei verlorenen Wahlen 2004 und 2007 zunächst als strahlender Sieger da. Am 4. Oktober 2009 hatte sie die Wahlen mit 43,94% und einer absoluten Mehrheit der Parlamentssitze gewonnen. Nach nur einer halben Legislaturperiode stehen Umfragen zufolge nicht mehr als 15% der WählerInnen hinter ihr.

Das ist die Rückkehr des Brüning-Effekts: Politische Krisen in kürzeren Zyklen in Folge einer die gesellschaftlichen Verhältnisse zersetzenden Austeritätspolitik. Regierungen werden gestürzt, aber das Wechselspiel von Regierung und Opposition funktioniert nicht mehr. Was ist noch mit einer »Demokratie« anzufangen, in der eine »Volksbefragung« nur ein taktisches Manöver ist und in der Wahlen so gut wie keinen Einfluss auf die Entwicklung des Landes haben. Denn die wird in Europa – ausgehend von den Machtzentren in Paris und Berlin – von den Kommissaren der EU, der EZB und des IWF bestimmt, die de facto die Regierungsgeschäfte im Rücken der nationalen Exekutive übernommen hat: in Griechenland, Irland, Portugal und schließlich auch in Italien.

Das Argument des »Sachzwangs«, die TINA-Formel (»There is no alternative«), hat in der Troika ihre politische Institutionalisierung erfahren – die Installierung von Übergangsregierungen oder so genannter Expertenkabinette ist da nur noch der sinnfällige Ausdruck des Niedergangs der politischen Mehrheitsklassen.

Von einem schnellen Ende der Großen Krise redet niemand mehr. In offiziellen Dokumenten wird das gesamte zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zur Krisenepoche verlängert. So im fünften Troika-Report, der Griechenland frühestens ab 2021 wieder Zugang zu den Kapitalmärkten prognostiziert. Wobei noch immer von einem Erfolg der Austeritätstherapie ausgegangen wird: Ab 2013 soll der ökonomische Niedergang gestoppt sein und eine langsame Erholung einsetzen. Gewiss, nachdem das BIP in den Jahren 2009-2012 um über 15% und die »Bruttoanlageinvestitionen real um 45% hinter dem für 2007 berichteten Niveau« (Troika, Okt. 2011, S. 12) eingebrochen sind, werden auch wieder Ersatzinvestitionen fällig sein. Aber bislang sind sowohl die griechische Regierung wie auch EU und IWF die Antwort darauf schuldig geblieben, wie eine ökonomische Erneuerung des Landes bewerkstelligt und damit ein Ausweg aus der in offiziellen Zahlen auf über 17% steigenden Arbeitslosigkeit gefunden werden soll.

Von der Stärkung des Exports und des Tourismus, wovon allein die Rede ist, ist das nicht zu erwarten – zumal nicht in einer Zeit, in der mittlerweile selbst das EZB-Direktorium eine (wenn auch »milde«) Rezession im Euroraum erwartet. Doch ganz im Sinne wettbewerbsorientierter Politik werden »alle Parameter mit Einfluss auf die Arbeitskosten ... auf den Prüfstand gestellt, also u.a. Löhne, Mindestlöhne und der nationale Tarifvertrag[2] sowie die verschiedenen Lohnnebenkosten und damit auch die Sozialabgaben« (ebd., S. 38) – nachdem die Löhne bereits um 15-20% gefallen, die Renten gekürzt und der Abbau der öffentlichen Beschäftigung von 776.000 auf 602.000 angekündigt ist. So taumelt Griechenland von einer Rezession in eine Depression – und damit sind die nächsten politischen Krisen vorbestimmt.

Doch im Grunde erregt nicht mehr in erster Linie Griechenland die Gemüter. Das wichtigste Wort in Europa lautet »Brandschutzmauer«. Gemeint ist damit, eine Ausweitung der Finanzkrise auf Spanien und Italien zu verhindern. Für 170 Mrd. Euro hat die EZB in den letzten Monaten Staatsanleihen gekauft, seit Anfang August rd. 90 Mrd. italienische und 30 Mrd. spanische Papiere. Doch das hat die Renditen nur kurzfristig gesenkt. Mittlerweile liegt der Abstand italienischer zu deutschen Anleihen bei 4,5% – der höchste Stand seit der Einführung des Euro. Und mit 6,25% liegt die Rendite im Falle Italien nur noch knapp unterhalb der als maximal verkraftbar geltenden Marge. 965 Mrd. Euro muss Italien in den kommenden drei Jahren refinanzieren – ein Großteil davon im kommenden Jahr. Dass die Troika nun auch die Überwachung des italienischen Haushalts übernommen hat und die italienische Bourgeoisie einen »Staatsstreich« gegen Berlusconi plant, gehört zur Postdemokratie in Europa.

In Spanien ist der kurze wirtschaftliche Aufschwung nach drei Jahren schwerer Wirtschaftskrise bereits wieder auf Stagnationsniveau zurückgefallen, mit Perspektive Rezession im kommenden Jahr. Selbst bei 5 Millionen Arbeitslosen (22,6%) ist noch nicht die Grenze erreicht. Und wie in Griechenland fordert Mariano Rojoy, Spitzenkandidat der rechten Volkspartei und allen Umfragen zufolge der nächste spanische Ministerpräsident »vor allem die Politik der kollektiven Tarifverträge zu ändern und die Übereinkünfte in ganzen Branchen und Regionen durch Abkommen in Betrieben zu ersetzen« (FAZ vom 4.11., S. 13). Und sollte er seine Ankündigung auch nur in Ansätzen wahrmachen wollen, die Staatsverschuldung von aktuell über 7% auf 4,4% im kommenden Jahr zu senken, steht das dramatischste Austeritätsprogramm in der Geschichte Spaniens auf der Tagesordnung. »Die Rede ist von 30 Mrd. Euro – das Dreifache der Einschnitte aus dem Jahr 2010, die Zapatero politisch ins Bodenlose stürzen ließen« (El País). Eine derartige Radikalisierung der Austeritätspolitik könnte der spanischen Ökonomie – dem Immobiliensektor und der Bauindustrie allemal – das Rückgrat brechen.

Was die von mit EFSF-, IWF- und EZB-Mitteln errichtete Brandschutzmauer zum Einsturz bringen kann, ist die Gefahr des Zusammentreffens einer Krise der Realwirtschaft und der Finanzmarktkrise im kommenden Jahr – wenn in Frankreich gewählt wird. Das wäre ein »worst szenario«. Ausgeschlossen ist das nicht. Brüning lässt grüßen.

[1] Wir zählen den Regierungswechsel von der großen Koalition zu Schwarz-Gelb hierzulande nicht dazu, weil der Niedergang der Sozialdemokratie letztlich auf die Neue-Mitte-Strategie und die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung zu Beginn des Jahrzehnts zurück gehen.

[2] Um die »Lohnrigidität aufzubrechen« soll das nationale Tarifsystem durch massive Förderung von Haustarifverträgen aus den Angeln gehoben und der Einfluss der Gewerkschaften beschnitten werden. Dazu heißt es im Troika-Report: »Haustarifverträge sollen zudem dadurch erleichtert werden, dass die Verhandlungen mit beliebigen Arbeitnehmervertretern geführt werden können. Die Regierung wird das Recht auf Aushandlung von Haustarifverträgen für Unternehmen aller Größenordnungen auf andere Arbeitnehmervertreter als die Gewerkschaften ausdehnen.« (S. 38)

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