30. April 2017 Otto König / Richard Detje /Peter Stahn: IG Metall-Tarifvertrag Leiharbeit schlechter als das Gesetz?

Prekäre Arbeit wird verlängert

Leiharbeit zählt zu den Schrittmachern prekarisierter Arbeit. Erstmals zugelassen wurde diese Art des Beschäftigungsverhältnisses am 7. August 1972 mit dem »Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung« (AÜG). Die Begrenzung der Einsatzzeit war zunächst auf drei Monate, später auf sechs Monate am gleichen Arbeitsplatz begrenzt.

Damit sollte verhindert werden, dass regulär Beschäftigte durch Leiharbeiter ersetzt werden. Doch insbesondere die Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die rot-grüne Bundesregierung im Zuge der Hartz-»Reformen« 2003 – verpackt im ersten »Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« – schuf eine »Hauptverkehrsstraße für die Ausweitung prekärer Beschäftigung« (Annelie Buntenbach). Gab es zunächst rund 300.000 Leiharbeiter, überschritt 2016 die Zahl erstmals die Marke von einer Million. Laut Bundesarbeitsministerium waren im Jahr 2015 in den Sektoren Metallerzeugung und -bearbeitung sowie Metallbau 11,2% der Beschäftigten Leiharbeiter. Der Anteil ist damit viermal so hoch wie in der Gesamtwirtschaft (2,6%).

Der Verdienst liegt bei 58% des durchschnittlichen Bruttomonatsverdienstes in der Branche. Damit wurde Leiharbeit zum Einfallstor für Lohndumping: »Stamm«-Beschäftigte werden unter Druck gesetzt, tarifliche Standards der Flächentarifverträge unterlaufen und Mitbestimmungsrechte angegriffen. In den Betrieben entstand eine Drei-Klassen-Belegschaft: Stamm-, Leih- und Werkvertragsbeschäftigte.

Erstmals im Herbst 2010 gelang es der IG Metall in der Eisen- und Stahlindustrie, einen Tarifvertrag abzuschließen, in dem »gleiches Geld für gleiche Arbeit« vereinbart wurde. Auf der politischen Ebene gab es bis dahin nur geringfügige Änderungen im AÜG wie beispielsweise die »Schlecker Regelung« von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen.[1] Eine Re-Regulierung scheiterte sowohl am Widerstand der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, die sich in ihrer »unternehmerischen Freiheit« bedroht fühlten, als auch an den politischen Kräfteverhältnissen in der schwarz-roten Koalition.

In der Tarifbewegung der Metall- und Elektroindustrie 2012 konnte die IG Metall mithilfe des Drucks warnstreikender Stammbeschäftigter den »Tarifvertrag zur Leih-/Zeitarbeit« (TV LeiZ) sowie einen »Tarifvertrag über Branchenzuschläge« durchsetzen. Es gelang, »einen breiten Fuß in die Tür zu kriegen«, kommentierte der damalige baden-württembergische Bezirksleiter Jörg Hofmann den Abschluss. Allerdings gelang es den Arbeitgebern, festzuschreiben, dass Leiharbeiter 24 Monate« ohne Einschränkungen im Betrieb beschäftigt werden können. Zwar ist bereits nach 18 Monaten durch den entleihenden Betrieb die unbefristete Übernahme zu prüfen, doch erst nach zwei Jahren muss der entleihende Betrieb dem Betroffenen ein Übernahmeangebot in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis machen.

Mit dieser Kampagne konnte die Gewerkschaft rund 80.000 neue Mitglieder unter den LeiharbeiterInnen gewinnen. Denn die Regelung im TV LeiZ 2012, dass Betriebsräte und Arbeitgeber weitergehende Betriebsvereinbarungen über Einsatzzwecke, Einsatzbereiche und das Volumen der Leiharbeit sowie die Höhe der Vergütung und Übernahmeregelungen abschließen können, ermöglichte Fortschritte bei der Deckelung des Leiharbeitseinsatz und bei den Entgeltregelungen. Eine Auswertung von betrieblichen Regelungen in bundesweit 24 größeren Betrieben, OEMs und Zulieferer, ergab, dass in 17 Vereinbarungen das Thema »Höchstüberlassungsdauer« keine Rolle spielte.[2] Dagegen hat der Druck der Betriebsräte und Vertrauensleute in vielen Fällen zur Übernahme – wenn auch oft im ersten Schritt nur in »befristete« Arbeitsverhältnisse – geführt.

Die zum 1. April dieses Jahres in Kraft getretene Reform des AÜG schreibt eine »Höchstverleihdauer von 18 Monaten« sowie »Equal Pay« und »Equal Treatment« nach spätestens neun Monaten fest. Leiharbeitskräfte sind bei betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten zu berücksichtigen und Unternehmen ist es untersagt, Leiharbeiter zum Streikbrechereinsatz zu missbrauchen. Erfolgreiche Lobbyarbeit insbesondere in den Reihen der CSU verhinderte Fortschritte bei der Regelung von Werkverträgen, bei der Mitbestimmung der Betriebsräte sowie im Hinblick auf das Synchronisationsverbot.[3]

Wie Detlef Hensche in der Zeitschrift Sozialismus (10/2016) schreibt, findet sich »die Unsitte, gesetzliche Schutzbestimmungen zur Disposition der Tarifvertragsparteien zu stellen«, auch im Paragraf 1 Abs. 1b des AÜG wieder. Dort lautet die Öffnungsklausel: Eine betrieblich vereinbarte längere Entleihdauer ist möglich, wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber von sich aus in Tarifverträgen die Höchstüberlassungsdauer zeitlich festlegen.

Aufgrund der gesetzlichen Neuregelungen musste die IG Metall mit Gesamtmetall auf Bundesebene neu über die Anpassung des Tarifvertrags LeiZ verhandeln. Hätte sie das nicht getan, wären die jeweiligen bezirklichen Tarifverträge zur Leih-/Zeitarbeit und der Tarifvertrag über Branchenzuschläge ohne Nachwirkung am 30. Juni 2017 ausgelaufen. Diese Verhandlungen erfolgten, soweit wir das überblicken können, weitgehend ohne Informationen und Aktionen für und mit den Betroffenen. In den bezirklichen Tarifverträgen, die auf Basis der bundesweiten Rahmenregelung im März abgeschlossen wurden und wie das Gesetz zum 1. April in Kraft treten sollten, wurde in Paragraf 3 Ziffer 3 festgeschrieben: »Die Tarifparteien stimmen darin überein, dass die Höchstdauer eines Einsatzes nach diesem Tarifvertrag (§§ 3 und 4 Nr. 1) 48 Monate nicht überschreiten darf.«

Mit dieser Formulierung geht der Tarifvertrag künftig in »Ausnahmefällen« – wie die IG Metall betont – weit über die seit dem 1. April geltende gesetzliche Obergrenze von 18 Monaten für die Arbeitnehmerüberlassung hinaus. Voraussetzung ist eine Betriebsvereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, in der der Einsatz von Leih-/Zeitarbeit und die Ausgestaltung der betrieblichen Flexibilität geregelt wird. Auch wenn darin die Einsatzdauer zwischen 0 und 48 Monate nicht ohne die Zustimmung des Betriebsrates vereinbart werden kann, haben sich die Metallarbeitgeber mit der Verdopplung der Einsatzsatzzeiten von 24 Monaten auf 48 Monaten erneut durchgesetzt.[4]

Auch der neue TV LeiZ definiert, wann ein Sachgrund für Leiharbeit vorliegt, z.B. bei »Vertretungsfällen« (Krankheit, Schwangerschaft), oder um »Auftragsspitzen« abzuarbeiten. Doch selbst Betriebsräte-Befragungen der IG Metall belegen, dass es den Arbeitgebern in den seltensten Fällen darum geht. Die Unternehmen in der Metall- und Elektroindustrie nutzen längst neben der »internen Flexibilität« z.B. durch Arbeitszeitkonten mit der Leiharbeit vermehrt die »externe Flexibilität«. So zeigte sich der NRW-Metallarbeitgeberpräsident, Arndt Kirchhoff, mit der Einigung auf 48 Monate zufrieden, denn sie mache die »Nahles-Regulierung« hinfällig und verschaffe »den Unternehmen mehr Flexibilität und Spielräume bei der Personalplanung.« (WAZ, 26.4.2017)

Die in der Kritik stehende Höchstüberlassungsdauer von 48 Monate fand sich bereits im Debattenpapier der IG Metall Baden-Württemberg (16.9.2016) als auch in einer Resolution der bayerischen Tarifkommission der IG Metall (16.10.2016), in der es heißt: »Der TV LeiZ ist dahingehend neu zu vereinbaren, dass in Betrieben mit Betriebsvereinbarungen die Betriebsparteien eine Höchstüberlassungsdauer vereinbaren, die sich auf maximal 48 Monate beschränken muss.« Das heißt im Klartext: Man akzeptierte, dass die Arbeitgeberseite nicht bereit war, eine Zahl unter 48 Monaten zu vereinbaren und verwahrte sich gegen eine noch darüber hinaus gehende Höchstüberlassungsdauer.

Einer der Gründe für diese massive Ausweitung liegt wohl, wie im Tarifvertrag beschrieben, darin, dass der Einsatz von Leiharbeit erforderlich sei, »weil Fachkräfte mit speziellen Qualifikationen im Betrieb nicht vorgehalten werden«. Dies zielt insbesondere auf Bereiche hochqualifizierter Beschäftigung in internationalen Arbeitsverbünden wie der Produktentwicklung sowie Finanz- und IT-Sektoren der Automobilproduzenten ab. Die Länge der bis 48-monatigen Einsatzzeit orientiert sich an deren spezifischen Produkt- und Programmzyklen. Hajo Holst betont in einer Untersuchung über den Einfluss liberalisierter Finanzmärkte auf Unternehmen, dass nicht nur Produktionsbereiche, sondern insbesondere auch industrielle Forschung und Entwicklung zum Einsatzfeld von Leiharbeit und Werk-/Dienstverträgen geworden sind; dort werden Kernkompetenzen sehr restriktiv definiert und feste Stellen oft nur dann geschaffen, wenn sie in Eigenregie günstiger zu erbringen sind, als durch Ausleihe oder Zukauf auf dem Markt.[5]

Die Länge der Einsatzdauer von Leiharbeitern korreliert zudem mit der Intensität der Nutzung von Leiharbeit. Betriebe mit vielen Leiharbeitskräften, wie sie beispielsweise in der Automobilindustrie zu finden sind, nutzen diese auch über eine längere Zeit (siehe Tab.).

 

Den Kritikern der Verschlechterung gegenüber der gesetzlichen Regelung wird entgegen gehalten: Nach neun Monaten hat der Leiharbeiter mit einem Branchenzuschlag von 50% nahezu Equal Pay; wird er nach 18 Monaten nicht übernommen (was das Gesetz nicht vorschreibt), kann er vom Entleiher in einem anderen Betrieb eingesetzt oder entlassen werden; damit fällt er entweder auf den nackten Zeitarbeitstarif (ohne 50% Branchenzuschlag) oder Arbeitslosengeld zurück. Im Zweifelsfall fange er entsprechend dem »Drehtüreffekt« nach drei Monaten Arbeitslosigkeit wieder im gleichen Entleiher-Betrieb am gleichen Arbeitsplatz an.

Zweifellos sind die Betroffenen froh, wenn sie neben dem kargen Leiharbeitslohn Branchen-zuschläge erhalten und ihnen vorerst der Gang zur Arbeitsagentur erspart bleibt. Doch auch nach 48 Monaten sieht der Tarifvertrag LeiZ keine automatische Übernahme vor (außer diese konnte in der Betriebsvereinbarung festgeschrieben werden).

Dass die Erklärungsfrist über die Annahme der ausgehandelten Tarifverträge zum wiederholten Mal nach hinten verschoben wurde und diese noch nicht in Kraft getreten sind, hängt mit dem Drängen der Arbeitgeber auf eine »Paketlösung« zusammen: für sie bedingen die beiden Tarifverträge Leih-/Zeitarbeit und Branchenzuschläge einander. Und mit der Zeitarbeitsbranche sind die neuen Branchen-Zuschlagsregelungen noch nicht fertig ausgehandelt.

Im November 2012 war vereinbart worden, dass Leiharbeiter nach sechs Wochen Einsatzdauer 15% Branchenzuschlag, nach drei Monaten 20%, nach fünf Monaten 30%, nach sieben Monaten 45% und nach neun Monaten 50% erhalten. Damit werden die Entgelte der Leihkräfte, die nach Zeitarbeitstarif bezahlt werden, an die Löhne der Einsatzbranche herangeführt.[6] Jetzt wollen IG Metall und Zeitarbeitsverbände eine weitere höhere Branchenzuschlagsstufe nach 15 Monaten Einsatzdauer einbauen.

Die in Kreisen der IG Metall immer wieder zu hörende Einschätzung, der neue TV LeiZ verschlimmere nichts an der Situation der Leiharbeiter, aber er verbessere auch kaum etwas, ist defensiv und rechtfertigt mitnichten die Ausweitung der gesetzlichen Obergrenze von 18 Monaten auf 48 Monate im Tarifvertrag. Dagegen hat sich mal wieder einmal bestätigt, dass zentrale Tarifverhandlungen ohne Druck aus den Betrieben nur dann zu »Kompromissen« führen, wenn sie mit Gegenleistungen kompensiert werden.

[1] Der Praxis der inzwischen in Insolvenz gegangenen Schlecker-Drogeriekette und anderen, Arbeitnehmer zu kündigen und über zuvor selbst gegründete Leiharbeitsunternehmen zu schlechteren Bedingungen wieder einzustellen, sollte künftig ein Riegel vorgeschoben werden.
[2] Vgl. »Handlungsoptionen bei Leiharbeit« – Debattenpapier für die Große Tarifkommission M+E-Industrie Baden-Württemberg am 16.09.2016
[3] Wenn die Dauer des Arbeitsvertrages mit der Leiharbeitsfirma und der Einsatz im Entleihbetrieb zeitgleich (synchron) verlaufen.
[4] Noch im Gesetzgebungsverfahren AÜG hatten beispielsweise WSI-Wissenschaftler die Befürchtung geäußert, dass viele Betriebsräte vom Management stark unter Druck gesetzt werden. Vgl. Nadine Absenger/Andreas Priebe/ Helge Baumann/Marc Amlinger/Wolfram Brehmer/Karin Schulze Buschoff/Daniel Seikel/Thorsten Schulten/Alfred Kleinknecht: Leiharbeit und Werkverträge. Das aktuelle Reformvorhaben der Bundesregierung. WSI-Report Nr. 32, Düsseldorf 10-2016.
[5] In: Michael Faust/Jürgen Kädtler/Harald Wolf/Christoph Deutschmann/Klaus Kraemer/William Lazonick/Rüdiger Mautz/Hartmut Hirsch-Kreinsen/ Katrin Hahn/Hajo Holst: Der Einfluss von Finanzialisierung auf Arbeit, Wachstum und Innovation. International Labour Studies Bd. 8, Frankfurt a.M./New York.
[6] Zu berücksichtigen ist allerdings, dass nur jeder vierte Leiharbeiter überhaupt länger als neun Monate beim selben Arbeitgeber beschäftigt ist und so in den Genuss des gleichen Lohns wie die Stammbelegschaft kommen würde. Rund die Hälfte der Zeitarbeiter kommt gerade einmal auf drei Monate Einsatzzeit.

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