13. Juli 2015 Leo Panitch: Syriza und die Tage der Entscheidung

Requiem am Lenin-Mausoleum?

Haben all diejenigen, die jetzt Lenin zum Leben erwecken und Syriza einer erbärmlichen »Niederlage von welthistorischer Bedeutung« bezichtigen und dabei kaum ein Wort darüber verlieren, was denn für einen Sieg erforderlich wäre, sich überhaupt die Mühe gemacht, die Vorschläge zu lesen, die Syriza vor dem Referendum zur Abstimmung vorgelegt hat und die konsequent von der Eurogruppe und dem IWF, den »Institutionen«, zurückgewiesen worden waren?

Genau diese Zurückweisung stand beim Referendum zur Abstimmung. Mit dem überwältigenden OXI im Rücken gelang es Alexis Tsipras, den Rücktritt von Antonis Samaras, dem führenden Repräsentanten der griechischen herrschenden Klasse und früheren Ministerpräsidenten, durchzusetzen und dann alle Parteivorsitzenden, die sich als Sprachrohr der herrschenden Klasse sehen, dazu zu bringen, Syrizas Position zu akzeptieren, dass nicht nur eine Restrukturierung der Schulden, sondern auch Mittel für Investitionen erforderlich sind.

Man könnte sogar sagen, dass – wenn es den Übertritt einer Klasse gegeben hat – es genau anders herum war, dass also Syrizas Politik eher dem entspricht, was Gramsci mit hegemonialer Strategie umschrieb, und nicht einer politischen Methode gleicht, die die Ereignisse mit einer Perspektive aus dem Lenin-Mausoleum heraus betrachtet.

Die Formulierungen in Syrizas Verhandlungsgrundlagen vor und nach dem Referendum waren nahezu identisch. Was gestern noch von den griechischen Leitmedien als intransigent bezeichnet wurde und entsprechend von den Medien im Ausland nachgeplappert wurde, wird jetzt als Kapitulation herausgestellt, nur um die Bedeutung dieses Vorgangs – das Festhalten an den Grundsätzen der Verhandlungsvorschläge – zu verschleiern.

Das überrascht nicht, aber was verblüfft, ist die sofortige Übernahme dieser Interpretation, dass wir es hier mit einer Kapitulation zu tun haben, seitens der westlichen radikalen Linken, von denen man eine eher anspruchsvoll-verständige Lektüre und kein vorschnelles negatives Urteil hätte erwarten können. Klar, auch von vielen der radikalen Linken in Griechenland wird vorschnell geurteilt, so auch von den Syriza-Abgeordneten, die gegen die Verhandlungsgrundlage gestimmt haben oder sich der Stimme enthielten. Aber damit  werfen sie nur die Frage auf, ob die Strategie eines Grexits, wie sie von Antarsya (die weniger als 1% bei den Parlamentswahlen im Januar erhalten haben) vertreten wird, heute tragfähiger ist als damals.

Verhandlungskompromiss – ja oder nein?

Während wir auf den Ausgang der Verhandlungen warten, die in der Tat bedeutsam sind, stellt sich die Situation folgendermaßen dar. Sollte in dem Abkommen tatsächlich eine signifikante Schuldenrestrukturierung und ein Fonds für Investitionen enthalten sein und nicht an weitere Auflagen gebunden sein, würde das den gerade im Parlament verabschiedeten Plan von Haushaltsüberschüssen in Höhe von 11 Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre um ein Vielfaches übertreffen.

Selbst wenn dies die effektiven Ergebnisse der Verhandlungen sein sollten, wird noch eine gewisse politische Erfahrung erforderlich sein, das zu erkennen, weil es nicht direkt in den Ergebnissen aufscheint, damit die anderen europäischen Staats- und Regierungschefs das verschleiern können vor ihren Wählern. Zur Veränderung deren Einstellungen haben die Arbeiterbewegungen Mittel- und Nordeuropas wenig oder nichts beigetragen. Auch Tsipras müsste die Verhandlungsergebnisse überzeugend erläutern, damit die Griechinnen und Griechen die Bedeutung dieses Sieges verstehen, den er und – durch ihre Unterstützung beim Referendum – auch sie errungen haben.

Das ist kein Sieg von »welthistorischer Bedeutung« – um diesen Sprachduktus noch einmal aufzugreifen. Denn es ändert nichts daran, dass die Revitalisierung der griechischen Ökonomie an die von Griechenland aus so gut wie nicht zu beinflussende Entwicklung des durch und durch kapitalistischen Europas gebunden ist. Aber es würde bedeuten, dass die von Syriza geführte Regierung sich nicht selbst ausschließt aus dem weiteren Kampf, um dieser Entwicklung entgegenzutreten und sie zu verändern.

Andererseits, wenn Tsipras in den Verhandlungen dieselben Auflagen für eine Schuldenrestrukturierung akzeptieren muss und ohne eine Garantie für einen Fonds für Investitionen nach Hause kommt, dann wird es in der Tat spannend zu sehen, wohin Lenin – aus dem Mausoleum entlassen – uns führen wird, wenn er sich ein weiteres Mal mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert sieht, dass ein Bruch im schwächsten Kettenglied die stärkere Bindung der Arbeiterbewegungen Mittel- und Nordeuropas zum inländischen und globalen Kapitalismus nicht hat aufweichen können.

Leo Panitch ist Mitherausgeber des Jahrbuchs der internationalen Linken Socialist Register und Distinguished Research Professor an der York University in Toronto, Kanada. Zurzeit hält er sich in Athen auf. Letzte Buchveröffentlichung (mit Sam Gindin): The Making of Global Capitalism: The Political Economy of American Empire (Verso). Sein hier redaktionell leicht bearbeiteter Kommentar erschien unter dem Titel Requiem at an Empty Grave? zuerst am 12. Juli 2015 als E-Bulletin No. 1139 auf der Website von socialist project . Übersetzung: Hinrich Kuhls.

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