25. August 2022 Redaktion Sozialismus.de: Die Lage in der Ukraine und in Russland

Sechs Monate Krieg und kein Ende in Sicht

Die russische Erwartung eines Blitzsieges in der »militärischen Spezialoperation« hat sich als Illusion herausgestellt. Die Ukraine hat den russischen Angriffskrieg abgeblockt. Trotz beträchtlichem Terrainverlust leistet die ukrainische Armee weiter Widerstand. Doch die Ukrainer*innen zahlen einen hohen Preis: Neben den Verlusten an Territorium (ca. 20%) und den Zerstörungen geht die Zahl der militärischen und zivilen Todesopfer bereits in die Zehntausende.

Auch nach einem halben Jahr Krieg existieren über deren Zahlen nur grobe Schätzungen. Laut den Vereinten Nationen sind über 5.500 Zivilist*innen getötet worden, knapp 7.900 wurden verletzt. Die UNO geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl wesentlich höher liegt. Mehr als ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung ist in andere Landesteile oder ins Ausland geflüchtet.

Zu den auf beiden Seiten gefallenen Soldat*innen gibt es ebenfalls kaum unabhängige Informationen. Laut offiziellen ukrainischen Angaben sind seit Kriegsbeginn knapp 9.000 Militärangehörige getötet worden. Russland veröffentlicht keine Zahlen zu seinen Verlusten. Der amerikanische Geheimdienst CIA schätzte im Juli, dass insgesamt 15.000 Kämpfer*innen umgekommen und dreimal so viele verwundet sein dürften.

Ein wesentlicher Faktor für die Schwächung der ukrainischen Wirtschaft sind die Millionen, die ihre Heimat verlassen haben. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) spricht von einer der größten Fluchtbewegung in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mehr als 6,6 Mio. Geflüchtete aus der Ukraine wurden laut UNHCR in Europa bisher registriert. Die meisten Menschen suchten Schutz im Nachbarland Polen, aber auch nach Deutschland sind fast eine Mio. Ukrainer*innen geflüchtet.

Nach dem Abzug Russlands aus dem Umland der Hauptstadt Kiew sind bereits Hunderttausende wieder in die Ukraine zurückgekehrt. Andere wollen nach dem Ende des Krieges schnellstmöglich zurück. Ein Teil versucht sich fernab der Heimat ein neues Leben aufzubauen, auch wenn die Integration in den Arbeitsmarkt in vielen Ländern nur schleppend vorangeht.


Materialschlacht und westliche Waffenlieferungen

Der Krieg hat sich in einen materialintensiven Stellungskrieg verwandelt. Neben der Zerstörung von Menschenleben und Kriegsmaterial ist die Destruktion der urbanen und ländlichen Siedlungsgebiete beträchtlich. Die Kyiv School of Economics hat Schäden allein an der zivilen Infrastruktur in der Höhe von 100 Mrd. US-Dollar dokumentiert. Die tatsächlichen Zahlen dürften viel höher liegen.

Beide Streitkräfte greifen auf Material aus Sowjetzeiten zurück. Dieses ist besonders im Einsatz gegen moderne westliche Waffen verletzlich, wie das Beispiel des Kampfpanzers T-72 zeigt, der bisher besonders oft zerstört wurde. Allein auf russischer Seite sind seit Kriegsbeginn rund 2.000 Kampf- und Schützenpanzer zerstört worden. Den Ukrainer*innen gelang es zudem, Nachschubkonvois zu treffen. Russland plagen außerdem immer wieder Logistikprobleme. Fahrzeuge mussten wegen Treibstoffmangels stehengelassen werden, und Artilleriegeschütze blieben im Frühlingsschlamm stecken.

Derweil versuchen westliche Staaten ukrainische Verluste durch Waffenlieferungen zu kompensieren. Selbst sechs Monate nach Kriegsbeginn birgt die Lieferung von Waffen aus dem Westen also noch immer Konfliktpotenzial. Während die Ukrainer*innen kontinuierlich mehr Waffen fordern, stocken die Lieferketten einzelner Länder.

Polen konnte schnell sowjetische Waffen aus seinem gut gefüllten Arsenal übergeben. Diese Waffen sind nicht nur wegen der kurzen Lieferwege schnell einsatzbereit, sondern auch, weil die Ukrainer*innen mit den Systemen vertraut sind. Ähnlich verhält es sich mit den Lieferungen von Tausenden von schultergestützten Panzerabwehrraketen, von Boden-Luft-Raketen oder Drohnen, die Großbritannien, Kanada oder Norwegen in das Kriegsgebiet gesendet haben.

Anders ist dies bei den schweren Waffen, die der Westen der Ukraine seit Anfang April zugesagt hat. Es dauert mitunter Wochen, bis diese an die ukrainische Grenze geliefert werden und bis die Soldat*innen in ihrer Anwendung geschult sind. Der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte ist abhängig von den Rüstungslieferung der westlichen Staaten. Damit sind diese in den Krieg involviert, auch wenn die große Mehrheit der Staaten den Schein der Neutralität gegenüber den Kriegsparteien aufrechterhalten will.

Die Unterstützung durch militärische, wirtschaftlich-finanzielle und humanitäre Leistungen zeigt ein ähnliches Bild.

Entgegen den russischen Erwartungen ist die ukrainische nationale Identität trotz der massiven Verluste stärker gefestigt denn je. Auch die politische Führung kann sich auf eine große Unterstützung durch die Bevölkerung stützen. Für die allermeisten Ukrainer*innen ist wegen des Krieges endgültig klar, wohin sich ihr Land bewegen soll – nach Westen. Ein Teilerfolg auf diesem Weg ist, dass die Europäische Union der Ukraine im Juni den Status eines Beitrittskandidaten verliehen hat.

Insofern hat die russische Führung unter Wladimir Putin wichtige Kriegsziele bereits verloren. Sie kann die Ukraine weiterhin schwächen und Europa mit der Energiewaffe unter Druck setzen. Aber die strategischen Ziele des Landgewinns und der Beendigung der teilweisen Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung sind kaum noch zu erreichen. Zudem musste man in Kauf nehmen, dass die NATO mit der Aufnahme von Schweden und Finnland ihr Bündnisgebiet nach Nordosten erweitert hat.


Wirtschaftskrieg mit gravierenden Folgen

Nach dem Angriffskrieg Russlands begann auch ein weltweiter Wirtschaftskrieg, an dem ca. 40 Staaten aktiv beteiligt sind. Der Westen reagierte auf die Invasion mit Sanktionen und koppelte Russland vom internationalen Finanzsystem ab. Als Reaktion darauf setzt der Kreml seine Energieressourcen als strategische Waffe gegen Europa ein und sucht erfolgreich vor allem in Asien nach Verbündeten und Abnehmern.

Abseits der militärischen Auseinandersetzung spielt sich seit sechs Monaten ein heftiger wirtschaftlicher Krieg ab, dessen Folgen erst in Monaten, wenn nicht Jahren, quantifizierbar sein werden. Statt Granaten und Marschflugkörpern kommen Handelsembargos, Sanktionen, das Einfrieren von Vermögen und Enteignungen zum Einsatz. Die Konsequenz wird wirtschaftlich eine veränderte Weltordnung sein.

Weltweit sind die Folgen des Krieges bereits jetzt zu spüren. Nach knapp sechs Monaten ist der Wirtschaftskrieg bei den Bevölkerungen der Großmächte angekommen, die nach bzw. noch mitten in der Pandemie mit steigender Inflation, Energieknappheit und einer möglichen Nahrungsmittelkrise konfrontiert sind. Die anhaltend hohen Temperaturen in ganz Europa haben den Energiebedarf der Verbraucher*innen in die Höhe getrieben, während die Industrie versucht, ihre Produktion wieder hochzufahren. Ganz zu schweigen vom bevorstehenden Winter, den Dürren auf beiden Erdhalbkugeln, der Umweltverschmutzung, den Unterbrechungen der Versorgungsketten und der anhaltenden Verwüstung der fruchtbaren Böden in der Ukraine. All dies wird die globalen Wirtschaftsprobleme noch verschärfen.

Die Preise für Energie und Lebensmittel schossen seit Ende Februar in vielen Ländern nach oben. Der internationale Preis für Weizen erreichte Mitte Mai einen Höchststand. Besonders ärmere Länder sind davon betroffen: Die Ukraine ist zweitgrößter Exporteur von Getreide weltweit und das wichtigste Herkunftsland für das Welternährungsprogramm. Hungersnöte werden befürchtet, weil monatelang keine ukrainischen Produkte exportiert werden konnten.

In den vergangenen Wochen hat sich die Lage etwas entspannt: Ende Juli konnte eine Einigung über deinen Deal durch Vermittlung des UNO-Generalsekretärs und der Türkei erzielt werden: Die Ukraine kann wieder Getreide über die Häfen am Schwarzen Meer ausführen – nach Angaben der Vereinten Nationen seit Anfang August im Umfang von mehr als einer halben Mio. Tonnen.

Während die USA und ihre europäischen Verbündeten bemüht sind, Russlands Finanzen mit einem dichten Geflecht von Strafen zu ersticken, haben sie vermieden, Getreide und andere Ernährungsgüter mit Sanktionen zu belegen. Russischer und ukrainischer Weizen, Mais, Gerste und Sonnenblumenöl sind wichtig für Länder in Asien, Afrika und Nahost, wo viele Menschen auf subventioniertes Brot zum Überleben angewiesen sind. Der rasante Anstieg von Nahrungsmittel- und Energiepreisen im Zuge des Ukraine-Krieges hat Millionen Menschen in Armut gestürzt oder näher an den Rand des Verhungerns gebracht.

Zwei Vereinbarungen, die im Juli unter Vermittlung der UN und der Türkei zustande kamen und die durch die Invasion blockierten Lieferungen freischalten, sind miteinander verknüpft. Die eine schützt Schiffe, die ukrainisches Getreide auf dem Weg über das Schwarze Meer exportieren. Die andere sichert Russland zu, dass seine Nahrung und Düngemittel nicht von Sanktionen getroffen werden, was einen Pfeiler seiner Wirtschaft schützt und Besorgnisse seitens Banken und Versicherungen lindert.

Das Land ist der größte Weizenexporteur der Welt, seine Ausfuhren machen fast ein Fünftel der globalen Lieferungen aus. Und es wird erwartet, dass trotz Krieg in diesem Jahr eine der besten Ernten erreicht wird. Die Agrarwirtschaft macht der Weltbank zufolge insgesamt 4% des russischen Bruttoinlandsprodukts aus. Außerdem hängen am Agrarsektor etwa für fünf bis sechs Mio. Jobs.

Leider hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass der Getreide-Deal durch einen Kompromiss in der Neutralisierung der Atomkraftwerke in der Ukraine erweitert werden könnte. Der Zugang zum Kernkraftwerk Saporischschja bleibt Streitthema zwischen Russland, der Ukraine und den Vereinten Nationen. Derweil bleiben die Sorgen wegen immer wieder neuer Kämpfe an der Anlage.

Die Vereinten Nationen haben von Russland und Kiew erneut grünes Licht für eine Expert*innen-Mission zum umkämpften Kernkraftwerk Saporischschja angemahnt. »Wir fordern die Parteien erneut auf, der Mission (der Internationalen Atomenergiebehörde) IAEA sofortigen, sicheren und ungehinderten Zugang zum Standort zu gewähren« – so die UN-Beauftragte für politische Angelegenheiten bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats.


Ukraine am Rande des Bankrotts

Angesichts der Dezimierung der Bevölkerung und der kriegsbedingten Unterbrechung von Wertschöpfungsprozessen steht die ukrainische Wirtschaft am Rande des Kollapses. Das Land ist nur noch mit westlicher Finanzhilfe überlebensfähig. Der Westen hat der Ukraine bisher Finanz- und Militärhilfen im Wert von ca. 90 Mrd. US-Dollar zugesagt. Allerdings klafft zwischen Ankündigungen und tatsächlicher Unterstützung eine Lücke. Und der Bedarf in der Ukraine steigt stetig.

Die Ukraine befindet sich im Krieg, und weil deshalb die wirtschaftlichen Aktivitäten aufgrund der Kämpfe teilweise zum Erliegen gekommen sind, schrumpfen einerseits die Löhne, die Firmenumsätze und die Staatseinnahmen. Andererseits sind die Staatsausgaben in die Höhe geschnellt. Eine besonders große Belastung stellen die Aufwendungen für das Militär dar. In den ersten sechs Monaten des Jahres haben sich die Militärausgaben im Vergleich mit 2021 versechsfacht, auf rund 334 Mrd. Hrywna. Das Budgetdefizit der Ukraine dürfte Ende Jahr 25% der Wirtschaftsleistung (BIP) betragen, schätzt die Nationalbank NBU. Wer deckt das Budgetdefizit, damit die Ukraine nicht das gleiche Schicksal wie andere Failed States ereilt?

Laut einer Zusammenstellung des Finanzministeriums von Mitte August hat sich der außerordentliche Finanzbedarf seit dem 24. Februar auf 27,2 Mrd. US-Dollar belaufen. Größter ausländischer Geldgeber waren die USA mit rund vier Mrd. US-Dollar und die EU mit 2,4 Mrd. US-Dollar. Die wichtigste Stütze des Staates war die Notenbank mit einem Anteil von 8,5 Mrd. US-Dollar. Seit Kriegsausbruch hat sie wiederholt neue Staatsanleihen erworben und so geholfen, das Defizit zu decken.

Diese Finanzierung durch die Zentralbank birgt hohe Risiken. Infolge der Geldmengenausweitung drohen Inflation und der Kurszerfall der Hrywna. Denn um die Importe bezahlen zu können, sollte das Land den Wert der Hrywna stabil halten. Weil die Geldpolitik die Währung aber unterminiert, hat die NBU den Leitzins auf 25% erhöht. Das soll die Ukrainer*innen dazu bewegen, Geld in heimische Staatsanleihen zu investieren, und Kapitalabflüsse ins Ausland verhindern. Gleichzeitig sind derart hohe Zinsen für den Staat und die Firmen eine Belastung. Die Ukraine befindet sich also in einer verzwickten Lage. Offenbar haben auch ausländische Investoren der Ukraine Zugeständnisse gemacht. Die Regierung muss bis 2024 die ausstehenden Anleihen nicht bedienen. Es geht um Obligationen im Wert von 19,6 Mrd. US-Dollar.

 

Die Krise Russlands und die zweischneidige Rubelstärke

Auch Russland befindet sich in einer tiefen ökonomischen Krise. Nach Forscher*innen der amerikanischen Universität Yale steuert die russische Wirtschaft auf einen Kollaps zu. Das Narrativ der angeblichen Widerstandsfähigkeit Russlands sei »schlichtweg unwahr«, schreiben sie in einer Studie von Ende Juli. Der Rückzug der westlichen Unternehmen und die Sanktionen würden die russische Wirtschaft »in katastrophaler Weise lähmen«. Schlagzeilen, die behaupteten, Russlands Wirtschaft habe sich erholt, entsprächen »einfach nicht den Tatsachen«.

Die Gegenposition vertrat ebenfalls im Juli der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem Weltwirtschaftsausblick. Russlands Wirtschaft stehe vor dem Hintergrund der westlichen Sanktionen besser da als erwartet, Europa hingegen bekomme den Krieg aufgrund seiner Abhängigkeit von Russland bei der Energieversorgung stärker als erwartet zu spüren – wobei ein vollständiger Gaslieferstopp besonders gravierende Konsequenzen hätte.

So umstritten die Bilanz des Wirtschaftskrieges ausfällt, so unbestritten ist, wer aus wirtschaftlicher Sicht am stärksten unter den Folgen des Krieges leidet: Die Ukraine wird dieses Jahr laut einer Schätzung der Weltbank voraussichtlich 45% ihrer Wirtschaftsleistung einbüßen. Die russische Invasion habe der Wirtschaft und der Infrastruktur des Landes einen massiven Schaden zugefügt. Die Ukraine brauche »sofort massive finanzielle Unterstützung«, um ihre Wirtschaft in Gang zu halten und ihre notleidenden Bürger*innen zu versorgen.

Präsident Putin hat die westlichen Sanktionen für gescheitert erklärt und im Juni auf einem Wirtschaftsforum einen Wandel der Weltordnung vorausgesagt: »Der wirtschaftliche Blitzkrieg hatte von Anfang an keine Chancen auf Erfolg.« Er suggerierte damit, dass trotz den präzedenzlosen Wirtschaftssanktionen des Westens das Land keinen wirklichen Schaden davontrage, ja sogar von der neuen Situation profitiere. Diese Erfolgsmeldung ist übertrieben, denn längerfristig dürfte die Embargopolitik auf den Sektoren der High-Technologie zu einer Schwächung der russischen Ökonomie führen.

Auf den ersten Blick geben Putin die jüngsten Zahlen recht, die das Statistikamt im August veröffentlichte. Im zweiten Quartal 2022 verzeichnete das Bruttoinlandprodukt nur einen Rückgang von 4%. Das Wirtschaftsministerium hat einen Wert von -4,2% für das ganze laufende Jahr prognostiziert, und auch die Einschätzung des IWF ist optimistischer als im Frühjahr.

Nach einem drastischen Rückgang erholen sich auch die Importe allmählich wieder, auch wenn sie das alte Niveau noch längst nicht erreicht haben. Das liegt zum Teil an der unterbrochenen Logistik, die neu organisiert werden muss, an Lösungen für den erschwerten Zahlungsverkehr infolge des Ausschlusses der wichtigsten Banken vom Zahlungssystem Swift und an neuen Lieferanten. Doch auch die Inflation hat sich stabilisiert. Die Wirtschaftskrise ist aber nicht ausgestanden, nur weil die Zwischenbilanz für die russische Wirtschaft positiver ausfällt als erwartet.

Mit der Blockierung eines substanziellen Teils der Devisenreserven, die als Schatz für Notzeiten gepflegt worden waren, hatte niemand gerechnet. Das war der wohl härteste Schlag gegen das Finanzsystem. Die Zentralbank verlor so die Möglichkeit, flexibel auf die Geldpolitik einzuwirken und den Schock abzufedern. Mit einer drastischen Leitzinserhöhung und schwerwiegenden Eingriffen in die Verfügbarkeit von Fremdwährungen gelang es ihr dennoch ziemlich schnell, den Rubelsturz abzuwenden. Sie opferte dafür die einst mühsam erreichte freie Konvertibilität des Rubels.

Die unerwartete Stärke des Rubels seit dem Frühjahr ist ebenfalls kein Grund zur Freude. Erstens ist sie die Folge des Zusammenbruchs des Imports und des Marktes für Fremdwährungen. Zweitens belastet sie die ohnehin gebeutelten Exporteure zusätzlich – und spült auch dem Staat weniger Rubel aus dem nach wie vor florierenden Verkauf von fossilen Rohstoffen in die Kassen.

Viele der pessimistischen Prognosen haben sich bis jetzt nicht bewahrheitet. Zum einen unterschätzte der Westen die Zähigkeit der russischen Unternehmen und der Bevölkerung, die mit Krisen umzugehen gewohnt sind. Zudem tragen die westlichen Länder mit dem Kauf der Rohstoffe nach wie vor erheblich zur Finanzierung des russischen Haushalts bei.

Zum andern wirken die Sanktionen nur langsam. Die seit 2014 vorangetriebene »Importsubstituierung« und »Lokalisierung« der Produktion wähnten allerdings die Regierung in falscher Sicherheit. Es stellte sich heraus, dass oft die entscheidenden Komponenten aus dem Ausland stammten. Das brachte die Automobil- und die Luftfahrtindustrie fast ganz zum Erliegen. Deshalb können die neuen Herausforderungen – Dekarbonisierung, Digitalisierung und Transformation der Wirtschaftsstrukturen nicht mit der notwendigen Dynamik vorangetrieben werden. Der Ausstieg Russlands aus dem Betrieb der internationalen Raumstation (ISS) könnte der Auftakt zu einer folgenreichen Beendigung wichtiger Kooperationen, auch auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle sein.

Russland hat mit seinem Einmarsch in die Ukraine nicht nur die europäische Sicherheitsordnung unterminiert, sondern auch das Verhältnis zum Nachbarn Ukraine auf Jahrzehnte hinaus ruiniert. Auch an eine Rückkehr westlicher Investoren ist nicht zu denken. Damit ist das wirtschaftlich auf Kooperationen angewiesene Land zu gefährlicher Isolation verdammt. Vor diesem Hintergrund verblasst die Tatsache, dass die russischen Truppen im Donbass weiterhin kleine Gebietsgewinne erzielen. Selbst wenn Moskau, wie spekuliert wird, die eroberten Gebiete im September offiziell annektiert, würde der russische Staat dadurch nur auf dem Papier wachsen.

Der Westen hat Exportkontrollen erlassen, um russische Unternehmen vom Zugang zu westlicher Technologie abzuschneiden, und er versucht mittels Energieembargos, Russlands wichtigste Einnahmequelle zum Versiegen zu bringen. Über tausend westliche Unternehmen haben das Land verlassen oder ihre Aktivitäten vor Ort stark reduziert. Russland auf der anderen Seite hat die Lieferung von Erdgas stark eingeschränkt, um den Westen unter Druck zu setzen. Als Resultat befinden sich die Gas- und Elektrizitätspreise und auch die Inflation in den westlichen Ländern auf rekordhohen Niveaus, was die politischen Führungen von Washington bis Berlin innenpolitisch unter Druck setzt.


Eine komplizierte Gemengelage

Das allgegenwärtige Misstrauen macht eine Friedenslösung fast undenkbar. Ein knapper Blick zurück macht die Kompliziertheit deutlich: Russland hattenoch 1994 die Grenzen der souveränen Ukraine im Gegenzug für deren Aufgabe der Atomwaffen garantiert. 2014 wurde der Volksaufstand gegen Präsident Wiktor Janukowitsch in Kiew genutzt, um die Krim völkerrechtswidrig zu annektieren und den Konflikt im Donbass zu eskalieren. Ein Jahr später zwangen die drohende militärische Niederlage und der Druck der europäischen Partner die Ukraine, die Minsker Abkommen zu unterzeichnen.

Dass die enormen Verluste die Position Kiews nach einem halben Jahr Krieg verhärtet hat, dürfte keine Überraschung sein: Die Ukraine war zu Beginn des Krieges laut inoffiziellen Berichten noch bereit, über den Donbass zu verhandeln und den Status der Krim vorläufig auszuklammern. Nun zeigen sie mit ihren Angriffen gegen militärische Objekte auf der Halbinsel, dass die Wiederherstellung der Grenzen von 1991 sakrosankt sind.

Der Glaube der Ukraine an die Rückeroberung aller besetzten Gebiete mag vor dem Hintergrund der militärischen Realität Züge einer Selbsttäuschung haben. So kursieren Ideen, die besetzte Stadt Cherson als Verhandlungsmasse einzusetzen, um die »Volksrepubliken« Luhansk und Donezk abzusichern. Einen solchen Deal würde keine ukrainische Regierung politisch überleben. Die Ukraine im Rahmen eines künftigen Abkommens – etwa über einen neutralen Status – von neuen internationalen Garantien für ihre territoriale Unversehrtheit zu überzeugen, wird deshalb schwierig sein.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat der ukrainischen Bevölkerung in einer Rede versprochen, alle von Russland besetzten Gebiete in der Ukraine zurückzuerobern. »Für uns ist die Ukraine die ganze Ukraine. Alle 25 Regionen, ohne Zugeständnisse oder Kompromisse. Es spielt für uns keine Rolle, welche Art von Armee Sie haben; was uns wichtig ist, ist unser Land. Dafür werden wir bis zum Schluss kämpfen«, sagte er anlässlich des ukrainischen Unabhängigkeitstags

Es gibt wenig Anzeichen für einen erfolgreichen diplomatischen Prozess. Die Ukraine geht aktuell davon aus, dass nur militärische Stärke und eine solche Option Schutz bietet gegen den unberechenbaren Nachbarn. Da keiner Seite gegenwärtig akut eine Niederlage auf dem Schlachtfeld droht, rückt der Frieden in weite Ferne. Damit sich dies ändert, müssten beide Kriegsbeteiligten zu vertrauensbildenden Maßnahmen bereit sein.

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