1. Dezember 2011 Joachim Bischoff / Bernhard Müller

Sinkende Arbeitslosigkeit – steigende Armut

Das heraufziehende ökonomische Schlechtwettergebiet – deutliche Abschwächung der Weltkonjunktur, Krise der öffentlichen Finanzen, der Banken und des Finanzmarktes – zeichnet sich auf den Arbeitsmärkten der Republik noch nicht ab. Im Gegenteil: »Der deutsche Arbeitsmarkt profitiert von der bisher guten wirtschaftlichen Entwicklung. Im November ist keine Eintrübung zu erkennen«, so das BA-Vorstandsmitglied Arlt.

Die Arbeitslosigkeit ist im Zuge der auslaufenden Herbstbelebung von Oktober auf November um 24.000 auf 2,714 Mio. gesunken. Dieser Rückgang fiel stärker aus als in den Vorjahren. Auch saisonbereinigt errechnet sich ein Minus (20.000). Im Vergleich zum Vorjahr nahm die Zahl der arbeitslosen BürgerInnen um 214.000 ab. Gemessen an der Entwicklung von September bis November fiel der Herbstaufschwung in diesem Jahr allerdings etwas schwächer aus als in den beiden Vorjahren.

Nicht ohne Rückwirkung ist auch die deutlich anders verlaufende Entwicklung gegenüber den europäischen Nachbarländern. Die Arbeitslosigkeit in der Euro-Zone ist in den letzten Monaten weiter angestiegen, die Quote liegt jetzt bei 10,3%. Äußerst trübe ist die Lage in Spanien, wo mittlerweile 22,8% der Bevölkerung ohne Job sind. Besonders hart trifft es die junge Generation: Fast jeder zweite Spanier unter 25 Jahren steht auf der Straße. Auch in den Nachbarländern Italien und Frankreich herrscht hohe Jugendarbeitslosigkeit.

Maßgeblich für den Rückgang in Deutschland ist der Zuwachs sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Sie hat nach vorläufigen, hochgerechneten Daten der Bundesagentur für Arbeit, die bis September reichen, saisonbereinigt um 43.000 zugenommen, nach +57.000 im August. Insgesamt waren im September 28,97 Mio. Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, was gegenüber dem Vorjahr ein Plus von 698.000 oder 2,5% bedeutet. Dabei hat die sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung im Vorjahresvergleich um 369.000 oder 1,6% und die sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung um 325.000 oder 6,0% zugenommen.

Ein weiterer positiver Effekt der Arbeitsmarktentwicklung ist, dass die Zahl der Menschen, die zur Sicherung ihres Lebensunterhalts staatliche Transfers benötigen, auf den niedrigsten Stand seit der Harz-IV-Reform gesunken ist. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts waren Ende Dezember 2010 rund 7,5 Mio. Menschen von sozialen Hilfen abhängig, 300.000 weniger als ein Jahr zuvor. Damit sank der Anteil an der Gesamtbevölkerung um 0,3% auf 9,2%. Im Jahr 2006 – als die Zahlen zum ersten Mal erhoben wurden – waren es noch 8,3 Mio. BürgerInnen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Kraft bestreiten konnten. Hauptfaktor war der Rückgang der Zahl der erwerbsfähigen Hartz-IV-EmpfängerInnen um 270.000. Dagegen bezogen deutlich mehr BürgerInnen die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit (absolut: knapp 800.000).

Allerdings haben erstens die Langzeitarbeitslosen am wenigstens von der positiven wirtschaftlichen Entwicklung profitiert. So ist die Zahl der Arbeitslosen im Bereich des SGB II (Hartz IV) im Vorjahresvergleich nur um 4% zurückgegangen. Im Bereich des SGB III war der Rückgang mit 15% wesentlich markanter. Bei Arbeitssuchenden im Alter von 50 bis unter 65 Jahre ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Oktober sogar wieder gestiegen. Es gibt weiterhin Problemgruppen am Arbeitsmarkt, die von der positiven Beschäftigungsentwicklung nicht partizipieren. Das sind vor allem gering Qualifizierte, Langzeitarbeitslose und ältere Arbeitssuchende über 49 Jahre. Nur mit Maßnahmen, die allein an individueller Beschäftigung am Arbeitsmarkt ansetzen, wird ein höherer Beschäftigungsstand auch von Langzeiterwerbslosen nicht erreicht werden können. Überall wird gespart, gekürzt, abgebaut, reduziert.

Zweitens hat der Beschäftigungsaufbau vor allem im Bereich der prekären Beschäftigung stattgefunden – mit den entsprechenden Folgen für die Lohneinkommen und damit die private Nachfrage. Dazu gehört, dass bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung vor allem die Teilzeitarbeit zugenommen hat. So entfielen von den etwa 970.000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, die seit September 2008, also noch vor der Wirtschaftskrise, neu entstanden sind, 710.000 (74%) auf die Teilzeit. Dazu passt der – leicht abgeflaute – Boom der Leiharbeit, der ganz überwiegend sozialversicherungspflichtige Beschäftigung betrifft. Im September 2011 befanden sich etwa 925.000 Lohnabhängige (davon 845.000 in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung) in einem Leiharbeitsverhältnis. Das waren 11% mehr als im Vorjahresmonat. Insgesamt sind seit Mitte 2009, als vor allem LeiharbeiterInnen krisenbedingt ihre Arbeitsplätze räumen mussten, wieder über 300.000 Leiharbeitsplätze neu geschaffen worden.

Zugenommen haben auch alle anderen Formen prekärer Beschäftigung. So gibt es aktuell 1,3 Mio. sozialversicherungspflichtige Midi-JobberInnen (12/2010), 300.000 kurzfristig Beschäftigte (12/2010), 1,35 Mio. AufstockerInnen (1/2011) und knapp 5 Mio. ausschließlich geringfügig Beschäftigte (12/2010). Darüber hinaus übten im September 2,6 Mio. oder 9,0% der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zusätzlich einen geringfügig entlohnten Nebenjob aus, gegenüber dem Vorjahr 157.000 oder 6,4% mehr. Einzig bei den Ein-Euro-JobberInnen hat es im Oktober 2011 einen Rückgang um 106.000 oder 39% gegeben.

Dieser Rückgang basiert auf der politischen Entscheidung der schwarz-gelben Bundesregierung, die Haushaltssanierung vor allem zu Lasten der Langzeitarbeitslosen, aktiver Arbeitsmarktpolitik und der Bundesagentur für Arbeit durchzuführen. Eine Folge besteht in der drastischen Reduktion aller arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. So gab es im November 2011 Abnahmen bei Beschäftigung schaffenden Maßnahmen (einschließlich Beschäftigungszuschuss und Bürgerarbeit: -133.000), bei Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung (einschließlich Eignungsfeststellungs- und Trainingsmaßnahmen sowie der Förderung Behinderter: -48.000), bei der Förderung der Selbständigkeit (-15.000), bei der beruflichen Weiterbildung (einschließlich der Förderung Behinderter: -45.000) sowie bei den vorruhe-standsähnlichen Regelungen (Saldo von -47.000).

Statt anhaltender Kürzungen und Streichungen vor allem bei den Ein-Euro-jobs müsste ein Gesamtkonzept für öffentlich geförderte, voll-sozialversicherte und existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse entwickelt werden. Eine zukunftsorientierte Beschäftigungspolitik muss eng mit Wirtschaftspolitik verzahnt werden. Um stabile, umweltgerechte und sozial nachhaltige neue Arbeitsplätze zu schaffen, brauchen wir eine nachfrage- und investitionsorientierte Wirtschaftspolitik und sozial-ökologische Strukturreformen. Es müssen vor allem gesellschaftlich nützliche Arbeitsplätze und ein öffentlich finanzierter sozialer Dienstleistungssektor gefördert werden – bei den öffentlichen Diensten, bei Gesundheit, Pflege, Sozialdiensten, Kultur und Bildung.

Der arbeitsmarktpolitische Kahlschlag hat zudem noch einen schönen Effekt für die Statistik: Die Unterbeschäftigung (ohne Kurzarbeit), zu der auch Personen zählen, die z.B. an entlastenden Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik teilnehmen oder aus anderen Gründen nicht als arbeitslos gelten, und die deshalb ein umfassenderes Bild der tatsächlichen Arbeitslosigkeit gibt, ist deutlich zurückgegangen. Im November belief sie sich auf 3.86 Mio., 500.000 weniger als vor einem Jahr. Die Unterbeschäftigung ist damit – wegen der Zurückschneidung der entlastenden Arbeitsmarktpolitik – stärker gesunken als die Arbeitslosigkeit.

Eine andere Folge des schwarz-gelben Kurses in der Arbeitsmarktpolitik ist die finanzielle Ausblutung der Bundesagentur für Arbeit. Sie hat ihre Reserven komplett für die erfolgreiche Bekämpfung der Folgen der Wirtschaftskrise 2008ff. (vor allem durch Kurzarbeit) verbraucht und wird durch die drastische Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung seit 2006 und weitere Eingriffe in ihre Einnahmen (Bundeszuschüsse nur mehr als Kredit) zu einem harten Sanierungsprogramm mit einem massiven Beschäftigungsabbau gezwungen.

In dem kürzlich verabschiedeten Haushaltsplan für 2012 sind die Folgen dieser Politik deutlich ablesbar. »Der Haushalt der BA für das Jahr 2012 schließt mit einem leichten Plus in Höhe von rund 550 Millionen Euro. Von diesem Betrag werden voraussichtlich rund 470 Millionen Euro zur vollständigen Tilgung des Darlehens für das Defizit des laufenden Jahres verwendet. Die BA legt somit nach vier defizitären Haushalten erstmals nach der Finanz- und Wirtschaftskrise einen Etat mit knappem Einnahmeüberschuss vor. Allerdings geht sie aus der kräftigen wirtschaftlichen Aufschwungsphase ohne Rücklagen.«

Schließlich gehört zur Arbeitsmarkt- und Sozialbilanz auch, dass durch Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und die drastische Schieflage in der Einkommensverteilung die Armutsbevölkerung stetig wächst. So waren nach der Erhebung »Leben in Europa 2010« 2009 durchschnittlich 15,6% der Bevölkerung in Deutschland arm. Das betrifft ca. 13 Mio. BürgerInnen. Arm ist, wer nach Einbeziehung staatlicher Transferleistungen im Jahr 2009 weniger als 11.278 Euro jährlich bzw. 940 Euro monatlich zur Verfügung hatte. Neben Arbeitslosen sind Personen in Haushalten von Alleinerziehenden die am stärksten von Armut betroffene soziale Gruppe: Bei 43% dieser Menschen lag 2009 Armut vor.

So schlittert die Berliner Republik mit einem massiv ausgedehnten Sektor prekärer Beschäftigung, gedrückten Lohneinkommen, wachsender Armut, einem überschuldeten Gemeinwesen und einer finanziell ausgebluteten Bundesagentur für Arbeit in die nächste konjunkturelle Belastungsprobe. Die Voraussetzungen dafür, diese Krise wie in den Jahren 2008ff. einigermaßen glimpflich durchlaufen zu können, existieren nicht mehr.

Vermutet werden darf, dass im Falle einer rezessiven Entwicklung kurzfristig Arbeitsmarktinstrumente eingesetzt würden. Aber es fehlt der politische Wille, Maßnahmen zur Gegensteuerung durch ein Konjunktur- und Strukturprogramm auch durch die Inanspruchnahme des öffentlichen Kredits zu finanzieren. Dies verhindert allein schon die – bis auf DIE LINKE – Allparteienkoalition in Sachen »Schuldenbremse«. Keine schönen Aussichten für Konjunktur und Arbeitsmarkt.

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