28. April 2017 Joachim Bischoff / Björn Radke: Der aktuelle Stand der Krise in Griechenland

Syriza »führt das Land aus den Sparprogrammen« (A. Tsipras)

Der Großteil der linken KritikerInnen des Euro-Regimes hat in den letzten zwei Jahren immer wieder den bevorstehenden Untergang Griechenlands prognostiziert. Die unnachgiebige Haltung der Gläubiger-Staaten zeige, »dass es ohne eine Wiederherstellung der Souveränität Griechenlands keine Aussichten auf eine wirtschaftliche Erholung geben wird«.[1] Daher – so die Schlussfolgerung – liebäugeln immer mehr GriechInnen mit einem Austritt aus der Währungsunion.

Auf der Seite des politischen Mainstreams hält sich dagegen die andere Seite der Argumentation: Nicht die harte Austeritätspolitik der EU-Gremien mache Griechenland kaputt, sondern in Griechenland »besteht keine grundsätzliche Bereitschaft, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, klientelistische Strukturen abzubauen, Staat und Gesellschaft zu modernisieren und effektiver zu gestalten. Entweder wird auf dringend notwendige umfassende Reformen ganz verzichtet oder diese werden nach der Verabschiedung einfach nicht umgesetzt oder nach Regierungswechseln wieder rückgängig gemacht.«[2]

Abgesehen davon, dass zwar eine hohe Enttäuschung der griechischen Wahlbevölkerung über die Regierungspolitik der linken Koalition registriert werden kann, aber keine Mehrheit für einen Austritt aus der Euro-Zone erkennbar ist, zielt die Kritik darauf, dass von einer Konsolidierung der wirtschaftlichen Entwicklung – griechischer Frühling – keine Rede sein könne. »Die massive Erhebung bzw. Anhebung von Steuern und die Kürzung von Ausgaben im Jahr 2016 hat zwar zu einem riesigen Primärüberschuss 2016 geführt, aber die Folgen werden mittlerweile im Einzelhandel spürbar. Alle anderen ökonomischen Indikatoren – wie Investitionen, Außenhandel, Bankengeschäfte, Wettbewerbsfähigkeit – weisen einfach nur auf ein gewisses Maß an Stabilität der griechischen Wirtschaft hin. Das BIP scheint 2016 ein wenig gewachsen zu sein – vielleicht um 0,3% – doch das ist einfach nur der schlechten Wirtschaftsleistung von 2015 bzw. auch dem guten Tourismusgeschäft im dritten Quartal von 2016 geschuldet. Es gibt keine Anzeichen für eine wirkliche Dynamik, da die ›interne Abwertung‹ die Wirtschaft zum Stillstand gebracht hat. Das ist der Preis einer langjährigen, beständigen Mitgliedschaft in der EWU.« In Griechenland müsse es baldmöglichst zu einem umfassenden Politikwechsel kommen, wobei freilich unstrittig war, dass es für ein Ende der Austeritätspolitik weder im Lande noch in der Euro-Zone entsprechende Kräfteverhältnisse gibt.

Was ist aktuell der Stand der Entwicklung?

Die wirtschaftlichen und politischen Eliten in Europa haben mit Banken- und Konjunkturpaketen nur die Symptome der großen Krise bekämpft, ihre systemischen Ursachen blieben unberührt. Die Ziele einer Rückkehr zu einem befriedigenden Wirtschaftswachstum, dem deutlichen Abbau der Arbeitslosigkeit, einer zukunftsorientierten Wirtschaftspolitik und eines stabilen Finanzsystems liegen nach wie vor in weiter Ferne. Die wachsende soziale Spaltung in den Krisenländern bedroht längst den gesamtstaatlichen Prozess der politischen Willensbildung. Sparpolitik, Lohn- und Pensionskürzungen, die Zerschlagung kollektivvertraglicher Lohnbildung zerstören in Südeuropa die Fundamente des »Europäischen Sozialmodells«.

Die Linksregierung in Griechenland hätte die wirtschaftliche Strangulierung durch die EU-Institutionen nur durch einen Austritt aus der EU beenden können. Angesichts der herrschenden Machtverhältnisse in der Welt und in Europa und angesichts fehlender alternativer Produktionsstrukturen wäre die wirtschaftliche und soziale Misere in Griechenland dadurch schlimmer geworden.

Trotz des finanz- und wirtschaftspolitischen Diktats hat es in Griechenland eine Stabilisierung der Wirtschaftsleistung (BIP 2016: ca. 0%) gegeben. Bis 2018 soll das Wachstum auf 3,1% anziehen. Das Land hat die finanzpolitischen Ziele übererfüllt. Immer noch wird um den Abschluss der zweiten Überprüfung des dritten Hilfsprogramms zwischen der griechischen Regierung und den Gläubiger-Institutionen gerungen.

Die Staatsschulden betrugen per Ende 2016 knapp 180% des BIP und sind fast doppelt so hoch wie vor der Krise. Rund 45% aller Bankkredite waren Ende 2016 notleidend, fast vier Mal so viel wie 2010. Und die griechische Wirtschaft ist noch nicht in einen Modus der dynamischen Akkumulation zurückgekehrt.

Die jüngsten Wirtschaftsprognosen von Europäischer Kommission (KOM) und IWF unterscheiden sich deutlich. Auch in Studien und Ranglisten anderer Institutionen werden Griechenland teils Fortschritte (Übertreffen der Haushaltsziele 2016, EU-weit ehrgeizigste Reformen), teils Rückschritte (Konsolidierung durch nicht nachhaltige Steuererhöhungen, keine Reformen seit 2014) auf dem Reformpfad attestiert.

Die EU-Kommission erklärt die Unterschiede zum IWF damit, dass der IWF übermäßig konservative Annahmen auf der Einnahmen- und der Ausgabenseite des Budgets treffe. Auf der Einnahmenseite rechne der IWF mit Elastizitäten, die unter den gängigen Werten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) lägen, d.h. pro Prozentpunkt Wirtschaftswachstum gehe der IWF von geringeren Steuereinnahmen aus als üblich. Zudem werte der IWF Teile der bisherigen Übererfüllung der Haushaltsziele als Einmaleffekte, die in den Folgejahren nicht mehr einzubeziehen seien.

Die griechische Linksregierung und unabhängige Experten verweisen zu Recht darauf, dass die Konsolidierung unzureichend ausfalle, weil geringes Investorenvertrauen und Unsicherheit über die weitere Ausgestaltung der Hilfsprogramme selbst zum Störfaktor würden. Aus denselben Gründen sind nach Presseangaben in den vergangenen Monaten mehr als vier Mrd. Euro an Einlagen von griechischen Banken abgezogen worden.

Das griechische Wirtschaftsforschungsinstitut IOBE konstatiert ebenfalls: Die Wirtschaft habe sich 2016 zwar stabilisiert, doch die Unsicherheiten um das ESM-Programm, mögliche Schuldenerleichterungen und die Reformumsetzung dauerten an.

Es gibt seit Anfang April eine Grundsatzeinigung mit den Gläubigern: Für die Jahre 2019 und 2020 – als nach Abschluss des dritten Programms – soll die griechische Regierung zusätzliche finanzielle Mittel von insgesamt etwa 2% des griechischen Bruttoinlandproduktes einsparen. Die erste Hälfte (1 %) betrifft Einsparungen im Rentensystem, die bereits im Jahr 2019 umgesetzt werden sollen. Die zweite Hälfte (ebenfalls 1%) soll durch Einnahmen aus der Steuerreform aufgebracht werden. Sollten die Spar- und Reformbemühen Athens Früchte tragen, könnten Mittel in Höhe von 1,8 Mrd. Euro anfallen. Eingesetzt werden sollen diese Mittel zur Bekämpfung der Kinderarmut und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze für die junge Generation. Außerdem sollen RentnerInnen ihre Medikamente günstiger erhalten als bisher. Finanzminister Tsakalotos zeigte sich zufrieden, dass Massenentlassungen nicht weiter forciert werden, und dass es keine Aussperrungen seitens der Arbeitgeber (Lockout) geben werde. Alles in allem fasste der griechische Finanzminister zusammen: »Wir haben uns auf das Grundlegende geeignet. Jetzt stehen noch die Details aus.« Diese Vereinbarung ist die Basis dafür, dass weitere Hilfskredite aus dem bis zu 86 Mrd. Euro umfassenden dritten Rettungspaket freigegeben werden können. Tatsächlich wurden bisher erst 31,7 Mrd. Euro ausgezahlt, so dass noch 53,7 Mrd. Euro verbleiben.

Griechenland hat 2016 bei den öffentlichen Finanzen einen Primärüberschuss mit 4,2% der Wirtschaftsleistung (Vorgabe war 0,5%) erzielt. Der Primärüberschuss ist der Saldo im Staatshaushalt vor Einrechnung des Schuldendienstes. Doch selbst der »normale«, nominale griechische Haushaltssaldo lag mit einem Überschuss von 0,7% des BIP erstmals seit vielen Jahren im Plus. Die staatliche Bruttoschuld stagnierte bei 179% des BIP, womit Griechenland der Staat mit der höchsten Schuldenquote in der EU geblieben ist. Die Ecofin Minister Schäuble und Diesselblom, der Internationale Währungsfonds (IMF), aber auch die linken KritikerInnen von Syriza bezweifeln, dass diese Resultate belastbare Ergebnisse sind. Sie basierten zum Teil auf temporären Faktoren und seien deshalb nicht nachhaltig.

Die EU-Kommission bleibt zuversichtlich, dass Griechenland das Ziel eines Primärüberschusses von 1,7% des BIP in diesem Jahr und von 3,5% im Jahr 2018 erreichen könne. Die Verhandlungen zum Abschluss des dritten Programms sollen zügig beendet werden. Ziel sei es, aufbauend auf der erzielten Grundsatzeinigung über ein Reformpaket die laufende Überprüfung des Hilfsprogramms zu beenden. Dieser Abschluss ist eine Voraussetzung für die Auszahlung der nächsten Kredittranche.

Offen ist nach wie vor, ob sich der IWF, wie von den Euro-Staaten gewünscht, finanziell am laufenden dritten Hilfsprogramm beteiligen wird. Bis jetzt wird dieses über den ESM von den Europäern allein finanziert. Der IWF macht seinen Einstieg unter anderem davon abhängig, dass die Euro-Staaten die Schuldenerleichterungen konkretisieren, die sie erst nach einem erfolgreichen Abschluss des Programms im Sommer 2018 vereinbaren wollen.

Zieht der IWF nicht mit, will Europa seine Probleme künftig ohne diese Institution lösen. Eine IWF-Beteiligung ist nach dem ESM-Vertrag keine zwingende rechtliche Bedingung für die Gewährung von ESM-Finanzhilfen. Finanzminister Schäuble will dafür den Europäischen Rettungsfonds, über den schon jetzt die Gelder für Griechenland bereitgestellt werden, mit mehr Kompetenzen ausstatten. Der Rettungsfonds soll so zu einem Europäischen Währungsfonds umgebaut werden, der den IWF in Europa überflüssig macht. Schäuble hatte sich bereits 2010 für einen solchen Fonds stark gemacht, sich aber nicht durchsetzen können. Inzwischen schätzt er seine Chancen wohl größer ein. Die Zustimmung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe er bereits gewonnen.

Im vergangenen Jahr gehörte Griechenland auch zu den entwickelten Ländern, die ihr Steuersystem am stärksten reformierten, wie eine aktuelle Studie der OECD bestätigt, in der die griechische Regierung für ihre jüngsten Reformen gelobt wird. Viele der in Griechenland umgesetzten Reformen sind von den internationalen Gläubigern erzwungen und gingen eindeutig zulasten der ArbeitnehmerInnen, des Sozialstaats und der Solidarität. Die Tsipras-Regierung hat sich aber nicht nur dem Austeritätsdiktat unterworfen, wie es viele linke KritikerInnen unterstellen. Sie hat vielmehr diverse Gesetze und Maßnahmen auf den Weg gebracht, die gerade Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen zugutekommen sollen, Lasten und Pflichten gerechter verteilen und darauf abzielen, der gewachsenen Diversität der griechischen Gesellschaft Rechnung zu tragen.[3]

Die fiskalische Größenordnung der Maßnahmen, die Griechenland seit 2010 auf den Weg gebracht hat, ist immens. Der Gesamtwert der Haushaltsmaßnahmen bis 2014 beläuft sich auf 59 Mrd. Euro (in konstanten Preisen von 2010) bzw. auf 25% des BIP von 2009. Auf Deutschland übertragen entspräche dies Umbaumaßnahmen im Staatshaushalt von jährlich 120 Mrd. Euro über einen Fünfjahreszeitraum. Schon allein diese Angaben zeigen, dass Griechenland alles andere als ein Land ist, in dem weitreichende politische Entscheidungen über Reformen nicht möglich sind. Und die regelmäßigen Überprüfungen der laufenden »Hilfsprogramme« durch die Troika haben immer wieder bestätigt, dass die vereinbarten Maßnahmen – wenn auch manchmal mit gewissen Verzögerungen – weitgehend umgesetzt wurden.

Zwischenbilanz: Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras sieht die guten Daten als Beleg, dass eben auch unter extrem engen Spielräumen eine Alterative möglich war. »Meine persönliche Wette ist, dass diese Regierung das Land aus den Sparprogrammen führen wird.« Das Ergebnis des Jahres 2016 habe die Kritik des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble (CDU) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) außer Gefecht gesetzt.

Ein wichtiger Faktor für diese Entwicklung: Mit Brüsseler Hilfe gelang es, alle für Griechenland reservierten EU-Fonds in der Zeit von 2007 bis 2013 nachträglich zu mobilisieren. Viele Projekte wurden entgegen der sonst üblichen Regeln ohne Eigenbeitrag Athens voll von der EU finanziert. Für die Finanzierungsperiode 2014-2020 hat Griechenland schon 20% der rd. 20 Mrd. Euro aus Brüssel abgerufen. Der EU-Durchschnitt liegt bei nur 8 %.

Tsipras besteht auf einer Schuldenerleichterung vor dem Auslaufen des dritten Hilfsprogramms. Es gebe genug Zeit für die Gläubiger, nach der Billigung der neuen Sparmaßnahmen und Reformen auch die Maßnahmen zum Schuldenberg zu konkretisieren. Damit schlug er sich auf die Seite des Internationalen Währungsfonds (IWF). Dieser betont seit Monaten, dass die griechische Schuldenlast – zurzeit knapp 180% des Bruttoinlandproduktes – nicht tragbar sei und reduziert werden müsse.

Wenn die Politik in den nächsten Monaten diesen Erfolgskurs behaupten kann, dann wäre es wichtig, auch in der politischen Linken zu einer Überprüfung der Einschätzungen zu kommen. Das, was Syriza von anderen sozialdemokratischen Regierungen in der neoliberalen Ära unterscheidet, ist genau die anhaltende Weigerung, die neoliberale Logik anzuerkennen, obwohl sie sich gezwungen sieht, sich in der Praxis dieser erst einmal weitgehend zu unterwerfen.

[1] Lapavisas, Griechenland in der Mangel, Makroskop 28.2. 2017.
[2] »Griechische Politik im Faktencheck«; http://www.axel-troost.de/serveDocument.php?id=3290&file=8/6/2cc.pdf.
[3] Siehe dazu ausführlich: »Griechische Politik im Faktencheck«; www.axel-troost.de/serveDocument.php.

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