7. März 2011 Joachim Bischoff / Richard Detje

Systemkrise in Europa

Seit gut einem Jahr dokumentiert die Schuldenkrise im Euro-System der Öffentlichkeit, dass ein Staatsbankrott eines Mitgliedslandes keineswegs ausgeschlossen ist. Was anfangs als Peripheriegruppe mit dem Namen PIGS (Portugal, Irland, Griechenland, Spanien) zynisch verhöhnt wurde, wird mehr und mehr zu einem Bedrohungsszenario für die gesamte europäischen Konstellation ein.


1.

Die Geschichte wiederholte sich zunächst als Tragödie, nun als Farce. Nach der »Nahtoterfahrung« (Stiglitz) der Finanzkrise 2008/2009 testierte der erste Banken-Stresstest im Sommer 2010 ausreichende Risiko-Vorsorge. Das Unbedenklichkeitstestat ging auch an alle Banken der Republik Irland – die dann im Herbst kollabierten. Die damalige irische Regierung sprang den Banken bei – um den Preis einer massiven Erhöhung der Staatsschuld.

Aber nicht nur der Staat – und damit die irische Bevölkerung – sollten zahlen. Die Regierung plante vielmehr ein geordnetes Insolvenzverfahren, an dem sich auch die kreditgebenden britischen, deutschen und französischen Banken mit Forderungsverzichten beteiligten sollten. Dieser Umschuldungsplan wurde von den Regierungen in Berlin, Paris, London und in Brüssel abgelehnt, die Irland unter den EU/IWF-»Rettungsschirm« verfrachteten: mit einem Kreditvolumen von 85 Mrd. Euro und einem Zinssatz von 5,8%.

Die Staatseinnahmen Irlands, die von Transaktionen auf dem Immobilienmarkt gespeist wurden, sind mittlerweile kollabiert. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf ist auf den Stand von 1999 abgesackt. Der fiskalische Korrekturbedarf – die Verringerung der Ausgaben und die Erhöhung der Einnahmen – hat kaum fassbare Dimensionen angenommen: Zusammengenommen schrumpft der Staat im Zeitraum 2008 bis 2014 um rund 20% des Bruttoinlandprodukts oder nominal um etwa 30 Mrd. €, wobei diese Zahl nur geringfügig unter den gesamten Staatseinnahmen des laufenden Jahres liegt.

Der Rettungsschirm zum Schutz der britischen, deutschen und französischen Banken ist eine Tragödie für die Iren. Die neu gewählte Regierung in Dublin beharrt auf einer Verbilligung der Notkredite. Zu Recht, denn der EU-Stabilisierungsmechanismus bedeutet dreierlei: erstens Konservierung der Schuldenlast, zweitens eine Austeritätspolitik, die hohe soziale Kosten und ökonomische Schrumpfung bedeutet, und drittens eine Zinslast, die mit einer schrumpfenden Wirtschaft nicht finanzierbar ist.

Anfang März 2011 stehen die Vorbereitungen des neuen Banken-Stresstests vor dem Abschluss. Mit neuen Überprüfungen, hat sich doch gezeigt, dass der Mechanismus der Rettungsschirme nicht zukunftsvorsorgend ist. Was die Iren durch Nachverhandlungen korrigiert sehen wollen, ist im Fall des griechischen Staates längst Marktpolitik, denn dessen Anleihen werden nur noch mit einem Abschlag von derzeit 30% gehandelt.

Beim neuen Stresstest soll diese de facto Umschuldung jedoch ausgeklammert werden, sodass die Banken gefährdete Staatsanleihen weiterhin zu 100% in ihren Bilanzen halten dürfen – auch wenn sie auf dem Markt eine ganz andere Politik betreiben. Damit hat sich erneut der Bankenverband mit einer klaren Interessenpolitik durchgesetzt.

 

2.

Der Grund für diese Farce ist ernster Natur: Nach wie vor gilt es, die großen Kreditinstitute, aber auch andere Finanzmarktakteure, vor Umschuldungsmaßnahmen zu schützen. Hierbei spielen auch machtpolitische Gründe eine Rolle. Was vor der Krise als »moral hazard« Gegenstand neoliberaler Kritik am Staatsinterventionismus war – Geschäftsverluste würden nicht mehr zu einer anderen Geschäftspolitik zwingen, wenn erwartet wird, dass der Staat für einen Ausgleich sorgt – ist in der Krise in »systemic risks« transformiert worden. David Harveys Charakterisierung der Krise als finanzkapitalistischer Coup d’état und Eichengreens Kritik insbesondere der deutschen Bundesregierung benennen diesen Punkt.

Aber hinter dem Geltendmachen von Systemrisiken steht die Krise selbst. Entgegen offiziellen Verlautbarungen ist die nicht überstanden, sondern in andere Formen mutiert. Aus Sicht der deutschen Banken war die Griechenland-Krise mit einem Forderungsvolumen von 26,5 Mrd. Euro vor allem an den griechischen Staat noch leicht zu schultern. Im Fall Irland sieht das schon anders aus: Das Forderungsvolumen von rd. 100 Mrd. Euro besteht zu einem Drittel gegenüber insolventen Banken und zur zwei Dritteln gegenüber Unternehmen.

Sollte Spanien tiefer in den Krisenstrudel hineingezogen werden, ginge es um Forderungen in Höhe von über 145 Mrd. Euro, wobei die Bankenschulden – vor allem der in die Immobilienfinanzierung verstrickten Sparkassen – auf mehr als das doppelte des Falls Irlands veranschlagt werden.

Zur Bewertung der Risikopositionen ist aber nicht nur das Forderungsvolumen, sondern die Eigenkapitalquote (Anteil des Eigenkapitals an der Bilanzsumme) von Interesse. Die liegen im deutschen Fall zwischen 2,6% (Deutsche Bank) und 3,8% (Commerzbank) – wobei insbesondere auch die Position der Landesbanken schwach ist (WestLB 1,9%, LBBW 2,6%). Von einer Überwindung der Krise im Finanzsektor kann angesichts dieser Bilanzpositionen keine Rede sein.

Um diese Krise nicht zum Eklat kommen zu lassen, findet auf verschiedenen Wegen eine Transformation privater in öffentliche Verschuldung statt. Der jüngste Zankapfel: Darf der Europäische Stabilisierungsfonds Kredite an Gläubigerstaaten ausreichen, damit diese Staatsschuldentitel zu einem niedrigeren Satz – 70% wie oben im Falle Griechenlands – zurückkaufen und auf diesem Weg de facto eine Umschuldung vornehmen? Diese und andere Mechanismen laufen letztlich auf einen höheren Einsatz des öffentlichen Kredits zur Absicherung der Positionen der privaten Gläubiger hinaus. In dem Maße, in dem das geschieht, werden die Übergänge zur Fiskal- und in der zweiten Runde zur Währungskrise fließender.

Die Kritik an der gegenwärtigen Geld- und Zinspolitik der Europäischen Zentralbank zielt darauf, dass durch den Ankauf von Staatstiteln der Länder mit Solvenzproblemen die EZB selbst ins Taumeln geraten könnte, sollten die Staaten zahlungsunfähig werden. Dabei ist der Erwerb der Euro-Staatspapiere das kleinste Problem der Notenbank. Das größere Risiko für das Euro-System kommt aus der fragwürdigen Besicherungspraxis. Die Banken der Euro-Zone müssen nämlich alle Kredite, die sie von der Zentralbank erhalten, mit Sicherheiten unterlegen. Damit sichert sich die Notenbank ab, sollte eine Gegenpartei nicht in der Lage sein, den Kredit rechtzeitig zurückzuzahlen.

Als Sicherheiten sind eine ganze Palette von Wertpapieren zugelassen: Bankschuldverschreibungen, Unternehmensanleihen, Pfandbriefe oder Staatsanleihen. Einige Banken der Euro-Zone (griechische, irische, aber auch andere) kriechen an der Absturzkante; ihre Abhängigkeit von den Staatstiteln ihrer jeweiligen Regierungen macht sie zu riskanten Geschäftspartnern, denn sie besichern ihre Kredite beim Euro-System vorwiegend mit eben genau diesen Papieren. Werden einzelne dieser an das Euro-System weitergereichten Sicherheiten wertlos oder sinkt ihr Marktwert stark, müssen die Banken zusätzliche bereitstellen, um die ausgefallenen Sicherheiten zu ersetzen. Beim Ausfall von Staatsanleihen müssen Banken gleichzeitig Sicherheiten in großen Mengen nachschießen und dies könnte das gesamte europäische Bankensystem gefährden.

Dabei geht der systemische Charakter der Krise noch weiter als die Bewertung der Risiken für das Finanzsystem. In Frage stehen die Geschäftsmodelle finanzmarktgetriebener Akkumulation. Die verlangten hohen Eigenkapital- und Umsatzrenditen lassen sich nur mit einem großen Hebelsatz – also geringer Eigenkapitalausstattung in Relation zum Kreditvolumen – erreichen. Es bleibt somit bei der Diagnose »Große Krise«: eine Krise der Finanz- und Realkapitalakkumulation, des Akkumulationsregimes und der Regulationsweise.

 

3.

Mit der Großen Krise ist das bisherige »Geschäftsmodell« der Europäischen Integration gekippt. Nahezu alle Wege zur schrittweisen Ausgleichung der ökonomischen Entwicklungsniveaus mündeten an Absturzstellen: der griechische Weg einer per öffentlichem Kredit finanzierten Ausweitung des Binnenmarktes; der irische Weg einer finanzmarktkompatiblen Dienstleistungsgesellschaft; der spanische Weg eines spekulativen Immobilienbooms. Gemessen am ökonomischen Output waren alle diese Wege bis 2007 erfolgreich, während der deutsche Exportpfad nur ein geringes Wachstumstempo und eine schlechte beschäftigungspolitische Performance ermöglichte.

Mit der Finanzmarktkrise sind die finanzmarktabhängigen Wege unpassierbar geworden. Eingesperrt in ein als »Rettung« etikettiertes Austeritätsregime werden in den Krisenstaaten die binnenwirtschaftlichen Wachstumsmotoren gedrosselt. Griechenland und Irland schreiben 2011 das vierte Krisenjahr. Für Portugal und Spanien droht aus der Stagnation ein Rückfall in die Rezession.

Vorkrisenmodelle eines Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder eines Kern- und Peripherie-Europa sind Realität geworden. Obwohl die deutsche Regierung hier als Treiber agiert, ist diese Entwicklung vor allem für den Export-Vizeweltmeister – dessen Exporte 2008 einen Anteil von 40% des BIP erreichten – äußerst riskant. Denn drei Viertel der deutschen Exporte müssen im europäischen Markt abgesetzt werden. Nicht mehr als 6,9% der deutschen Exportüberschüsse wurden 2008 mit außereuropäischen Ländern erzielt.

In den ersten Jahren nach der Einführung des Euro verharrte Deutschland in einer depressiven konjunkturellen Konstellation. Die Inflation war geringer als in den meisten anderen europäischen Ländern, und die realen Zinsen waren somit eher zu hoch. Das bremste die wirtschaftliche Dynamik. Viele Unternehmen machten jedoch aus der Not eine Tugend, senkten ihre Lohnstückkosten und erhöhten ihre Wettbewerbsfähigkeit. Seither sprengt die Scherenentwicklung zwischen der hegemonialen deutschen Ökonomie und der Peripherie des Eurosystems die gesamte Konstruktion.


Eine asymmetrische Politik wäre erforderlich: aktive, auf die Stärkung ihrer Binnenmärkte ausgerichtete Konjunkturpolitik in Deutschland, Frankreich, Österreich und den Niederlanden, die damit zusätzliche Nachfrage in Europa schaffen; langsame Rückführung der Defizite in den Krisenländern begleitet von einer aktiven Strukturpolitik. Realität ist hingegen: verstärkte Exportanstrengungen in den Überschussländern bei generalisierter Nachfrageschwäche. Ob diese Realität als Währungsunion Bestand haben kann, werden die Finanzmarktakteure in diesem Jahr testen.

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