12. September 2011 Joachim Bischoff / Richard Detje: Griechenland vor der Insolvenz?

Titanenkampf

Der griechische Ministerpräsident Papandreou hatte vor gut einem Jahr – im Mai 2010 – die Mythologie beschworen, um seinen Landsleuten den Ernst der Lage zu erklären. Griechenland stehe am Beginn einer neuen »Odyssee«, die er zu navigieren wisse: »Wir kennen den Weg nach Ithaka.«

Schon damals gab es in der griechischen Bevölkerung reichlich Zweifel, dass der Vergleich mit der Irrfahrt des Odysseus Gutes bedeuten würde. Ithaka ist weit, zumal wenn die Fahrt mit Sparrationen und höchst ungleich verteilten Opfern begonnen wird. Jetzt, im September 2011, verkündet der Premier die Phase des »Titanenkampfes«. Griechenland steht kurz vor der Insolvenz – ökonomisch, sozial, politisch.

Aber nicht nur Griechenland segelt in den Strudeln zwischen Skylla und Charybdis, die im Verlauf der Großen Krise schon manchen Schiffen zum Verhängnis geworden sind. Denn auf den internationalen Aktienmärkten setzt sich die Talfahrt fort. Zwei Gründe führen zu einer massiven Neubewertung von Wertpapieren: Zum einen schält sich immer deutlicher heraus, dass die Krise nicht beendet ist, sondern dass nach einer fragilen Erholungsphase erneut ein globaler Schrumpfungsprozess droht.

Zum andern haben die Rettungsversuche von Banken und Unternehmen bei vielen Staaten einen Zustand der tendenziellen Überschuldung herbeigeführt. Nicht nur Griechenland, Irland und Portugal mussten durch umfangreiche Hilfspakete vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt werden, auch Spanien und Italien musste von Seiten der Europäischen Zentralbank durch Anleihekäufe unter die Arme gegriffen werden, um Dominoeffekte in ganz Europa zu verhindern.

Der Spagat, einerseits die Handlungsfähigkeit der Staaten durch Begrenzung der öffentlichen Verschuldung zu sichern, andererseits die Realökonomie wieder auf einen nachhaltigen Wachstumskurs zu führen, ist für einige Länder immer schwerer durchzuhalten. Insofern wird ein sich immer deutlicher abzeichnendes Scheitern einer Antikrisenpolitik in Griechenland rückschlagend zu einem krisenverschärfenden Faktor der Entwicklung in Europa und der Globalökonomie.

In Griechenland fällt – erwartungsgemäß – in Folge der massiven Kürzungen bei den öffentlichen Finanzen, Sozialleistungen und Investitionen die wirtschaftliche Schrumpfung weit drastischer aus, als von den internationalen Krisenmanagern der Troika kalkuliert. Ein Rückgang des gesellschaftlichen Produkts um über 5% hebelt selbst härteste Austeritätskonzepte aus. Griechenland fehlen bis Jahresende rund 2 Mrd. Euro im Sparhaushalt. Diese Lücke muss geschlossen werden, um die sechste Tranche von 8 Mrd. Euro aus dem 110 Mrd. Euro schweren ersten Hilfspaket zu erhalten. Ohne diese Überweisung wäre die Staatspleite demnächst Realität.

Kurzfristig hat die griechische Regierung kaum Handlungsparameter. Die neue Steuer auf Immobilien ist eine aus dem Ärmel geschüttelte Notlösung in einem Land, das entsprechende Kataster kaum kennt – nicht mehr als eine Legitimation, damit die nächste Kredittranche ausgezahlt werden kann. Der entscheidende Punkt bleibt: Solange die griechische Ökonomie nicht aus der Abwärtsspirale herauskommt, haben geringere Zinszahlungen, längere Kreditlaufzeiten und bescheidene Umschuldung nur nachrangige Effekte. Bundesbankpräsident Weidmann: »Ein Schuldenerlass löst noch nicht die griechischen Probleme. Griechenland konsumiert deutlich mehr als es erwirtschaftet, der Staatshaushalt weist hohe Defizite auf. Solange sich daran nichts ändert, schafft selbst ein Schuldenschnitt keine wirkliche Besserung.« Das ändert sich aber nicht durch eiserne Sparpolitik, sondern durch Revitalisierung der ökonomischen Basis.

Im Rettungspaket ist diese Seite am wenigsten durchdacht und geplant. Das rächt sich, wenn der internationale Konjunkturzug abbremst. In den Schwellenländern, die seit der Finanzkrise die globale Wirtschaft stabilisiert haben, treten die Notenbanken und Regierungen auf die Bremse der Zinserhöhung. Und die kapitalistischen Hauptländer stecken mit Ausnahme Deutschlands immer noch im Krisenprozess, der durch die Verschuldung verschärft wird. Gerade weil die Aussichten düster sind, kommt der Frage nach einer Stabilisierung der Ökonomien Griechenlands, Portugals und Spaniens eine zentrale Rolle zu.

Entscheidend sind auch nicht neue Kredite für die Refinanzierung der Altschulden, sondern die Reduktion der Defizite. Griechenland steckt nicht nur in einer Schuldenfalle; seine Wirtschaft war durch übermäßigen Konsum auf Pump künstlich aufgebläht und international wenig wettbewerbsfähig. Damit steht das Land nicht allein: Auch Spanien, Irland oder Island haben sich durch die finanzgetriebene Kapitalakkumulation dazu verleiten lassen, weit über das durch die Realökonomie abgesteckte Potenzial hinauszugehen. Nun wird die Abwärtsspirale durch Entzug von Kaufkraft weiter verschärft.

Griechenland ist zahlungsunfähig, niedergestreckt von einer Kombination aus Überschuldung und Wirtschaftsschwäche. Verbilligte Kredite haben eine Atempause verschafft, aber der Zeitraum reicht für eine Umstrukturierung der Ökonomie nicht aus. Umgekehrt: Mit der weiteren Schrumpfung der Realökonomie werden die Schuldenlasten drückender.

In dieser Situation plädiert ein wachsender Teil der wirtschaftlichen und politischen Eliten für einen Ausschluss Griechenlandes aus der Währungsunion, um dem Land die Umschuldung und wirtschaftliche Sanierung allein aufzubürden. Dass ein solcher Fall mit enormen Turbulenzen für die Finanzmärkte und die europäische Ökonomie verbunden wäre, wollen diese Experten nicht wahrhaben.

Zwischen Ende Juli und Ende August ist weltweit Aktienvermögen in Höhe von fünf Billionen Euro vernichtet worden – das sind ca. 20% der globalen Marktkapitalisierung vor Ausbruch der Marktturbulenzen. Banken und andere Finanzwerte haben im Vergleich zu Aktien anderer Branchen überproportional an Wert verloren. Es ist eine gefährliche Unterschätzung, diese Wertkorrekturen nur als Veränderungen bei den akkumulierten Eigentumstiteln abzutun.

Gewiss ist eine Redimensionierung des Finanzsektors zwingend notwendig, aber es muss dafür Sorge getragen werden, dass dadurch weder eine noch tiefere Absenkungen bei den realen Investitionen die Folge ist, noch die von diesen Papieren abhängenden Zahlungen im Bereich sozialer Sicherung die gesellschaftliche Produktion weiter schrumpfen lassen.

Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bundesbank und Sprecher der internationalen Finanzindustrie, hat die aktuelle Krisenkonstellation kürzlich in drei Punkten zusammengefasst:

  • Die Finanzindustrie hat noch keine überzeugenden Antworten zu bieten. Seit der ersten Phase der Finanzkrise 2007/8 wurden zwar die gröbsten Übertreibungen beseitigt, doch das reicht erkennbar nicht aus.
  • Die Fragen nach der Effizienz der Finanzmärkte, nach der Sinnhaftigkeit manch moderner Finanzprodukte, der Organisation der Finanzmärkte mit Transaktionsfrequenzen im Takt von Millisekunden und nach der Rolle der Finanzmärkte im Verhältnis zu den realen Gütermärkten generell werden lauter. Die Verunsicherung ist dabei inzwischen bis in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft vorgerückt.
  • Die Kosten der Unterstützung schwacher Mitgliedstaaten sind auch und gerade aus der Sicht Deutschlands geringer als die Kosten der Desintegration. Schon eine grobe Überschlagsrechnung, die unsere Handelsverflechtungen zu den EU-Peripheriestaaten und die Exposures der deutschen Finanzbranche gegenüber diesen Ländern berücksichtigt, legt dieses Urteil nahe.

Mit welcher Strategie auf die massive Zuspitzung der ökonomischen Lage reagiert werden sollte, wird heftig und kontrovers diskutiert. Der zurückgetretene Chefökonom der EZB, Jürgen Starck, setzt sich mit seiner Position deutlich von der bürgerlichen Mehrheitsauffassung ab: »In den USA scheint die Mehrheitsmeinung sowohl unter Politikern als auch bei Ökonomen in Richtung einer Ausweitung des geld- und fiskalpolitischen Stimulus zu gehen. Das Verschuldungsproblem sollte lediglich mittelfristig in Angriff genommen werden, weil andernfalls das Wachstum beeinträchtigt würde. Auch der IWF hat sich für Nichtkrisenländer in diese Richtung geäußert… Die europäische Strategie dagegen baut auf sofortige Budgetkonsolidierung. Sie zielt darauf ab, die exzessive Schuldendynamik und die damit zusammenhängenden Finanzmarktverwerfungen schnell und nachhaltig in den Griff zu bekommen… Ich bin der festen Überzeugung, dass die europäische Strategie den richtigen Weg darstellt. Wir befinden uns in einer Situation, in der massive Tragfähigkeitsrisiken in den öffentlichen Haushalten Wachstum und Stabilität untergraben.« (Handelsblatt vom 12.9.2011)

Starcks Rücktritt dokumentiert, dass die einfache Entgegensetzung von USA und Europa nicht stimmt. Seine Strategie würde nicht nur in Griechenland einen ökonomisch-gesellschaftlichen Supergau erzeugen. In dieser Situation hilft allein ein umfassendes ökonomisches Strukturprogramm, mit dem – angefangen mit Griechenland – alle europäischen Länder sich aus der Schuldenfalle schrittweise befreien könnten.

Auch wenn Elemente eines solchen Programms immer mal wieder in Augenschein genommen werden, so bleibt es doch bei der Vorherrscht des Finanzkapitals. Das heißt, es werden noch erhebliche Mengen »guten Geldes« zur Stützung der Banken und von anderen Instituten gehaltenen Vermögensansprüche aufgewandt werden, bevor ein politischer Kurs- und Richtungswechsel den notwendigen Rückhalt in den Bevölkerungen hat. Sollten die politischen Eliten es bis dahin auch zu einem Staatsbankrott kommen lassen, werden sie nicht nur in Griechenland chaotische Zustände produzieren.

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