15. Dezember 2010 Joachim Bischoff / Richard Detje: Der Krisengipfel der EU

Von den Finanzmärkten getrieben

Der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Trichet, bereitet die Eurostaaten auf höhere Krisenkosten vor und fordert eine Ausweitung des Euro-Rettungsschirms: »Im Bezug auf den (Rettungsfonds) EFSF kann ich sagen, dass wir uns für maximale Flexibilität stark machen und ich würde auch sagen: maximale Kapazität in punkto Quantität und Qualität.«

Zudem ist für den Euro-Krisengipfel am 16./17. Dezember eine Erhöhung des Grundkapitals der EZB im Gespräch. Hintergrund ist offensichtlich die Angst vor möglichen Verlusten durch die andauernden Anleihekäufe. Die vehementen Forderungen nach Aufstockung des Rettungsfonds und die öffentlich gewordenen Pläne zur EZB-Kapitalerhöhung senden das Signal, dass sich Europas Notenbank auf Zahlungsausfälle bei europäischen Staatsanleihen einrichtet – eine Möglichkeit, die die Märkte schon länger durchspielen.

Vor allem in Deutschland stößt der oberste Euro-Banker mit seiner Forderung auf Ablehnung. Für die Aufstockung gebe es »im Moment keinen Bedarf«, da erst knapp 10% der Mittel abgeflossen seien. Zum anderen gebe es derzeit »keine Kandidaten, die unmittelbar vor Eintritt in den Rettungsfonds stehen«. Irland hatte vor kurzem als erstes Land 85 Mrd. Euro aus dem Fonds erhalten. Anders ist die Haltung bei der Kapitalaufstockung: Die Bundesregierung will eine Erhöhung des EZB-Grundkapitals im Kampf gegen die Schuldenkrise mittragen.

Die Euro-Krise beeinflusst die Verbraucher in Deutschland im Moment wenig. Die Konsumausgaben steigen seit Monaten und Ökonomen gehen davon aus, dass der private Konsum im kommenden Jahr einer der Haupttreiber der Konjunktur sein wird. Auch diese Sonderkonjunktur ist zum Verständnis des politischen Konflikts wichtig.

Dabei wären die Auswirkungen einer Zuspitzung der Krise verheerend. Wenn der Euro zusammenbricht, würde das erhebliche Konsequenzen für die deutsche Wirtschaft haben, die in hohem Maße von den europäischen Exportmärkten und natürlich vom Euro profitiert. Die Dinge laufen für Deutschland und die europäischen Partner nur dann gut weiter, wenn der Euro weiter existiert.

Politisch geht es letztlich um sehr viel mehr als nur um den Euro. Auf dem EU-Krisengipfel steht die Einheit Europas auf dem Spiel. Diese Einheit lässt sich langfristig nicht allein durch eine gemeinsame Währung garantieren. Soll Europa eine Zukunft haben, müssen die wirtschaftlichen Diskrepanzen innerhalb der EU selbst zum Thema gemacht werden. Allerdings steht bei den europäischen Beratung nur die kurzfristige Perspektive im Vordergrund: Es gilt, eine Lösung zur Befriedigung der Finanzmärkte zu finden.

Die Dehnungsfuge zwischen politischer Inszenierung und wirtschaftlicher Realität in Europa hat ihre Maximalgröße erreicht. Auf dem EU-Gipfel wird das deutlich. Was im politischen Angebot steht und in den letzten Wochen Anlass für rhetorische Aufgeregtheiten bot, sind nur zwei unterschiedliche Varianten, auf Zeit zu spielen. Da ist auf der einen Seite der Club um Deutschland, die Niederlande, Österreich, Finnland und Fall zu Fall auch Frankreich, der auf eine Beruhigung der Finanzmärkte durch Verstetigung des Aufschwungs und »eiserne Haushaltsdisziplin« setzt. Bis ins kommende Jahr müsse man noch »auf Sicht« fahren, um dann ein hartes Austeritätsregime zu installieren.

Auf der anderen Seite hat sich eine äußerst heterogene Gruppe zusammengetan, die es für unabdingbar hält, mehr Zeit zu kaufen – mit Euro-Bonds, die die Zinslast jener Staaten senken würden, die im Zentrum der Attacken der Finanzmärkte stehen, oder mit der Verdoppelung der Spannweite des Euro-Rettungsschirms, wie von IWF und Europäischer Zentralbank gefordert, oder mit neuen Instrumenten für die den Rettungsfonds verwaltende EFSF (die »Europäische Finanzstabilisierungsfaszilität«), beispielsweise dadurch, dass diese künftig selbst Staatsanleihen ankauft. Aber eine Lösungsqualität hinsichtlich Verschuldungsabbau und wirtschaftlicher Erholung weisen auch diese Vorschläge nicht auf.

Es geht aber auch um die Hegemonie in Europa. Politiker aus Luxemburg warnen Deutschland und Frankreich vor einem »Machtanspruch«, »der eine gewisse Überheblichkeit und Arroganz ausdrückt«. Die Marschroute der Union könne »nicht von den großen Ländern vorgeschrieben« werden.

Das ist das Drama, das sich gegenwärtig in Europa abspielt: zwei Varianten eines Spiels auf Zeit – die eine teurer als die andere –, die tatsächlich die Zukunft verspielen.

Für Barry Eichengreen, der mit seinem Dubliner Kollegen Kevin O’Rourke früh auf die historische Dimension der Krise aufmerksam gemacht hatte, ist auch der Brüsseler Gipfel nur eine weitere Gelegenheit, »alles schlimmer zu machen« (Handelsblatt, 1.12.2010). Denn hinter dem Spiel auf Zeit stecke nichts anderes als die Schröpfung der Masse der SteuerzahlerInnen (nicht der Vermögenden), der BezieherInnen von Sozialleistungen und der öffentlich Beschäftigten, um weiterhin »Reparationen« an die Anleihebesitzer zahlen zu können.

Worum es nicht geht, liegt auf der Hand: Schuldenabbau für die am härtesten betroffenen Länder beispielsweise dadurch, dass Gläubiger einen Teil ihrer Forderungen abschreiben müssen – stattdessen werden im Falle Griechenlands wie Irlands außerhalb und im Rahmen des so genannten Rettungsschirms weitere Schulden aufgetürmt. Warum? »Die politische Führung in Deutschland – und mit ihr jene in Großbritannien und Frankreich – ist zu Tode darüber erschrocken, was eine Umschuldung der irischen [griechischen, portugiesischen, spanischen, vielleicht belgischen] Bankschulden für das eigene Bankensystem bedeuten würde.«

Politik, die nicht mehr leistet, versucht, den Schein der Steuerungsfähigkeit zu wahren, obwohl sie eng an der Kandare der Finanzmärkte gehalten wird. Die Crux: Wie die Entwicklung in Griechenland und Irland zeigt, bringt diese Politik die wirtschaftliche Realität weiter an den Abgrund. Denn wie 5,8% und mehr Zinsen gezahlt werden könnten von Volkswirtschaften, die nicht in einer entsprechenden Größenordnung wachsen, sondern »gesundschrumpfen« sollen (H.-W. Sinn, Handelsblatt 10.12.2010), ist ebenso ein Mirakel wie die Kunst, aus Kohle Gold zu machen.

Eine einfache Rechnung: Sollte Irland seinen Kreditrahmen des Rettungsfonds voll ausschöpfen, würde sich die Verschuldung bis 2014 auf 175 Mrd. Euro verdoppeln. Pro Jahr wären 8,5 Mrd. Euro an Zinsen fällig, gegen die schlechterdings nicht angespart werden kann. Die Verschuldungsspirale dreht sich folglich weiter – und schneller. Nehmen wir nur den nächsten Kandidaten: Portugal hat im vergangenen Jahrzehnt eine durchschnittliche Wachstumsrate von einem Prozent gehabt; wenn selbst die noch geschrumpft wird, müssen Zinsen und Tilgung aus weiterer Verschuldung finanziert werden.

Pessimisten werden deshalb wohl Realisten sein. Kenneth Rogoff zum Beispiel, der damit schon vor dem Ausbruch der Großen Krise richtig lag. Für ihn ist der Euro-Club »wahrscheinlich erst in der Mitte« der Verschuldungs-Austeritäts-Währungskrise angekommen. »Die so genannten PIGS-Staaten können sich auf ein verlorenes Jahrzehnt gefasst machen, ähnlich wie Lateinamerika in den 80er Jahren. Lateinamerikas Wiedergeburt und moderne Wachstumsdynamik entfalteten sich erst wirklich, nachdem der Brady-Plan 1987 massive Schuldenabschreibungen in der gesamten Region organisierte. Eine ähnliche Umschuldung ist in Europa das plausibelste Szenario.« (Financial Times Deutschland [FDT] 7.12.2010).

Doch hoppla. Im Falle Argentiniens ging es um die Umschuldung von 170 Mrd. US-Dollar. Allein im Fall Griechenland ginge es bei einem Volumen von über 300 Mrd. Euro um die größte Umschuldungsaktion seit den 1930er Jahren – plus Irland, Portugal, usw.

Bei derart düsteren Prognosen empfiehlt Kevin O‘Rourke seinen Landsleuten, es den IsländerInnen gleich zu tun: Dort hatten die WählerInnen nach dem Zusammenbruch der Banken in einem Referendum entschieden, die ausländischen Gläubiger nicht zu bedienen. Eine Empfehlung aus Verzweiflung – denn die Hoheit über das Budget haben die irische Regierung und das irische Parlament längst an den IWF und die EU-Kommission abgegeben.

Wenn vielleicht auch keinen realpolitischen Ausweg, so doch eine klare Richtungsentscheidung kann man den Vorschlägen von Joseph Stiglitz abgewinnen (FTD, 9.12.2010). Tief betroffen von den Vorschlägen, die Obamas »überparteiliche« Kommission zur Defizitreduzierung demnächst auch öffentlich vorlegen wird, ruft Stiglitz noch einmal die entscheidenden Verschuldungsfaktoren der vergangenen zehn Jahre in Erinnerung:

»1. Eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben, angeheizt von zwei sinnlosen Kriegen. 2. Zunehmende Ungleichheit, wobei das oberste Prozent der Bevölkerung mehr als 20% des Nationaleinkommens einstreicht, begleitet von einer Schwächung der Mittelschicht: Das mittlere Einkommen der US-Privathaushalte ist im letzten Jahrzehnt um mehr als fünf Prozent gefallen... 3. Zu geringe Investitionen in den staatlichen Sektor, einschließlich Infrastruktur, was auf dramatische Weise durch die Dammbrüche in New Orleans belegt wurde. 4. Eine Zunahme der wohltätigen Maßnahmen für Unternehmen – von Bankenrettungspaketen über Ethanolsubventionen bis hin zu einer Fortsetzung der Agrarsubventionen, auch wenn die Welthandelsorganisation entschieden hat, dass diese Subventionen illegal sind.«

Stiglitz empfiehlt, es anders herum zu machen: rentierliche öffentliche Investitionen kräftig erhöhen; Militärausgaben noch kräftiger kürzen; Beihilfen und Subventionen insbesondere für Banken, Pharmakonzerne und die Agrarlobby abschaffen; Abschaffung der Sonderrechte für Kapitalgewinne und Dividenden im Steuersystem: Erhöhung der tatsächlich gezahlten Steuern, was in erste Linie verstärkte Steuerprüfung bei Vermögenden und Unternehmen bedeuten würde.

Es gibt nur ein Problem – und das heißt Postdemokratie, d.h. der bestimmende Einfluss mächtiger Lobbygruppen auf die politische Legislative und Exekutive. Stiglitz: »Es hätte keine Vorteile für die Leute an der Spitze, Unternehmen oder andere spezielle Interessengruppen, die mittlerweile die amerikanische Politik dominieren. Die zwingende Logik eines so vernünftigen Vorschlags ist genau der Grund, warum die Chancen schlecht stehen, dass er je angenommen würde.«

Ist Europa auf dem Weg in die Postdemokratie mittlerweile bei us-amerikanischen Verhältnissen gelandet? Die Frage zu beantworten wäre die Probe aufs Exempel.

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