1. September 2011 Bernhard Müller: Mit prekären Jobs in die nächste Krise

Von wegen »Sprungbrett für gute Arbeit«

Bei der Beschäftigung und den Steuereinnahmen macht sich die Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums erfahrungsgemäß erst mit einer zeitlichen Verzögerung bemerkbar. So hat sich die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt im August kaum verändert. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) registrierte in dem Ferienmonat 2,945 Mio. Arbeitslose. Das waren 5.000 mehr als im Juli und 238.000 weniger als vor einem Jahr. Die Arbeitslosenquote ist im Vergleich zum Juli unverändert bei 7,0% geblieben.

Allerdings haben sich die Konjunkturaussichten in fast allen kapitalistischen Metropolen merklich eingetrübt. Auch in Deutschland ist das Wirtschaftsprodukt im II. Quartal nur noch geringfügig (0,1%) gewachsen. Neben einem negativen Außenbeitrag dämpfte vor allem der inländische Konsum das Wirtschaftswachstum im Vorquartalsvergleich: Die Konsumausgaben des Staates waren zwar leicht im Plus (+0,2%), die privaten Konsumausgaben (-0,7%) gingen jedoch erstmals seit dem Krisenjahr 2009 zurück. »Diese Konsumzurückhaltung ist unter anderem im Zusammenhang mit gestiegenen Energiepreisen sowie Sondereffekten wie der Verunsicherung der Konsumenten wegen der internationalen Schuldenkrise zu sehen.« (Statistisches Bundesamt)

Ein Hintergrund für die sich gleichwohl bereits abzeichnende Wende am Arbeitsmarkt sind ebenfalls die Schuldenkrise in den USA und in der Eurozone. Die teils drastischen Korrekturen an den Aktienmärkten und die Abschwächung des Wirtschaftswachstums in den USA, aber auch in vielen europäischen Ländern machen den Rückfall in eine rezessive Abwärtsbewegung immer wahrscheinlicher.

Ein solch nüchterner Blick auf die Entwicklungstendenzen ist allerdings nicht Sache der Bundesagentur für Arbeit. »Der konjunkturelle Aufschwung verliert an Dynamik«, räumt ihr Vorstandsvorsitzender Frank-Jürgen Weise ein. Dennoch habe sich die grundsätzlich gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt auch im August fortgesetzt: »Die Erwerbstätigkeit und die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wachsen weiter, und die Nachfrage nach Arbeitskräften ist nach wie vor hoch.«

So lag die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse im Juni mit 28,39 Millionen um 684.000 über dem Vorjahreswert. Vom Zuwachs entfielen 385.000 auf Vollzeitjobs, 298.000 auf Teilzeitbeschäftigung. Im August waren bundesweit 497.000 offene Stellen gemeldet. Das waren 100.000 mehr als vor einem Jahr.

Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass erstens die Langzeitarbeitslosen von dieser Entwicklung nur wenig profitiert haben. So ist die Zahl der Arbeitslosen im Bereich des SGB II im Vorjahresvergleich nur um 3,5% zurückgegangen. Im Bereich des SGB III war der Rückgang mit 15,8% wesentlich markanter. Bei Arbeitssuchenden im Alter von 50 bis unter 65 Jahre ist die Arbeitslosigkeit sogar wieder deutlich gestiegen.

Zweitens hat der Beschäftigungsaufbau vor allem im Bereich der prekären Beschäftigung stattgefunden – mit den entsprechenden Folgen für die Lohneinkommen und die private Nachfrage. Dazu gehört, dass bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung vor allem die Teilzeitarbeit zugenommen hat. So entfielen von den etwa 940.000 sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, die seit Juni 2008, als noch vor der Wirtschaftskrise, neu entstanden sind, knapp 700.000 (75%) auf in Teilzeit arbeitende Menschen.

Dazu passt der Boom der Leiharbeit, der ganz überwiegend sozialversicherungspflichtige Beschäftigung betrifft. Im Juni 2011 befanden sich etwa 905.000 Lohnabhängige (davon 820.000 in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung) in einem Leiharbeitsverhältnis. Das waren 15% mehr als im Vorjahresmonat. Insgesamt sind seit Mitte 2009, als vor allem LeiharbeiterInnen krisenbedingt ihre Arbeitsplätze räumen mussten, wieder über 300.000 Leiharbeitsplätze geschaffen worden.

Zugenommen haben in der Krise wie im folgenden Wirtschaftsaufschwung auch alle anderen Formen prekärer Beschäftigung. So gibt es aktuell 1,3 Mio. sozialversicherungspflichtige Midi-JobberInnen (12/2010), 300.000 kurzfristig Beschäftigte (12/2010), 1,35 Mio. AufstockerInnen (1/2011) und knapp 5 Mio. ausschließlich geringfügig Beschäftigte (12/2010). Einzig bei den Ein-Euro-JobberInnen hat es im Juni 2011 einen deutlichen Rückgang von 272.000 im Vorjahresmonat auf nunmehr 183.000 gegeben.

Dieser Rückgang basiert auf der politischen Entscheidung der schwarz-gelben Bundesregierung, die Haushaltssanierung vor allem zulasten der Langzeitarbeitslosen, aktiver Arbeitsmarktpolitik und der Bundesagentur für Arbeit durchzuführen. Eine Folge besteht in der drastischen Reduktion aller arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen. So liegt die Zahl der TeilnehmerInnen an diesen Maßnahmen im August 2011 um 22,5% (absolut: 318.000) unter der des Vorjahres.

Eine andere Folge ist die finanzielle Ausblutung der Bundesagentur für Arbeit. Sie hat ihre Reserven komplett für die erfolgreiche Bekämpfung der Folgen der Wirtschaftskrise 2008ff. (vor allem durch Kurzarbeit) verbraucht und wird durch die drastische Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung seit 2006 und weitere Eingriffe in ihre Einnahmen (Bundeszuschüsse nur mehr als Kredit) zu einem harten Sanierungsprogramm mit einem massiven Beschäftigungsabbau gezwungen.

Es ist deshalb mehr als zynische Augenwischerei, wenn die Bundesarbeitsministerin behauptet, dass die »sehr positive, nachhaltige und robuste Entwicklung am Arbeitsmarkt« dazu geführt habe, dass die Arbeitslosenzahl trotz deutlicher Kürzungen in der aktiven Arbeitsmarktförderung nicht gestiegen sei. Auch Langzeitarbeitslose würden derzeit aus öffentlicher Beschäftigung in den ersten Arbeitsmarkt dauerhaft vermittelt. Ihre Job-Chancen seien derzeit »so gut wie selten«. Fakt ist, dass sich die »Job-Chancen« für einen großen Teil der Langzeitarbeitslosen durch die Kürzungsorgie von Schwarz-Gelb drastisch verschlechtert haben.

Dass Deutschland beim Ausbau seines Niedriglohnsektors und der Ausgrenzung von Langzeitarbeitslosen europaweit zum Spitzenreiter geworden ist, erkennen jetzt auch die Arbeitgeber und ihre ideologischen Dolmetscher an. In einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) für die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) wird bestätigt, was in anderen Studien längst zu Tage gefördert wurde: 1995 waren noch 15% der Beschäftigten im Niedriglohnsektor beschäftigt. Heute sind es mehr als 22% – absolut mehr als 6,55 Mio. Beschäftigte.

Gleichzeitig sind die Niedriglöhne gerade hier in den Keller gegangen. 40% der NiedrigverdienerInnen haben nach anderen Untersuchungen nur ein Einkommen unter der Armutsgrenze (50% des Medianlohns). 2,1 Mio. Menschen bekommen für ihre Arbeit pro Stunde weniger als sechs Euro, davon die Hälfte weniger als fünf Euro. Die Behauptung der INSM, der Niedriglohnsektor sei ein Sprungbrett für »gute Arbeit«, entbehrt jeder Grundlage. Selbst nach diesem Gutachten haben 75% der Betroffenen keine Chance der Armutsfalle zu entkommen.

So schlittert die Berliner Republik mit einem massiv ausgedehnten Sektor prekärer Beschäftigung, deutlich gedrückten Lohneinkommen, einem überschuldeten Gemeinwesen und einer finanziell ausgebluteten Bundesagentur für Arbeit in die nächste Krise. Die Voraussetzungen dafür, dass diese wie in den Jahren 2008ff. einigermaßen glimpflich verläuft, existieren nicht mehr.

Und es fehlt der politische Wille, Maßnahmen zur Gegensteuerung durch ein Konjunktur- und Strukturprogramm auch durch die Inanspruchnahme des öffentlichen Kredits zu finanzieren. Dies verhindert allein schon die – bis auf DIE LINKE – Allparteienkoalition in Sachen »Schuldenbremse«. Wahrlich keine guten Perspektiven für Konjunktur und Arbeitsmarkt.

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