31. Januar 2017 Bernhard Sander: Endspiel in Frankreich

Vorwahlen im vierten Rang – wen interessiert noch der PS?

Die Vorwahlen für die Präsidentschaftskandidatur der Sozialistischen Partei sind mit dem Sieg des früheren Erziehungsministers Benoît Hamon zu Ende gegangen, der kaum Aussicht haben dürfte, in den zweiten Wahlgang zu kommen. Die französische Linke insgesamt bietet ein Bild des Jammers.

Die Sozialistische Partei Frankreichs hat eine große Tradition mit historischen Persönlichkeiten wie Jean Jaurès und Leon Blum, was aber nicht verhinderte, dass sie in den 1960er Jahren fast in der Bedeutungslosigkeit versank. Sie hatte keinen Anschluss gefunden an die Entwicklungen des Wirtschaftswunders, des Fordismus und der antikolonialen Bewegung. Die Kommunistische Partei dominierte in der Arbeiterbewegung mit dem Transmissionsriemen der Gewerkschaft CGT und ihren anderen Massenorganisationen.

François Mitterrand errang mit seiner Gruppe 1965 gegen den Anti-Kommunisten Gaston Deferre und die offizielle SFIO im ersten Wahlgang 32% der Stimmen und im zweiten Wahlgang gegen den Amtsinhaber Charles De Gaulle sogar 45%. 1966 wurde zwischen der Splitterpartei Mitterrands und den Kommunisten für die Wahl zur Nationalversammlung ein Abkommen der republikanischen Disziplin (Verzicht des linken Kandidaten zugunsten des jeweils besser Platzierten) getroffen, dass der Linken 45% der Stimmen brachte – gegen 42,6% der Gaullisten, aber aufgrund des Zuschnitts der Wahlkreise und des zweistufigen Wahlgangs nicht die Mehrheit im Parlament.

Mit der Neugründung des PS aus der Fusion mehrerer sozialistischer, sozialdemokratischer und republikanischer Organisationen im Jahre 1971 war das Projekt der Regierungsübernahme unmittelbar verbunden. Bestandteil dieser Neugründung war mit dem CERES ein wichtiger marxistischer Flügel, der maßgeblichen Anteil an dem hatte, was 1972 als »Gemeinsames Programm« der Linksunion mit der KP unterzeichnet wurde. Aus der Splitterpartei wurde ein Machtfaktor. 16 Jahre nach seiner ersten, von den Kommunisten unterstützten und doch vergeblichen Kandidatur wurde der PS-Gründer François Mitterrand zum Staatspräsidenten gewählt.

Wahlergebnisse der Linken (jeweils 1. Wahlgang bei den Parlamentswahlen)

Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/%C3%89lections_l%C3%A9gislatives_en_France; verschiedene Stichworte

Der Zyklus, der damals in Epinay begann, neigt sich nun dem Ende zu. Der Höhepunkt des Einflusses war erreicht, als Mitterrand Mitte der 1980er Jahre den Versuch, einen Sozialismus in den Farben Frankreichs einzuführen, für beendet erklärte. Auch die Kommunistische Partei hat sich von diesem Schlag nie wieder erholt, da sie ihren Einfluss immer häufiger nur über Mandate erringen konnte, die von der republikanischen Disziplin der Sozialdemokraten abhängig waren.

Die Gruppe um Mitterrand hielt sich danach in der Kohabitation mit der gaullistischen Parlamentsmehrheit über Wasser. Der Front National, der den Protest des traditionellen Mittelstandes gegen die sozialistische Bedrohung des Eigentums durch die Linksunion einsammelte, konnte sich auch danach gut halten, denn diese Kohabitation führte nicht aus der Wirtschaftskrise heraus, sondern bereitete den Weg in die Maastricht-Verträge und schließlich in die Währungsunion vor. Ende der 1990er Jahre gelang den Sozialisten noch einmal eine Parlamentsmehrheit zusammen mit den Kommunisten unter dem konservativen Staatspräsidenten Jacques Chirac. Trotz der gesetzlichen Einführung der 35-Stunden-Woche und der Erhöhung der Sozialen Mindesteinkommen fegte es den PS allerdings 2002 bei den Präsidentschaftswahlen vom Platz. Seitdem damals der alte Jean-Marie Le Pen den FN in die zweite Runde führte, hätte die gesamte französische Linke zur Besinnung kommen müssen.

Und nachdem Nicolas Sarkozy und seine UMP sich mit Beginn des neuen Jahrzehnts weigerten, den »cordon sanitaire«, den Schutzgürtel gegen den Front National, fortzusetzen und im Zweifelsfall auch den Wahlsieg eines linken Kandidaten zu dulden, wurde das politische Überleben auch für den PS immer schwerer. Bei den letzten Regionalwahlen 2015 ließ sich eine Mehrheit der Rechtspopulisten in zwei der 16 Regionalparlamente nur durch den völligen Rückzug der PS-Listen im zweiten Wahlgang zugunsten der rechtsbürgerlichen Republikaner (LR) verhindern.

Wie die meisten sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien steckt auch der französische PS in einer tiefen existenziellen Krise. An der Vorwahlen zum Präsidentschaftskandidaten des PS beteiligten sich statt der vier Millionen vom letzten Mal nur noch 1,6 Mio. BürgerInnen, und selbst diese Zahl wird in den Medien als hochgejazzt angezweifelt.

Der bisherige Ministerpräsident Manuel Valls, der schon bei den Vorwahlen 2012 nur 6% der Stimmen erhielt, schaffte es mit Müh & Not auf 31,5% und in die zweite Runde. Sein Gegner Benoît Hamon, Erziehungsminister im ersten Kabinett unter François Hollande (36,4%), wurde umgehend vom drittplatzierten »linken« Arnaud Montebourg (17,5%) unterstützt, der mit ihm das Kabinett und das Wirtschaftsministerium verlassen musste. Beide gehören dem linken Flügel des PS an, protestierten mit ihrem Rückzug gegen die erste Stufe der Arbeitsmarktliberalisierungen (Sonntagsarbeit, Lizenz für Fernbuslinien, Öffnung sogenannter freier Berufe) und beteiligten sich an den »Aufständen« in der Parlamentsfraktion.

Die Positionen von Valls und Hamon in der Endrunde konnten unterschiedlicher nicht sein. Das Land befindet sich seit 2015 im Notstand, der als politischer Ausnahmezustand gehandhabt wird. Während Hamon für eine großzügigere Aufnahme ausländischer Flüchtlinge als heute plädiert, aber »Humanitäts-Visa« einführen will, um »Klarheit zu gewinnen, wer da zu uns kommt«, hält Valls eine »strikte Begrenzung des Zustroms« für nötig und will abgewiesene AsylbewerberInnen konsequenter als bisher abschieben. In dieses Bild fügt sich auch logisch ein, dass Hamon den legal in Frankreich lebenden Ausländern das Wahlrecht zuerkennen will (eine lang bestehende Forderung des PS), während Valls das ablehnt.

In ökonomischen Fragen sind ebenfalls gravierende Unterschiede festzustellen. Zwar haben alle Kandidaten betont, dass sie eine unternehmensfreundliche Politik wollen, aber die Möglichkeiten zur Steueroptimierung sollen erheblich eingeschränkt werden. Die unter Hollande eingeführten Steuerentlastungen möchte Hamon einschränken auf Fälle, wo Gewinne reinvestiert, ökologisch innovativ investiert, die Arbeitszeit reduziert oder Arbeitsplätze geschaffen werden. Er fordert stattdessen eine »Roboter-Steuer«.

Einig waren sich auch alle Kandidaten darin, die sozialen Werte Europas zu stärken, über die Produktionsbedingungen der Importwaren zu wachen und die bestehenden Instrumente im Sinne eines sozialen und ökologischen Protektionismus zu nutzen. Damit ist allerdings keine Differenz zum nationalen Protektionismus des FN gesetzt. Lediglich Hamon lehnt die Freihandelsabkommen TAFTA und CETA klar ab. So etwas wie Industriepolitik sucht man bei allen vergebens.

Die Haushaltspolitik nimmt stattdessen breiten Raum ein.  Valls verteidigt das 3%-Kriterium der Verschuldung im laufenden Haushalt, während dies für Hamon öffentliche Investitionen blockiere, die nicht durch private Investitionen substituierbar seien. Hamon schlägt vor, dass sich die Euro-Zone als Ganze verschulden können sollte.

Die Unternehmensbesteuerung müsse europaweit harmonisiert werden, darin sind sich die Kandidaten einig. Vage ist man sich auch darin einig, die Managergehälter zumindest im Anstieg zu begrenzen. Die von der Bevölkerung mehrheitlich abgelehnten Arbeitsmarktreformen wollen alle Kandidaten außer Valls wieder abschaffen.

Benoît Hamon tritt am entschiedensten für Arbeitszeitverkürzungen ein, wobei die Formen offenbar eine untergeordnete Rolle spielen und die anderen Kandidaten dies nur in Kombination mit Individualisierung von Arbeitszeiten ermöglichen wollen.

Beim linken Thema der Umverteilung dominiert Hamon mit der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen die Debatte, während sein Konkurrent Valls nur die Sozialleistungen zu einem »Einkommen in Würde« zusammenlegen will. Hamon will sein Projekt starten mit einer Erhöhung der Sozialhilfe, des Mindestlohns und des Index-Basissatzes im öffentlichen Dienst um 10%. Die anderen Kandidaten wollen für die unteren Einkommen Steuerentlastungen, also nur eine Umverteilung für Einkommensbezieher.

Das Ergebnis der Vorwahlen ist kein Beleg für die Überlegenheit des linken Flügels, dessen Kandidaten beim ersten Wahlgang in Summe auf 52% kamen, sondern für die fundamentale Zerrissenheit der Sozialisten.

In der nun beginnenden Auseinandersetzung wird ein Teil der neoliberal gewendeten Sozialdemokraten sich dem früheren Hollande-Zögling Emmanuel Macron zuwenden, der als Wirtschaftsminister gegen den monatelangen Protest der Gewerkschaften die zweite Stufe der Arbeitsmarktreformen schließlich per Notverordnung durchgesetzt hat. Nur noch der quasi unbelastete Macron, der nicht Mitglied des PS war und noch in keinen Skandal verwickelt ist, hat für den praktisch denkenden PS-Anhänger realistische Aussichten gegen den rechtsbürgerlichen LR-Kandidaten François Fillon. Wenn allerdings schon 30 bis 40 Parlamentsabgeordnete (von 280) ihrem Minister Macron die Gefolgschaft verweigerten, wird dies an der Basis ein weitaus größerer Anteil der Anhängerschaft tun.

Die Linken wiederum wissen, dass ihr Kandidat zwar die Vorwahlen für sich entschieden hat, aber nur Jean-Luc Mélenchon überhaupt noch in die Nähe des zweiten Wahlgangs um die Präsidentschaft kommen könnte. Seine linke Anhängerschaft wird sich weder von den Ideen von Robotersteuer, Grundeinkommen und Arbeitszeitverkürzung einfangen lassen, noch einem PS-Kandidaten Vertrauen entgegenbringen.

In beiden Fällen dürfte nach derzeitigen Umfragen ein PS-Kandidat um die 10% erzielen. Die dann noch verbleibenden wenigen Monate bis zur Parlamentswahl werden kaum ausreichen eine neue Plattform zu bilden. Die französische Sozialistische Partei scheint der Pasokisierung entgegen zu sinken. Sie war zwar in der Lage, nach dem Versagen des vorherigen Präsidenten Sarkozy das Tempo der soziale Spaltung in Folge der Großen Krise 2008 zu begrenzen, nicht aber diese Spaltung umzukehren.

Mit ansteigender Staatsverschuldung und den von Brüssel und Berlin diktierten Bedingungen des Fiskalpaktes schwand der Spielraum für dämpfende sozialpolitische Maßnahmen und Förderung der Re-Industrialisierung. Damit stieg die Enttäuschung über die vollmundigen Erklärungen, der eigentliche Gegner seien die Finanzmärkte. Immer größere Teile der französischen Bevölkerung sehen sich selbst zum Gegner gemacht. Allen voran der traditionelle Mittelstand, der seit der Linksunion das Rückgrat des Front National stellt.

»Der Mitterand-Sozialismus war der letzte große Anlauf der französischen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert. Wir haben ein anderes Jahrhundert; die Abseitsstellung des PCF legte das seit langem nahe... Die Wähler der Linken haben es in der Hand, an den Urnen zu entscheiden, ob sich ein neues historisches Fenster öffnet. Seit dem Ende der siebziger Jahre hat die sozialistische Hegemonie das Gewicht der radikaleren sozialkritischen Tradition gemindert. Ab 2017 könnte das Pendel in die andere Richtung schwingen.« – hoffen unabhängige Beobachter auf der Linken auf eine Sieg Mélenchons.

Doch für Aussichten auf eine Neubegründung besteht wenig Hoffnung. Die Kommunisten und die von Jean-Luc Mélenchon gegründete Bewegung »aufständisches Frankreich« haben sich zwar wieder angenähert, für die Parlamentswahlen dennoch beide landesweite Listen mit 253 bzw. 303 Kandidaten aufgestellt, teilweise gegeneinander. Die Kommunisten beharren trotz ihrer Unterstützung für Mélenchon auf programmatischer Eigenständigkeit. Mélenchon sagte voraus, »dass sich der Blutsturz im PS in Richtung Macron verstärken« werde, die ganzen Vorwahlen seien nur ein Manöver zur Täuschung der Massen.

Mit knapp zwei Mio. Stimmen lag die Beteiligung bei den Vorwahlen der PS über der ersten Runde. Im Resultat ist das Ergebnis für den linken PS-Präsidentschaftskandidaten wenig überzeugend. Knapp 59% votierten für ihn. In den bisherigen Umfragen liegt er allerdings weit hinter Mélenchon (13% zu 6%). Ministerpräsident Valls kam auf 42%, die nun eher dem Hoffnungsträger Macron zugutekommen werden, denn Valls hatte verkündet: »Ich werde sein Programm nicht verteidigen können« und rechte Abgeordnete verlangten für sich ein »Recht auf Rückzug von der Kampagne«.

Offen ist nach wie vor, ob François Bayrou noch einmal antritt, der mit der zentristischen MoDem eine Wahlformation gegründet hatte, die landesweit durchaus für 10% gut war, obwohl niemand sagen konnte, wofür sie eigentlich steht (gesellschaftspolitisch eher liberal wie gewisse Strömungen der us-amerikanischen Demokraten). Das Dilemma für die WählerInnen bleibt: Angesichts einer Herausforderung durch Marine le Pen und den rechtskonservativen François Fillon, steht auf der Linken dem Grünen Yannick Jadot und dem linksnationalistischen Mélenchon nun ein linker Sozialdemokrat gegenüber. Mélenchon sieht im Sieg Hamons einen Ausdruck der »kulturellen Hegemonie« des eigenen Programms von nationaler Selbständigkeit, ökologischer Planwirtschaft und institutioneller Neugründung (»6. Republik«).

Ex-Wirtschaftsminister Macron könnte als Überraschungssieger in die zweite Runde einziehen, während die Linke auf der Strecke bleibt.

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