24. Januar 2013 Alexander Ulrich / Steffen Stierle: Jahreswachstumsbericht der EU-Kommission

»Wachstumsfreundliche Haushaltskonsolidierung«

Für die weitere Entwicklung der Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in der EU ist am Anfang eines Jahres der Wachstumsbericht der Europäischen Kommission ein guter Indikator. Mit ihm wird das so genannte Europäische Semester eingeleitet: Der Europäische Rat entwickelt im Frühjahr auf Basis des Berichts »länderspezifische Empfehlungen« und gibt diese an die Regierungen der Mitgliedsländer. Diese entwickeln dann wiederum »nationale Reformpläne«, die in den Haushaltsentwürfen für das kommende Jahr berücksichtigt werden. So sollen die Haushaltspläne EU-weit koordiniert werden, noch bevor die nationalen Parlamente mitsprechen können.

Für die meisten Mitgliedsländer handelt es sich bei den »länderspezifischen Empfehlungen« tatsächlich um Empfehlungen. Sie sind nicht verpflichtend, es gibt keine Sanktionen. Die »Programmländer« Irland, Griechenland, Portugal und Spanien hingegen wurden bereits zur Umsetzung verpflichtet. Darüber hinaus wird derzeit im Europäischen Rat unter dem Titel »Wirtschaftsunion« u.a. darüber diskutiert, wie man die Empfehlungen für alle Euro-Länder zu Verpflichtungen machen kann.

Der Wachstumsbericht zeigt also in jedem Jahr früh die politische Richtung an, in die die EU im laufenden Jahr zu gehen gedenkt. Am Anfang des Berichts steht eine Analyse der wirtschaftlichen Lage. Daraus werden politische Leitlinien abgeleitet, die zeigen, wie nach Auffassung der Europäischen Kommission auf die wirtschaftliche Lage zu reagieren ist.

Die zentrale Botschaft des diesjährigen Berichts lautet: Die Krisenpolitik der letzten Jahre hat eine tiefe Rezession verursacht und die Staatsschulden in die Höhe getrieben. Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und die Schulden in den Griff zu bekommen müssen wir genauso weiter machen wie bisher. Das erinnert an Albert Einstein, der einmal sagte, dass die »Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.«


Dieselben Inhalte, andere Begründung


Vor drei Jahren wurde eine Politik
des immer weiteren Sozialabbaus, der Kürzungen bei Renten, Löhnen und Gesundheitsdienstleistungen und des Schröpfens des öffentlichen Sektors so begründet: Die Staatsschulden sind zu hoch, also muss gespart werden. Gerne wurde die Argumentation mit Verweisen auf schwäbische Hausfrauen untermauert. Auch faule Griechen mussten herhalten um zu zeigen, was passiert, wenn man weniger »sparwillig« ist als die schwäbische Hausfrau.

Nachdem man die südeuropäischen Ökonomien systematisch kaputt gespart hat, greift diese Argumentation nicht mehr. Die Auswirkungen der Kürzungspolitik sind zu offensichtlich. Die Maßnahmen haben zu deutlichen Einkommens- und damit Nachfragerückgängen geführt. Große Unternehmen führen Massenentlassungen durch, kleine schließen. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Einkommen gehen weiter zurück. Die Steuereinnahmen sinken und die Staatsschulden steigen immer weiter. Eine rasante Rezessionsspirale wurde in Gang gesetzt. Am fleißigsten gekürzt wurde in den letzten Jahren Griechenland, dort ist der »Erfolg« dieser Politik auch am deutlichsten zu erkennen. Die Wirtschaft ist um über 20% geschrumpft und die Arbeitslosigkeit von unter 9% auf über 25% gestiegen. Die Verschuldung ist seither von 130% auf 180% der Wirtschaftsleistung angewachsen. Jährlich kommt es zu Steuerausfällen von mehreren Milliarden Euro.

Hinzu kommen die sozialen Folgen der drastischen Lohn- und Sozialkürzungen, die im Wachstumsbericht der Kommission mit der zynisch wirkenden Formulierung zur Kenntnis genommen werden, dass es Hinweise darauf gäbe, Armut könne in vielen Mitgliedsstaaten zunehmen. Zu diesen Hinweisen zählen Armutsquoten von rund 30%, Massen-Obdachlosigkeit, steigende Selbstmord- und Kriminalitätsraten, Mangelernährung und erhebliche Migrationsbewegungen innerhalb der EU.

Die offensichtlichen Folgen der europäischen Kürzungspolitik führen dazu, dass ein neues Argumentationsmuster gebraucht wird, um sie weiterhin durchsetzen zu können. Auch das liefert der Wachstumsbericht. Die Kommission stellt fest, dass Haushaltskonsolidierung kurzfristig zu Wachstumseinbußen führt und die Vorteile erst auf mittlere Sicht anfallen. Aha. Es muss also erst ein wenig bergab gehen, damit es danach steil bergauf gehen kann. Die Frage ist nur, was die »mittlere Sicht« ist. Zu Beginn der Krise wurde der große Aufschwung im Jahr 2012 erwartet. Als er ausblieb, hat man ihn auf 2013 verschoben. Nun geht man von einem Ende der Talfahrt im Jahr 2014 aus. Derweil befindet sich die griechische Ökonomie bereits im sechsten Jahr wirtschaftlicher Schrumpfung. Haushaltkonsolidierung im Sinne eines Rückgangs der Verschuldung hat dennoch nicht stattgefunden.


Weiter kürzen – aber richtig!


Der zentrale Fokus der europäischen Krisenpolitik
wird also auch im Jahr 2013 auf Ausgabenkürzungen liegen. Diese sollen künftig allerdings »Wachstumsfreundliche Haushaltskonsolidierung« heißen. Dahinter steckt der Plan, vor allem dort zu kürzen, wo die konjunkturellen Folgen als gering eingeschätzt werden, also genau jene Stellen, an denen auch in den letzten Jahren – mit den bekannten Folgen – am gründlichsten gekürzt wurde: Soziale Sicherungssysteme, Renten und Gesundheitsdienstleistungen. Einstein lässt grüßen.

Steuererhöhungen soll es nur in geringem Umfang geben, da diese nach Auffassung der Kommission besonders starke negative Konjunktureffekte haben. Wichtig ist es aber vor allem darauf zu achten, welche Steuern erhöht und gesenkt werden. Eine wachstumsfreundliche Haushaltskonsolidierung ist beispielsweise gut mit einer Erhöhung von Verbrauchssteuern, insbesondere der Mehrwertsteuer zu vereinbaren. Einkommenssteuern und Unternehmenssteuern sollten hingegen gesenkt werden. Auch das spiegelt die Krisenpolitik der vergangenen Jahre exakt wieder. Wahnsinn?

Die länderspezifischen Empfehlungen des Europäischen Semesters werden also im haushaltspolitischen Bereich voraussichtlich vor allem Maßnahmen beinhalten, die bereits in den letzten Jahren eine tiefe Rezession verursacht und die die Schulden in die Höhe getrieben haben. Und zwar mit dem Ziel, Wachstum zu generieren und die Schulden abzubauen. Eine überzeugende Strategie sieht anders aus.


Banken retten, Löhne senken, Märkte deregulieren


Derweil ist die Schieflage
der Staatshaushalte nicht das einzige Problem, das die Kommission im Wachstumsbericht anspricht. Im Rahmen des Europäischen Semesters sollen zudem die normale Kreditvergabe an die Wirtschaft wieder hergestellt, die Wettbewerbsfähigkeit gefördert und die Arbeitslosigkeit bekämpft werden. Die Strategien dafür sind jedoch ebenso wenig überzeugend.

Die Kreditvergabe an die Wirtschaft zu normalisieren, wäre in der Tat wichtig. Das Kreditvolumen hat seit 2008 in der gesamten Eurozone stark abgenommen und gerade in Südeuropa müssen Unternehmen Zinsen von deutlich über 6% bezahlen. Die Ursache ist der nach wie vor marode Zustand des Bankensystems, das im Zuge der globalen Finanzkrise teilkollabiert und trotz gigantischer Rettungsaktionen nach wie vor massiv angeschlagen ist. Die Idee besteht nun darin, mehr Geld in die Banken zu pumpen, in der Hoffnung dass sie es dann nicht wieder im Casino der globalen Finanzmärkte verzocken, sondern Kredite mit guten Konditionen an die Realwirtschaft vergeben.

Auch das erinnert an Einstein: Unsummen an öffentlichen Geldern wurden in den letzten Jahren in spektakulären Rettungsaktionen der Regierungen und der EZB in die Banken gepumpt. Der Effekt auf die Kreditvergabe war allerdings bescheiden. Eine neue, solide Strategie bestünde darin, die öffentlichen Gelder nicht zur Bankenrettung zu verwenden, sondern den kleinen und mittleren Unternehmen direkt öffentliche Kredite zu niedrigen Zinsen zu geben.

Und auch die Strategien zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit haben sich nicht geändert: Die Rahmenbedingungen für Unternehmen müssen verbessert, Löhne nach unten »korrigiert« und Märkte dereguliert werden. Wettbewerbsfähiger wird man so in der Tat. Nur ist die Krise nicht Folge einer insgesamt zu geringen Wettbewerbsfähigkeit, sondern zu großer Ungleichheiten in der ökonomischen Leistungsfähigkeit innerhalb der Währungsunion. Durch diese Ungleichheiten erzielen die weniger wettbewerbsfähigen Länder Jahr für Jahr größere Außenhandelsdefizite, was sie immer tiefer in die Verschuldung treibt. Wenn nun europaweit die Märkte dereguliert und die Löhne gesenkt werden, sind zwar alle Länder wettbewerbsfähiger. An der Ungleichheit ändert das aber nichts. Es wurde lediglich von Löhnen zu Gewinnen umverteilt. Sonst nichts.

Lohnkürzungen sind nach Auffassung der Kommission eines der wichtigsten Elemente zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Diese liegt in der Eurozone mit 11,6% auf Rekordniveau. Besonders besorgniserregend ist dabei auch die Spreizung zwischen den Ländern. Während sie in Nord- und Westeuropa relativ niedrig ist, liegt sie in einigen südeuropäischen Ländern bei über 25%. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in Spanien und Griechenland sogar fast 60% und in Italien einigen anderen Ländern zwischen 30% und 40%.

Besonders hoch ist die Arbeitslosigkeit also in jenen Ländern, in denen die Löhne zuletzt massiv gekürzt wurden. Nun sollen sie weiter gekürzt werden um die Arbeitslosigkeit abzubauen. Ein weiterer Fall für Einstein.

Wenig überzeugend ist auch die Jugendgarantie, durch die dem besonders gravierenden Problem mit der Jugendarbeitslosigkeit Rechnung getragen werden soll. Alle Länder sollen dafür sorgen, dass alle Jugendlichen binnen vier Monaten nach Eintritt in die Arbeitslosigkeit ein Jobangebot haben. Es bleibt abzuwarten, wie das in Ländern mit einer Jugendarbeitslosigkeit von fast 60% realisiert werden kann.

Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass exakt dieselbe Politik, die in den letzten Jahren gescheitert ist, fortgesetzt werden soll, um das Scheitern wieder auszugleichen. Statt den Kurs zu ändern, wird das Argumentationsmuster geändert. Ist die politische Elite Europa also von kollektivem Wahnsinn befallen? Nicht, wenn man die Krisenpolitik als das begreift was sie ist: eine massive gezielte Attacke gegen soziale Rechte und Demokratie mit dem Ziel einer Umverteilung von Wohlstand von öffentlich zu privat, von arm zu reich, von Realwirtschaft zu Finanzmärkten und von Süd nach Nord. In diesem Sinne ist die europäische Krisenpolitik ausgesprochen erfolgreich. Deswegen soll sich auch 2013 nichts ändern. Der Konsolidierungsdiskurs geht an der Sache vorbei. Wir müssten stattdessen über Verteilung sprechen!

Alexander Ulrich, MdB, DIE LINKE, Obmann im Ausschuss für Angelegenheiten der EU; Steffen Stierle, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Abgeordneten-Büro Ulrich; Attac Deutschland.

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