3. Mai 2010 Richard Detje

Warum steigt die Arbeitslosigkeit nicht in der Krise?

Gibt es doch ein "deutsches Beschäftigungswunder"? Um 162.000 ist die Zahl der Arbeitslosen im April 2010 gegenüber März gesunken. Gegenüber dem Vorjahresmonat 2009 ist das ein Rückgang um 178.000. Und verglichen mit dem Tiefpunkt der Arbeitslosigkeit im Vorkrisenjahr 2008 zählt die Bundesagentur für Arbeit gerade einmal 130.000 Erwerbslose mehr.

Den einen Teil der Geschichte kennt mittlerweile jeder: Arbeitszeitverkürzung hat sich als Erfolgsstory erwiesen. Durch Kurzarbeit, Streichung von Überstunden und Herunterfahren der Arbeitszeitkonten wurden umgerechnet 1,2 Mio. Beschäftigungsverhältnisse in der Krise gesichert. Ohne Arbeitszeitverkürzung würde die Arbeitslosigkeit im April 2010 statt bei 3,4 bei 4,6 Mio. liegen.

Das gilt es im kollektiven Gedächtnis zu behalten, wenn die Bundesregierung im Spätherbst das noch zu großkoalitionären Zeiten beschlossene Gesetz zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis 67 entgegen der arbeitsmarktpolitischen Überprüfungsklausel bestätigt. Arbeitszeitverkürzung ist nicht "dumm und töricht", wie einst Merkels politischer Ziehvater Kohl meinte, sondern kurzfristig das wirkungsvollste Instrument gegen Deflationsgefahren von Seiten des Arbeitsmarktes.

Die Wirkung lässt jedoch nach. So wird die Zahl der KurzarbeiterInnen im Jahresdurchschnitt von über 1,1 Mio. in 2009 auf rund 700.000 in 2010 zurückgehen. Wenn das trotzdem mit einem Rückgang – statt einer Zunahme – der Arbeitslosigkeit einher geht, müssen weitere Faktoren im Spiel sein.

Ein simpler, propagandistisch sehr wirkungsvoller Faktor ist die Manipulation der Statistik. In der Tat wird es immer schwieriger, über mehrere Monate oder gar Jahre vergleichbare – also nicht zwischenzeitlich "bereinigte" – Arbeitsmarktdaten zusammenzustellen. Das Problem hat selbst die Bundesagentur für Arbeit, die deshalb neben den Daten zur registrierten Arbeitslosigkeit auch Daten zur "Unterbeschäftigung" veröffentlicht.

Darin sind Arbeitslose in Weiterbildung erfasst, ebenso wie 58-Jährige, die seit einem Jahr nicht mehr vermittelt wurden und Arbeitslose, die einen Familienangehörigen pflegen – und eben jene gut 100.000 Arbeitslose, die nicht mehr von der BA, sondern von privaten Dienstleistern vermittelt werden sollen. Für April 2010 weit die BA-Statistik 4,585 Mio. "Unterbeschäftigte" (ohne Kurzarbeit) aus. Und – man staune: Das sind 10.000 mehr als im April 2009. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit löst sich in eine statistische Fata Morgana auf.

Aber selbst dieser Befund ist erklärungsbedürftig. Warum hat die schwerste Weltwirtschaftskrise seit den 1930er Jahren keine tiefen Gräben auf dem Arbeitsmarkt aufgerissen?

Die erste Antwort: Sie hat Gräben gerissen. Dazu müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Sicherung von 1,2 Mio. Beschäftigungsverhältnissen durch Kurzarbeit weitgehend auf die exportstarken Bereiche der Verarbeitenden Gewerbes konzentriert war – in den konsumnahen Dienstleistungsbereichen spielt Kurzarbeit nahezu keine Rolle. Dennoch sind im Vorjahresvergleich über 255.000 Industriearbeitsplätze abgebaut worden (-3,9% auf 6,4 Mio.). Ohne Arbeitszeitverkürzung hätte es in den industriellen Kernbereichen ein arbeitsmarktpolitisches Desaster gegeben. Die Viertelmillion abgebauter Arbeitsplätze werden auf Dauer sein – großteils wegrationalisiert und später, wenn die Nachfrage auf dem Weltmarkt weiter anzieht, ersetzt durch Leiharbeit.

Die zweite Antwort: In der Krise hat Beschäftigungsaufbau stattgefunden. Kein Scherz! Die automatischen Stabilisatoren des Sozialstaats haben gewirkt – besser, als man erwarten konnte. In den Bereichen Gesundheit, Soziales, Bildung und Erziehung sind ein Sechstel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten tätig – 4,6 Mio., mittlerweile mehr als zwei Drittel der Industriearbeiter. Hier hat die Beschäftigung zugenommen: bei SozialarbeiterInnen, KindergärtnerInnen usw. Dadurch wurde der Arbeitsplatzabbau im verarbeitenden Gewerbe um nahezu drei Viertel ausgeglichen!

Hier kommt nun die Arbeitszeit erneut ins Spiel. Nehmen wir ein ganz grobes Raster: Von 2001 bis 2009 sind nahezu 2,5 Mio. Vollzeitjobs (von 25,4 auf 23 Mio.) abgebaut worden. Gleichzeitig stieg die Zahl der Teilzeitjobs von 10 auf 12,6 Mio. Hier stoßen wir erneut auf die Gräben im Arbeitsmarkt. Denn Teilzeitarbeit wird zunehmend zu einer viel zu geringen oder gar geringfügigen Arbeit, die zum Lebensunterhalt allein – und selbst mit zwei Erwerbspersonen in der Familie immer häufiger – nicht reicht. In das gleiche Raster gehört die Dynamik der "Personen in Nebenjobs": Ihre Zahl verdoppelte sich nahezu von 1,3 auf 2,5 Mio.

Dies ist die prekäre Seite der Arbeitszeitverkürzung.

Doch selbst daraus entsteht ein noch existenzielleres Problem: Prekarität nimmt zu durch fortschreitende Umwandlung von Vollzeit- oder auskömmlichen Teilzeitjobs in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse. Sie nimmt aber vor allem zu, wenn die avisierte – und als historisch beispiellos angekündigte – Sparpolitik der öffentlichen Haushalte und die Defizite in den Sozialkassen den bisher beschäftigungssichernden Strukturwandel in der Krise abrupt abbremsen.

Fassen wir zusammen. Das "deutsche Beschäftigungswunder" hat wie jedes "Wunder" zwei Seiten. In beiden Fällen geht es um Arbeitszeitverkürzung. Die prekäre darf nicht zum Zuge kommen. Erstens nicht bei den Haushaltsberatungen im Mai/Juni, zweitens nicht bei der Umsetzung der Rente mit 67.

Ansonsten ist Arbeitszeitverkürzung – wie Keynes inmitten des Bloomsbury Kreises erfuhr – ein geradezu phantastisches Instrument experimenteller politischer Ökonomie: Es animiert die Leute, Geld auszugeben – u.a. in Griechenland –, sich fortzubilden, ihre Vorstellung von "guter Arbeit" zu verfeinern und – last but not least – jenen sozialen, kulturellen und sexuellen Lebensgenüssen auf die Spur zu kommen, die sie ansonsten "gewohnt" sind, zu sublimieren.

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