1. April 2013 Joachim Bischoff: Die OECD ist pessimistisch

Wie raus aus der Krisensackgasse?

Eine Alltagserkenntnis lautet: Aus Schaden wird man klug. Diese Einsicht hat offensichtlich für die wirtschaftlichen und politischen Eliten wenig handlungsleitende Relevanz. Nach den Vermögenspreisblasen im New Economy-Boom (2002) und im Zusammenhang der Immobilien- und Hypothekenentwicklung seit 2007 schlingern die kapitalistischen Länder im 21. Jahrhundert erneut in eine vergleichbare Konstellation der Auseinanderentwicklung von Realwirtschaft und der Finanz- und Wertpapiermärkte.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnt in ihren jüngsten Bericht vor einer Preisblase auf den Wertpapiermärkten, die sich vor allem im Euro-Raum ausbildet. Die Börsenkurse sollten eigentlich die wirtschaftliche Realität widerspiegeln. Das ist derzeit nicht der Fall. In Europa werde es erst frühestens im Sommer 2014 konjunkturell wieder bergauf gehen. Die nicht mit der realen Wirtschaft zu begründenden Preisentwicklung auf den Wertpapiermärkten zeigt, »dass die Börsenkurse komplett aus den Fugen geraten«, sagte Pier Carlo Padoan, Chef-Ökonom der OECD. Sollte die aktuelle Preisblase platzen, werde sich die Situation in Europa weiter verschärfen. Nach einem solchen Börsen-Crash könnten weitere Bankenrettungen und staatliche Zwangs-Abgaben folgen.

Trotz vordergründiger Bewältigung der Zypern-Krise hält es die OECD für unwahrscheinlich, dass sich die Situation in den nächsten Monaten entspannen könnte. Seit 2011 habe es in Europa kein Wachstum mehr gegeben. Die OECD geht weiter davon aus, dass sich das Ungleichgewicht zwischen Deutschland und dem Rest Europas noch verstärken wird.

Vor allem die Eurozone bleibe verwundbar. Noch einmal Pier Carlo Padoan: »Wir brauchen entschiedene politische Schritte, um ein nachhaltiges Wachstum zu erzielen – vor allem in der Eurozone, in der das Wachstum ungleich verteilt ist.« Besondere Sorgen bereitet der OECD die Arbeitslosigkeit in Europa. Dadurch verschärften sich Ungleichheit und Armut. Padoan appellierte insbesondere an die Staaten mit einem Handelsüberschuss, zu mehr Wachstum in Europa beizutragen. Laut dem Chefvolkswirt sollten in Deutschland die Löhne angehoben werden, damit die Binnennachfrage steige und so indirekt auch andere Länder profitierten.

Die Weltwirtschaft erholt sich langsam, doch Europa bleibt zurück –sowohl der Euro-Raum als auch die EU insgesamt. Die anhaltende Krise im Euro-Raum belastet den globalen Aufschwung. Insgesamt rechnen die Volkswirte der OECD mit einem Wirtschaftswachstum im ersten Quartal in den Ländern der G7 (USA, Kanada, Japan, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland) von zusammen 2,4% und von 1,8% im zweiten Quartal. Die drei größten Industrieländer im Euro-Raum sollten demnach von Januar bis März lediglich um eine Jahresrate von 0,4% wachsen. Zugleich werde die Wirtschaft Italiens weiter schrumpfen. Frankreich soll nach einem Minus von 0,6% im ersten Quartal im zweiten Vierteljahr die Trendwende schaffen und ein Plus von 0,5% verzeichnen.

Wachstumslokomotiven für die Weltwirtschaft bleiben auch 2013 die Schwellenländer. Sie legten im Durchschnitt erheblich kräftiger zu als die kapitalistischen Metropolen. In den USA verbesserte sich die Wirtschaftsleistung im Jahr 2012 nur marginal, wobei das jährliche BIP um 2,3% anstieg, im Jahr 2011 lag der entsprechende Wert bei 1,8%. Mit 7,8% zu Jahresende 2012 blieb die Arbeitslosenrate hoch und in den letzten Jahren gab es beinahe kein Reallohnwachstum. Das Median-Haushaltseinkommen in den USA liegt immer noch unter der Marke von 2007 – nahe dem Wert von vor 20 Jahren – und ungefähr 90% aller im Zeitraum nach der Krise festzustellenden Einkommenszuwächse flossen dem 1% der Haushalte an der Spitze der Einkommenspyramide zu. Für die Eurozone sehen die Indikatoren noch schlechter aus. Im Jahr 2012 schrumpfte die Wirtschaft und die Löhne sanken trotz der Zuwächse in Deutschland und einigen nördlichen Ländern. Die Armut im Süden Europas steigt erstmals seit Jahrzehnten.

Eine Zuspitzung der Bedrohung ergebe sich aus den politischen Blockaden. Die USA stecken in einem parteipolitischen Patt des Kongresses ohne Anzeichen eines Kompromisses, der zu einem krisenüberschreitenden Mix politischer Maßnahmen zur kurzfristigen Ankurbelung der effektiven Nachfrage und zu langfristigen Strukturreformen sowie Haushaltskonsolidierung führen könnte. In Europa ist es Griechenland – bislang – gelungen, eine parlamentarische Mehrheit zugunsten der Koalitionsregierung aufrecht zu erhalten. Aber nicht nur in den Krisenländern wie Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Zypern, sondern auch in Italien und Frankreich werden die politischen Auseinandersetzungen mehr und mehr durch Blockierungen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis geprägt.

Betrachtet man die EU genauer, drängt sich die Schlussfolgerung auf: In großen Teilen der Europäischen Union dominiert eine Depression. Der Produktionsrückgang in Italien seit Beginn der Krise ist so groß wie in den 1930er Jahren. In Griechenland liegt die Arbeitslosenquote unter den jungen Leuten inzwischen wie in Spanien bei weit über 50%. Die Logik des europäischen Fiskalpaktes zwingt diese Krisenländer in einen Konsolidierungsprozess über rund zwei Jahrzehnte. Angesichts dieser Zerstörung gesellschaftlichen Strukturen ist der Übergang zu einem chaotischen Zerfallsprozess nur eine Frage der Zeit. Aber die Zukunftsperspektiven von Nordamerika und Japan sind gleichermaßen düster: Die Weltwirtschaft steckt in einer durch Konsolidierungspolitik verursachten langen Krise fest.

Die europäischen Führungen wissen, dass die Schuldenlast ohne nachhaltiges Wachstum weiter zunehmen wird und dass Konsolidierung pur eine wachstumsfeindliche Strategie ist. Doch es sind inzwischen mehrere Jahre vergangen, ohne dass eine Verständigung auf eine Wachstumsstrategie absehbar ist. Im Gegenteil, mit dem Fiskalpakt ist eine Abwärtsspirale programmiert. »Seit Januar 2013 ist der Fiskalpakt in Kraft. Seine Anwendung in einer Situation, in der sich die meisten EU-Länder in einer Rezession oder zumindest Stagnation befinden, könnte einen Aufschwung verzögern oder sogar verhindern, und damit auch die mittelfristige Wirtschaftsentwicklung dämpfen. Diese Gefahr ergibt sich nicht aus dem grundsätzlich richtigen Ziel, die Staatsverschuldung einzudämmen, sondern aus dem Weg, auf dem dieses Ziel erreicht werden soll. Dieser Weg wird durch zwei Regeln festgelegt: Jeder Vertragsstaat darf nur noch ein strukturelles (konjunkturbereinigtes) Defizit von maximal 0,5 % des BIP aufweisen (Defizitregel). Jedes Jahr muss die Staatsschuld um ein Zwanzigstel der Differenz zwischen der aktuellen Schuldenquote und dem Zielwert von 60% reduziert werden (Schuldenregel). … Während die Schuldenregel erst drei Jahre, nachdem ein Staat sein Gesamtdefizit unter 3% gebracht hat, zu greifen beginnt, gilt die neue Defizitregel permanent.« (IMK report 80, März 2013)

Die Bauelemente einer Alternative sind bekannt: Notwendig ist ein Mix von Wachstumsanreizen und Sanierungsmaßnahmen für die öffentlichen Finanzen. Außerdem brauchen wir Strategien gegen Europas interne Ungleichgewichte und Deutschlands enormen Leistungsbilanzüberschuss. Konkret bedeutet dies Lohnerhöhungen in Deutschland und eine Industriepolitik, die in den Volkswirtschaften Randeuropas den Export und die Produktivität fördert. Die bisher verfolgte Strategie – die interne Abwertung, d.h. die zwangsweise Absenkung von Löhnen und Preisen, erhöht die Schuldenlast der Haushalte, Unternehmen und Regierungen – ist gescheitert.

Zu Recht hält der US-Ökonom Robert J. Shiller fest: »Wird gespart, verlieren die Menschen ihre Arbeit, weil die von ihnen hergestellten Produkte niemand kauft. Durch Jobverlust sinkt aber die Schuldenlast nicht, sondern steigt an. Dieser Falle kann man entkommen, allerdings nur, wenn wir uns in der Diskussion über die Senkung der Schuldenquote von der Sparpolitik – höhere Steuern und niedrigere Ausgaben – verabschieden und über schuldenfreundliche Konjunkturanreize zu sprechen beginnen: nämlich über weitere Steuererhöhungen bei Anhebung der Staatsausgaben im gleichen Ausmaß. Auf diese Weise sinkt die Schuldenquote, weil der Nenner (die Wirtschaftsleistung) steigt und nicht, weil der Zähler (die gesamten Staatsschulden) kleiner wird. Diese Art des aufgeklärten wirtschaftlichen Anreizes stößt auf starke Vorurteile.«

Es geht mithin um steuerfinanzierte Ausgabenpolitik: Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat einen »Marshall Plan für Europa« vorgeschlagen, bei dem über einen Zeitraum von zehn Jahren jedes Jahr zusätzliche Investitionen in Höhe von 260 Mrd. Euro (ca. 2% des BIP) getätigt würden. Ein Europäischer Zukunftsfonds würde Anleihen emittieren, die von allen teilnehmenden Mitgliedsstaaten garantiert werden. Ein nahmen aus einer Transaktionssteuer würden zur Schuldentilgung verwendet. Das Startkapital für den Fonds käme von einer einmaligen Vermögensabgabe.

Das Kernproblem der hartnäckigen Depression in der EU ist unzureichende gesellschaftliche Nachfrage. Die Unternehmen investieren nicht genug in neue Anlagen oder Ausrüstung und sie schaffen daher zu geringes Lohneinkommen oder überhaupt zu wenig Arbeitsplätze. Man muss daher die Alternative zur Konsolidierungspolitik als politische Entscheidung betrachten, über Investitionen den gesellschaftlichen Konsum und damit die Wirtschaft wieder auf Touren zu bringen. Sie wäre das Gegenteil der Fortführung von Schuldenpolitik.

Es geht um Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse – letztlich selektive Steuererhöhungen in Zeiten wirtschaftlicher Not. Europa braucht in der Tat Strukturreformen, aber eben die, die Verfechter einer Konsolidierungspolitik fordern, sondern Erhöhung der Steuern für höhere Einkommen, Vermögenserträge und angesammelte große Vermögen, mit denen öffentliche Güter und Dienste finanziert werden, die vom privatkapitalistischen Sektor nicht ausreichend bereitgestellt werden (Verbesserung sozialer Sicherheit, Bildung, Gesundheitsvorsorge, öffentliche Infrastrukturen etc.).

Wir sollten also die erneute relative Verselbständigung der Finanzmärkte von dem realwirtschaftlichen Wertschöpfungsprozess zum Ausgangspunkt nehmen, um über eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse eine strukturelle Veränderung des gesellschaftlichen Gesamtreproduktionsprozesses einzuleiten. In zahlreichen Sektoren liegt der Anteil der Unternehmenseinkommen am Volkseinkommen in den USA und vielen anderen Ländern auf dem höchsten Wert seit Jahrzehnten.

Das Einkommen der wirtschaftlichen Eliten und sozialen Oberschichten hat sich schon seit längerem von Gesamtproduktion und Beschäftigungswachstum deutlich entfernt. Die Nachfrage nach Luxusgütern boomt, die nach Waren und Dienstleistungen für Gruppen mit niedrigeren Einkommen sinkt. Mit Ausnahme der unmittelbar von der Krise betroffenen Länder passiert das alles inmitten in einer Zeit extremer geldpolitischer Lockerung und Fast-Nullzinsen. Die Konzentration der Einkommen an der Spitze geht mit billigem Geld und der Jagd nach Renditen einher und treibt damit die Aktienkurse in die Höhe.

Ohne tief greifende sozioökonomische Reformen wird sich das BIP-Wachstum in den kapitalistischen Hauptländern bestenfalls langsam erholen, während die politischen Systeme verriegelt bleiben. Die politische Alternative liegt in der Begrenzung von Reichtum und Macht, in der breiteren Verteilung wirtschaftlicher Gewinne durch starkes Wachstum der Realeinkommen der Armen. Auch wenn trotz steigender Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und dem Wissen um die extreme Konzentration von Reichtum die Unterstützung für ein alternatives Sanierungs- und Wachstumsmodell noch bescheiden ist: Allein die Aufrechterhaltung makroökonomischer Stabilität erfordert solche Maßnahmen.

Werden sie nicht in Angriff genommen, wird der Höhenflug der Vermögenswertpreise über die Realität nicht durch gesellschaftlich nachhaltige Reformen unterbunden, dann dürfte die erneute Verselbständigung der Finanz- und Wertpapiermärkte vom realen Wertschöpfungsprozess weitere Turbulenzen bringen und spätestens ein schockartiger Wertverfall die wirkliche Produktionsbasis sichtbar machen. Verordnete Bankferien sind dann vermutlich noch die geordnetesten Maßnahmen.

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