10. April 2011 Redaktion Sozialismus: Die Linke sollte Habermas Warnruf annehmen
Zäsur in Europa: demoskopiegeleiteter Opportunismus
Wozu wählen gehen? In Griechenland, Irland und in wenigen Wochen in Portugal ist das schwer zu sagen. Denn weder in Athen, noch in Dublin und Lissabon werden irgendwelche maßgeblichen politischen Entscheidungen getroffen. Pikanterweise sind es in all diesen Hauptstädten sozialdemokratische Parteien, die in Regierungsverantwortung (in Irland als Juniorpartner) als Staffage dienen. Und in Spanien, wo Zapatero seinen Rückzug längst vor den nächsten Urnengang bekannt gegeben hat, sieht es nicht anders aus.
Wo Parlamente und aus ihrer Mehrheit gebildete Regierungen – also weder Legislative noch Exekutive – das Haushaltsrecht nicht in Anspruch nehmen können, wird Politik zum Kasperletheater. Wie das nationale Budget aufzustellen ist, obliegt nicht der Entscheidung des demokratischen Souverän und der von ihm gewählten Repräsentanten, sondern wird in vermeintlichen Expertengremien der EU-Kommission und des Internationalen Währungsfonds bestimmt.
Doch selbst das ist nur die halbe Wahrheit. Die Vorentscheidungen werden von jenen Rating-Agenturen – und den maßgeblichen Finanzmarkt-Akteuren, denen sie eine Stimme geben – getroffen, die die politische Mehrheitsklasse unter den Schock der Krisenerfahrung 2008/2009 eigentlich »entmachten« wollte. Wessen Staatsanleihen demnächst auf »Ramschstatus« abgewertet werden, hat sich zügig als Bittsteller beim europäischen Austeritätsregime zu melden. Politik ist längst nicht mehr nur im nationalen Rahmen, sondern in Europa ins Schlepptau der Finanzmärkte geraten.
Gibt es da noch eine Steigerung? Offenkundig. Jürgen Habermas spricht von einer »Zäsur« (»Merkels von Demoskopie geleiteter Opportunismus«, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.4.2011). Er meint damit die Installierung des von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy zunächst als »Wettbewerbspakt«, dann als »Pro-Euro-Pakt«, schließlich als »Euro-Plus-Pakt« titulierten Mechanismus. »Zäsur«, weil damit nicht nur jene von den Rating-Agenturen abgestraften Mitglieder des Euro-Clubs, sondern (bis auf vier) nahezu alle EU-Mitgliedstaaten auf intergouvernemental vorgegebene Kürzungs-, Deregulierungs- und Privatisierungspolitik selbstverpflichtet sind. Der rechtliche Status dieser Konstruktion bleibt wohlweislich im Ungefähren, würde, verpflichtender formuliert, wohl keiner verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalten. Der normativen Macht des Faktischen tut das keinen Abbruch. Das Urteil, dass nationale Parlamente nur mehr in Brüssel und Washington gefasste Beschlüsse absegnen dürfen, »muss« – so Habermas – »jede demokratische Glaubwürdigkeit zerfressen«.
Damit ist der europäische Integrationsprozess am Ende einer mit der Entscheidung über die Währungsunion beschrittenen Sackgasse angelangt. Der Euro hat weder die Vertiefung der realwirtschaftlichen Angleichung noch politische Verständigung jenseits von Erpressung vorangetrieben. In dieser Sackgasse sind keine Integrationsfortschritte zu erwarten, es sei denn, dass die »fehlenden Motivationen ... von unten, aus der Zivilgesellschaft selbst, erzeugt werden«.
Die Zivilgesellschaft ist in Fragen der Zukunft Europas allerdings in wachsendem Maße rechtspopulistisch zerfressen. Nicht in erster Linie von jenen, die im Geisteshorizont eines »geschlossenen rechtsextremen Weltbildes« auch alte Neonazis umwerben. Sondern von jenen »modernisierten« Rechtspopulisten, die sich als die eigentlichen Verteidiger sozialstaatlicher Ordnung verstehen – gegen vermeintliche »Modernisierungsprojekte« wie insbesondere die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis zum 67. oder später mal zum 72. Lebensalter. Die politische Herausforderung besteht darin, dass jene Wahlerfolge in Europa feiern, die sich der sozialen Frage von Rechts stellen: Verteidigung eines Sozialstaates, der nach In- und Ausländern, Unterwerfung oder Verweigerung eines autoritären Arbeitsregimes etc. selektiert. Wenn »Europa« weiter macht wie bisher, wird die Berufung auf eine zivilisatorische Standards verteidigende Zivilgesellschaft schwer fallen.
Jürgen Habermas hat Recht: Die »Wiederentdeckung des Nationalstaates«, »demoskopiegeleiteter Opportunismus« und die Zusammenfügung einer »politisch-medialen Klasse« sind – unter deutsch-französischer Führung – Angriffswellen auf ein fortschrittlich zivilgesellschaftliches und sozial inkludierendes Europa. Habermas hat auch darin Recht, dass die spärliche Besetzung der Verteidigungspositionen eines sozialen Europa einem »Verdruss an politischer Unterforderung« der Befürworter eines »sozialen Europa« geschuldet ist.
Wir meinen: Um das aufzubrechen, braucht es mehr Aufklärung. Nicht nur von Seiten zivilgesellschaftlicher Bewegungen wie Attac, BUND oder Food Watch, sondern jener Interessenvertretungen von sozialer Interessen wie Gewerkschaften, Arbeitslosen- und Sozialverbänden, die im Zentrum des Merkel-Sarkozy-Pakts stehen. Dem geht es allein um die Austarierung eines Wettbewerbsregimes. Ein auf den ersten Blick aussichtsloses Unterfangen: Wenn alle dem deutschen Wettbewerbsregime nacheifern, ergibt sich daraus ein Nullsummenspiel, woran dem deutschen Kapital nicht gelegen sein kann. Doch auf dem zweiten Blick macht das Sinn: Wettbewerbsüberlegenheit Europas gegenüber dem Gros des Weltmarktes. Technisch gesprochen ist dies nichts anderes als die Globalisierung der ursprünglich auf die Konkurrenz zu den USA gerichteten Wettbewerbsposition. Aber auch dieser süffisant als Lissabon-Strategie bezeichnete Weg ist gescheitert.
Die Merkel-Sarkozy-Strategie misst Wettbewerbsfähigkeit u.a. an drei Parametern:
- der Lohnentwicklung, die der Produktivität, aber nicht mehr der Preisentwicklung folgen soll, womit sinkende Reallöhne intendiert sein sollten. Folglich sind Lohnindexierungen (an der Inflation) abzuschaffen und der Verbetrieblichung der Tarifpolitik Vorschub zu leisten.
- der Senkung der sozialstaatlichen Aufgaben insbesondere durch Verlängerung der Lebensarbeitszeit bzw. fortschreitende Privatisierung der Alterssicherung.
- der Privatisierung der Gesundheitsversorgung.
Das Ergebnis sind Prekarisierung und Armut. Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft muss an diesen und an den demokratiepolitischen Eckpunkten erfolgen. Was spricht dagegen, dass die europäische Linke den Warnruf von Jürgen Habermas annimmt?