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1. Oktober 2002 Dieter Bott

Vom Fußball-Gott, der Eisen wachsen lässt

Erinnern Sie sich noch an den Ausnahmezustand? Deutschland im WM-Fieber. Korea im Fußballrausch. Wahnsinn: Kahn-Sinn! Vier Wochen lang, im Juni 2002! Sofort sind besorgte Psychologen auf dem Plan, wenn diese Schlagzeilen hysterisch aufgedrehten Teenagern gelten wie einst der "Beatle-Mania", bei Madonna oder Michael Jackson.

Es geht aber nicht nur um Jugendliche, die ausflippen und die Schule schwänzen. Es geht auch um Erwachsene, überwiegend Männer, die ihre Pflichten vernachlässigen. Es geht um die Boygroups auf dem grünen Rasen. Wer vom weltweit grassierenden Fußball-Wahn und -Fieber unberührt und immun bleibt, scheint nicht richtig zu ticken. Ganz im Gegenteil zum religiösen und politischen Fieberwahn, wo es zur Zivilcourage zählt, wenn man aufgewühlten Emotionen und mitreißenden Ressentiments durch die reflektierende Kraft der Vernunft mißtraut und widersteht. Wer sich am allgemeinen Fußball-Geschwätz nicht beteiligt, hat den Anschluß verloren.

"Als Park in der 70. Minute den Ball volley zum Tor des Tages in die Maschen drosch, erbebte das ganze Land. (NRZ, 15.6.02)" "Wir haben mit diesem Sieg die Menschen in Südkorea unendlich glücklich gemacht", erklärt Guus Hiddink, ihr Trainer aus Holland. "Das ganze Land versank im Freudentaumel" (NRZ) - "Das Ganze ist das Unwahre", sagt Adorno gegen Hegel. Selbst wenn es sich beim ganzen Land nur um die halbe Wahrheit handelt, zeigt die Berichterstattung auch in der seriösen Presse kaum eine Spur von Nachdenklichkeit. Selten findet sich eine kritische Reflexion der medial angedrehten und forcierten Massenhysterie.

Selbstverständlich werden fragwürdige Schiedsrichter-Entscheidungen kritisiert, die nicht nur zum Vorteil von Adidas und Nike das gastgebende Fußball-Entwicklungsland Süd-Korea bis zum Schluss im Turnier belassen. In Zukunft sollen nur noch professionelle Schiedsrichter eingesetzt werden, die ebenso wie ihre aus den Fußball-Mutterländern angeworbenen Trainer-Kollegen die effektivste Taktik und Spielweise mit Erfolg in entwicklungsfähige Regionen exportieren. Wie einst die Missionare mit der Bibel Glücksrittern und Geschäftsleuten den Weg bereiteten, wird heute der profitable Kreuzzug und die kulturelle Expansion von Entwicklungshelfern mit dem Fußball vorbereitet.

GANZ KOREA IM TAUMEL

"Staatspräsident Kim Dae-Jung jetzt FAN Nr.1" (Express, 5.6.02) "GANZ BRASILIEN WEINT VOR GLÜCK" (dpa, FR, 1.7.02) "Eine ungewöhnliche Art des Jubelns fand die Familie von Mittelfeld-Weltstar Rivaldo. Sie feierte den WM-Triumph, indem sie in Recife(Brasilien) Essen unter den Menschen verteilte."

Nicht Armut, Lohn- und Klassenkämpfe sondern "DAS GOLDEN GOAL von Senegal ließ einen ganzen Kontinent erbeben" (BILD, 17.6.) Handelt es sich bei dieser Ganzheits- und Geschlossenheits-Verzückung um das totalitäre Wunschdenken der Werbebranche und Bewusstseins-Industrie? Lassen sich die sozialen Widersprüche tatsächlich mit Sports-Spektakel befrieden und mit "nationaler Selbstberauschung" (Adorno) betäuben? So dass die Abhängigen und Ohnmächtigen statt politisch sich zu organisieren, sich zu einer nationalen Volks- und Fangemeinschaft formieren, die geschlossen hinter ihrer Lands-Mannschaft und den ökonomischen Interessen ihres Führungspersonals steht?

Weil die Exotik fremder Länder und Sitten viele schöne bunte Bilder und Merkwürdigkeiten hergibt, amüsiert sich die "Rheinische Post" über einen Vorschlag, der in Italien längst politische Gestalt angenommen hat. In ihrem Glossarium berichtet sie von "skurrilen Zügen" aus dem Internet im fernen Korea. "Er (der holländische Trainer Hiddink) könnte mit dem Präsidenten des koreanischen Fußball-Verbandes eine Fußballpartei gründen und deren Chef werden. Sogar von einer Ein-Partei-Diktatur unter Hiddinks Führung ist die Rede." (RP, 25.6.02)

Mit "FORZA ITALIA", einem Schlachtruf aus dem Fußball-Stadion, hat der Vereinspräsident vom AC Milan, Berlusconi, seine Partei benannt und durch die Mobilisierung seiner lokalen Fanclubs sich als Regierungschef etabliert. Was für Süd-Korea skurril klingen mag, ist in Italien Realität.

Als der in ein Meinungstief abgerutschte damalige Spitzenkandidat der SPD, Rudolf Scharping, 1995 von Oskar Lafontaine "weggeputscht" wird, reagieren die darüber begeisterten Parteitagsdelegierten mit Fußball-Geschrei und Stadiongebrüll: "Jetzt geht's los! - Jetzt geht's lo-hos!" - "Sieg! Sieg! - Wir fahren nach Berlin!" Dorthin, wo das Pokalendspiel ausgetragen wird und die Regierungsposten verteilt werden.

Kein bekannter Politiker einschließlich Gysi, der sich nicht öffentlich im Medium von Sport und Fußball inszeniert. Kein Parteitag mehr, der sich nicht geschlossen wie eine Fangemeinde hinter seine Führungsriege stellt. Kaum eine Sitzung oder Tagung, wo das Menschenrecht auf Grundversorgung mit Gratis-Fußball nicht schon vorher bedacht und berücksichtigt wird.

Nennen Sie mir bitte einen bekennenden Politiker - vielleicht aus der Kulturfraktion? - der es wagt, öffentlich sein Desinteresse am Sport- und Fußball-Populismus zu äußern! Oder wenigsten einen bekannten Schriftsteller oder eine Schriftstellerin? Außer Elfriede Jelinek ("Sportstück", "Lust"), die eigentlich eine Tapferkeitsmedaille verdient für ihren heldenhaften Kampf gegen den feschen Skifahrer-Faschismus des österreichischen Landes-Hauptmanns Haider, der - wir ahnen es bereits - auch Präsident vom FC Kärnten ist. Ich kenne nur einen, der mit allem anbändelt, nur nicht mit Fußball, und das ist der unvermeidliche Martin Walser. Seine Fußball-Abstinenz kompensiert er mit Tennis-Gucken und einer Jubel-Arie auf Bumm-Bumm Boris Becker, als dieser noch erfolgreich war.

Die gewichtige Kulturfront der 50er und 60er-Jahre mit ihrer elitären Distanz zum geistlosen Sportsbetrieb ist lange schon zusammengebrochen. Trotz der Männerfreundschaft mit dem Boxer Samson Körner und seiner Vorliebe für schnelle Autos lässt Brecht sich nicht als Kronzeuge für den Sport- und Fußball-Hype des gegenwärtigen Kulturbetriebs aufrufen. Wenn Brecht gegen das bürgerliche Theater der 20er-Jahre polemisiert ("Glotzt nicht so romantisch!") und als Zuschauerhaltung sich die des kritisch-räsonierenden Sport-Publikums wünscht, dann ist das ernst gemeint und als Provokation gedacht. Und nicht aus dem Geist des Opportunismus geboren wie die Fußballtümelei des Schauspielers und Regisseurs Leander Haussmann, der während seiner Zeit in Bochum mit Profis des VfL und Spielergebnissen in der Theaterpause die leeren Ränge seiner Abspielstätte füllen wollte.

SIND FUSSBALLER UNSERE WAHREN GÖTTER?

Auch die christlichen Kirchen, eine der letzten Bastionen gegen den Sport- und Körperkult, resignieren, nachdem sie den Kampf um den vom Sportbetrieb freien besinnlichen Sonntag bereits in den 50er und 60er Jahren verloren haben. "Sind Fußballer unsere wahren Götter?", fragt die evangelische Kirche in einer großangelegten Plakat-Kampagne. Und entdeckt: "Wer hinter die Kulissen des Spitzensports blickt, entdeckt Menschen, die wie du und ich sind: mit Stärken und Schwächen, Hoffnungen und Befürchtungen, Erfolgen und Niederlagen, kleinen Eitelkeiten und großen Sehnsüchten und Träumen." Himmel Arsch und Zwirn. Da wünsch ich mir einen zornigen Gott, der diese süßlichen Nichtigkeiten über "die Menschen, die wie Du und ich sind" von ganz oben mit einem Blitz erledigt und den verantwortlichen Werbetexter zur Hölle schickt.

Weiter im Text der christlichen Fußball-Exegese: "Wenn Fußball als Religion zelebriert wird, ist es die Hoffnung auf die Verwandlung unsres Alltags, auf die Sehnsucht nach einem Gott zum Anfassen." Alles wollen sie begrapschen. Es ist nicht zu fassen! "Immer wenn es im Fußball nicht so klappt, muss dann der Fußballgott herhalten. Ich halte das für Blödsinn. Es gibt nur einen Gott und der hat mit Fußball nichts zu tun", wird Oliver Kahn zitiert. Gut pariert, Olli! Es kann nur einen Gott geben, wie es auch nur einen Rudi Völler gibt. Aber selbst der hat mit Fußball-Training nur noch wenig zu tun. Sondern mehr mit Presseterminen, Seelenmassage und Werbestrategien.

Die Stellvertreter Gottes auf Erden, sein irdisches Bodenpersonal allerdings, schmückt sich neuerdings immer häufiger mit der Leder-Pille. Der Kardinal zeigt sich im vollen Ornat für ein Photo im "Kölner Express" auf der Domplatte. Beim Hibbeln und Trippeln mit einem Fußball: So staksig wie Stoiber und so dummdreist bolzend wie Schröder. Um Nachwuchs für ihre Klöster anzuwerben, ziert ein Werbeplakat der Katholiken ein strahlender junger Priester mit einem Fußball unterm Arm. Mein Gott, wir sind doch nicht von vorgestern!

In seiner Ausgabe vom 1.Juni 2002, die samt Fußball-Titelbild der WM in Korea & Japan gewidmet ist, berichtet der "Kriegsruf", die offizielle Zeitschrift der Heilsarmee, die mittlerweile im 112. Jahrgang erscheint, dass "südkoreanische Christen während der WM eine evangelistische Kampagne planen." Die ist in der Bundesrepublik bereits angelaufen. "Im April ist das Buch "Fußball-Gott" erschienen, in dem elf Bundesliga-Profis über ihre Erfahrungen mit Gott und dem christliche Glauben berichten". Mit von der christlich-sportlichen Partie sind die Ballkünstler Marco Bode, Gerald Asamoah, Heiko Herrlich, Paulo Sergio und Ze Roberto. "Das Vorwort hat der Teamchef der deutschen Nationalmannschaft, Rudi Völler, verfasst."

Rudi Völler als Gütesiegel, der die Sache mit dem Glauben beglaubigen muss? Wenig überzeugend klingt auch, wenn "der Friedensbote", ebenfalls ein evangelistisches Presseprodukt, das im 135. Jahr seit 1860 erscheint und beim Bäcker ausliegt, in seiner Juni-Ausgabe mit einem großen Fußball auf der Titelseite verkündet: "Wenn Sie Ihr Leben Jesus Christus anvertrauen und Gottes Angebot der Vergebung der Schuld annehmen, fällt das entscheidende Tor in Ihrem Leben, dann sind Sie auf der Seite des Siegers und Sie dürfen sich fühlen und feiern wie ein Weltmeister."

Mit Jesus auf der Siegerstraße? Und wie die Weltmeister feiern und sich fühlen? Nein danke, "Sein Reich ist nicht von dieser Welt." "Die Letzen werden die Ersten sein"! Das entscheidende Tor, so habe ich es jedenfalls im Konfirmanden-Unterricht gelernt, ist das zum Himmelreich, als Ausgang und Transzendenz zu einer ganz anderen Welt. "Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in den Himmel kommt." Und ausgerechnet bei den Millionären vom grünen Rasen soll der liebe Herrgott eine Ausnahme machen?

UNSERE KIDS JUBELN: ENDLICH HABEN WIR WIEDER IDOLE

Christian Rusch, 13 Jahre alt und Torwart in der D-Jugend, bekennt sich zu seinem Vorbild Oliver Kahn: "Er brüllt zwar viel rum, dennoch: ich finde ihn sehr sympathisch." (BILD, 3.7.02) Noch vor der WM hat "mobil - was uns bewegt", das Gratisheft der Deutschen Bahn AG für Intercity-Reisende, dem "Gladiator und National-Elf-Kapitän" Titel-Bild und -Story gewidmet. "Keiner kämpft wie Oliver Kahn - der Mann, der nicht verlieren kann." (mobil 5/02) Die Hochglanzbroschüre, selber Teil der von ihr bei Kahn konstatierten "Image-Korrektur", ruft erbarmungslos noch einmal alte und hässliche Geschichten über den Gladiator in Erinnerung. Von einer Benefiz-Veranstaltung, wo King Kahn "die Elfmeter von kleinen Buben abwehren sollte. Für jeden Treffer wurde von einem Sponsor ein bestimmter Betrag gespendet. Der blonde Hüne im Tor aber entpuppte sich als absoluter Spaßkiller für die Jungfußballer... Kahn parierte jeden Ball. Er konnte nicht anders."

Der Rasen vor seinem Münchner Haus musste früher aussehen wie das Grün von Wimbledon - "akkurat auf den Millimeter geschnitten - bis ihn ein Bekannter mal darauf ansprach: Hast Du eigentlich einen an der Waffel?" (mobil 5/02). Möglicherweise: Denn Joschka Fischer ist nicht nur seit Jahren der in Deutschland beliebteste, sondern auch der von Oliver Kahn favorisierte Politiker.

Im Lift nach oben fällt Kahns Frau ein Ski-Stock aus der Kabine. "'Um ein Haar wäre ich da hinter her gesprungen', erzählt Oliver Kahn, der diesen Reflex, alles, was sich bewegt, fest zu halten, schon seit dem fünften Lebensjahr trainiert" (mobil 5/02). Mit seinem Vater, der erfolgreich beim Karlsruher SC spielte. "Oliver hat mitbekommen, wie ich als Libero lautstark die Kommandos gab", erzählt Rolf Kahn im "Echo der Frau" (Nr.23, 28.5.02) "Er war extrem fleißig und zeigte großen Willen im Training. Dreimal wöchentlich reichten Kahn junior schon bald nicht mehr aus", erklärt Vater Kahn, "der seinen jüngsten durch viele Trainings-Sondereinheiten immer besser werden ließ."

Die systematische Zurichtung zum reflexartig agierenden Fachidioten, angetrieben von ehrgeizigen Eltern: Ist dies nicht das Wunschbild des begehrten Mitarbeiters für die Volkswirtschaft? Ein Ideal auch für die künftigen Leitwölfe in den Spitzenpositionen? "Dass er viel rumbrüllt", bemängelt sein 13jähriger Fan Christian Rusche. Doch der Titan hat noch weitere Führungsqualitäten: "Kapitän Kahn haut auf den Tisch", frohlockt die Bild-Zeitung am 27.5.02 "ARD-Experte Günther Netzer kritisiert nach dem 0:1 in Wales gnadenlos und hart und zweifelt sogar, das Rudis Elf die Vorrunde übersteht. Glaubt die Nation nicht mehr an ihre Mannschaft? Mit den Miesmachern in der Heimat räumt nun der Kapitän auf." Chefsache sozusagen und eine ordnungs- und sicherheitspolitische Aufgabe für Schily, Kahn und Beckstein: Aufzuräumen mit den Miesmachern und Kritikern an der Heimatfront. Der Kasten und der Strafraum, der Bahnhof und die Innenstadt werden frei gehalten und sauber gemacht.

Am 6. Juni lässt Bild "die wichtigsten Bildungsexperten - DIE SCHÜLER - sprechen: LEHRER MÜSSEN AUCH MAL MIT DER FAUST AUF DEN TISCH HAUEN." Es ist der ewige Traum der Verantwortlichen, dass ihre Schutzbefohlenen selber nach Zucht und Ordnung verlangen.

Vergessen wir Oliver Kahn, das Ideal des deutschen Innenministers, der jeden abschreckt und kaum einen reinlässt, und wenden wir uns dem billigen Vollstrecker zu, der es tatsächlich von Polen nach hierher geschafft hat und jetzt schon bis ganz nach oben gekommen ist. "Erklär mir einer den Wunderstürmer", fragt sich und uns "DIE BUNTE" (Nr. 28/02). "Einen wie ihn dürfte es in der gestylten Welt des Fußballs eigentlich gar nicht geben. Er fährt keinen Traumwagen, wohnt in keiner Villa, trägt keine Designer-Kleidung und hat auch keine flotten Sprüche allzeit parat. Wenn er redet, senkt er schüchtern den Kopf. Und seinen Teamchef, den die ganze Fußballnation Ruuuudi ruft, spricht er höflich mit ‚Herr Völler' an. Und ausgerechnet der ist Deutschlands neuer Fußballgott: Miroslav Klose, 24."

Wenn die deutsche Leitkultur Kloses knechtselige Eigenschaften auch nicht für alle zukünftigen Green-Card-Aspiranten verbindlich machen kann, so sind sie möglicherweise doch bei den saisonalen Aushilfskräften der Spargel-Stecher, Putz- und Bau-Kolonnen aus dem Osten durchzusetzen.

FCK FOREVER/ SPÄTZÜNDER/ALLZWECKWAFFE/KOPFBALL-MONSTER/STAR OHNE MACKEN.

BRAVO-SPORT fasst dieses Porträt von Miroslav Klose wie folgt zusammen: "Ein Stürmer mit Sieger-Gen: Miros Vater Josef war Fußballprofi beim AJ Auxerre, seine Mutter Barbara machte 82 Handball-Länderspiele für Polen. Miro konnte nur polnisch, als er mir sieben Jahren nach Deutschland kam. In der Schule hatte er deshalb große Schwierigkeiten, wurde später von der vierten Klasse in die zweite zurückversetzt. Einziger Trost: Fußballspielen. Miro ist sehr religiös, trägt stets ein Kreuz um den Hals. Auch in seinem Audi hängt ein Christus-Kreuz." (Bravo-Sport, Nr. 15, 4.7.02)

Miroslav Klose behängt sein eigenes Kreuz mit Bleiwesten, um am Pendel seine Kopfballstärke und Sprungkraft zu verbessern. "Sein Trainer legt Sonderschichten ein für den eher schmächtigen Schlesier(!), der wie besessen ist vom Fußball, getrieben von einem inneren Kommando: Kämpfen, immer Kämpfen und niemals den Glauben an sich verlieren." (BUNTE) "Bescheidenheit wie Klose sie lebt, ist eigentlich schon in Vergessenheit geraten. Und seine Erfolgsformel: ‚Ich kann jeden Tag noch etwas lernen', klingt geradezu demütig. Auch eine Eigenschaft, die dem Fußball heute abhanden gekommen ist." Demut und Bescheidenheit sind Wertvorstellungen, die die herrische Rasse zwar sich selber nicht zumutet, aber gerne ihren Arbeitskräften abverlangt. Kloses Clubarzt vom 1.FCK: "Kaum einer ist so leidensfähig wie Miro. Der jammert nicht." Was für ein Vorbild, welch teamfähiger Kollege: freiwillige und unbezahlte Überstunden ohne zu klagen und ohne gewerkschaftlichen Schutz. Und jederzeit lernbereit.

Wann wird die affirmative Jugend- und Gesellschaftstheorie von Wilhelm Heitmeyer und Ulrich Beck endlich ihre blinde These von der Orientierungslosigkeit überprüfen?

Die jungen Leute kommen auf dumme Gedanken, weil angeblich ein Werte-Vakuum existiert? Im Gegenteil. Weil sie Erfolg, Kampf und Sieg verinnerlicht haben wie nur die Topleute aus Wirtschaft und Politik und diese genauso rücksichtslos wie jene praktizieren: Im Rahmen ihrer jugendlichen Möglichkeiten. Und das kann sehr häßlich aussehen, im Gegensatz zu den eleganteren Gemeinheiten des gesellschaftlichen Führungspersonals.

Auch wenn dem empfindsamen Herrn Pfarrer und dem kritischen Soziologen und Pädagogen die gnadenlos entsolidarisierte ICH-AG nicht passt: Kämpfen, Kämpfen, Kämpfen. Bedingungsloser Ehrgeiz, Kohle und Erfolg: daran musst Du glauben, um die Numero Eins zu werden. Der 2. Platz, die Silbermedaille, bringt schon keinen Werbevertrag mehr. Also 120% Leistung! Während der gesamten Spiel- und Arbeitszeit. Jammern gilt nicht. Ich will da rein! Wir sind dabei und stehen voll hinter ihm! Durch Konkurrenz um den Standort wird von der atomisierten "Einsamen Masse" (David Riesman) Geschlossenheit und Identität gefordert und demonstriert: Corporate Identity im Stadion und auf dem Parteitag, im Betrieb und im Verein. Eingeübt und verstärkt werden diese Werte und Haltungen nicht mehr in der Kirche, sondern in der Sport-Arena. Jeder Landesvater und Oberbürgermeister will sich mit einer Superarena ein Denkmal setzen.

Joachim Erwin, ein kalter Technokrat und CDU-Oberbürgermeister von Düsseldorf, trat im Karneval tatsächlich grün verkleidet als "Hub-Rasen" auf und pumpte seine beiden Arme fortwährend nach oben, um zu demonstrieren wie die geplante allermodernste Arena den Rasen sozusagen noch als Dach überm Kopf verwenden kann. Die Arena als Signum unserer Zeit und die begeisterte Menge als ihr Ornament. Mit-machen und mit-laufen, mit-jubeln und mit-regieren, mit-gestalten und mit-bombardieren. Positiv denken!

SPORT TUT DEUTSCHLAND GUT - KINDER STARK MACHEN

Diese Werbekampagne der "Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung -gegen Sucht und Drogen" soll nicht nur dem deutschen Sportbund neue Mitglieder zuführen, sondern auch die Krankenkassen entlasten. Der Sport- und Deutschland-Slogan schmückt als Aufmacher auch das Titelblatt der Mai-Ausgabe des "Gesundheitsmagazins" der Barmer-Ersatzkasse.

"SUPER, MANN! der Coach aus dem Verein" segelt wie Superman mit einem C auf der Kappe und drei Kindern in seinen Armen durch die Lüfte. Unübersehbar wie diese grossen Werbetafeln am Strassenrand ist auch ihre Botschaft. Die Schutzbefohlenen sind bestens aufgehoben unter den Fittichen dieser mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestatteten Führungskraft. Vertrauensvoll mit Superman Raum und Grenzen auszutesten und zu überschreiten: eine Abenteuer- und Erlebnispädagogik, die mit fliegenden Fahnen und weltweit operierenden Einsatztruppen auf den Ernstfall vorbereitet ist.

GEWAGT... GEWONNEN!

"Das gilt nicht nur auf dem Fußballplatz. Wer als Kind gefördert und gefordert wird, ist für die Feuerproben des Alltags besser gerüstet und stark genug, um NEIN zu Drogen, Nikotin und Alkohol zu sagen. Als Trainer oder Betreuer im Fußballverein können Sie mithelfen, Kinder stark zu machen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung(BZgA) unterstützt Sie dabei. KINDER STARK MACHEN - helfen Sie mit!" Eine Sisyphus-Arbeit voller Widersprüche. Weil die Tabak- und Alkohol-Industrie, gegen deren Versuchungen die Kinder stark gemacht werden, mit ihren Steuerleistungen und Sponsoren-Engagements neben den Trost- und Betäubungseffekten ihren systemstabilisierenden Beitrag zum allgemeinen Wohlbefinden leistet.

An solchen, aber nicht nur an diesen Widersprüchen, entzündete sich einst das kritische Bewusstsein und engagierte sich für eine radikale basisdemokratische Alternative zum "Raubtier-Kapitalismus" (Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt), dessen deregulierte Markt-Ökonomie zum größstmöglichen Unglück der größtmöglichen Zahl fortschreitet. Die gegenteiligen Hoffnungen von Adam Smith sind leider widerlegt. Offenheit und Transparenz statt Identität und Geschlossenheit, Kontrolle und Rotation statt Vertrauen und Delegation gehörten zum ideologischen Bestand emanzipatorischer Bildung seit Oskar Negts "Soziologische Phantasie" (1963), die ihre '68er Repräsentanten mit jedem Schritt beim langen Marsch durch die Institutionen bis hin zur Regierungsbeteiligung wieder einkassierten: "Es gibt keine Alternative", sagen Fischer und die Grünen, die ihre Bewegung einst selber nach einer möglichen Alternative nannten, um ihre Kapitulation und Selbstpreisgabe vor der Real-Politik zu legitimieren.

Hausbesetzungen und der Kampf für ein Jugend- oder Stadtteilzentrum erbrachten jede Menge der heutzutage vielgerühmten pädagogischen Grenzerfahrungen und erforderten eine Bewegungslust und Risikofreude, von der die "Abenteuer- und Erlebnispädagogik" nur träumen kann. Gerade wenn sie sich in der freien Natur oder an künstlich angelegten Hindernissen und Kletterwänden den Kick verschafft und Vertrauen und Kameradschaft in abgesicherten Seilschaften einübt.

Wie kümmerlich nimmt sich die STÄRKE-Pädogogik und -Kampagne aus - reduziert auf die Abwehr von Drogen - wenn man sie mit der "Großen Weigerung" von Herbert Marcuse vergleicht. Dem Boykott von Werbung und Konsum-Terror, deren Kritik sich jetzt auf ästhetisierende Erfolgs-Kriterien reduziert, ob die Markenpositionierung und das Design gut, besser oder gar nicht gelungen sind. Dass die Sportvereine und ihre Betreuer selbst von der Schmalspur-Pädagogik der STÄRKE überfordert sind, kann man in der repräsentativen Studie des sportnahen Sozialwissenschaftlers Brettschneider (2001) nachlesen. Der gesuchte Nachweis einer relevanten Sucht- und Drogenresistenz bei den in Sportvereinen organisierten Jugendlichen im Vergleich zu nichtorganisierten konnte peinlicherweise nicht erbracht werden.

Es zeigt sich übrigens schon seit Jahren, wie offen und anschlußfähig die angestrebte und gelobte Tugend der STÄRKE gegenüber dem "unsäglichen Härte-Ideal" (Adorno) ist: der ideologischen Klammer jeder autoritären Herrschaft und Gesellschaft. Schattenparker und Frauenversteher, Weich-Ei, Zicke und Bedenkenträger werden als Memmen und Sensibelchen aus dem Ungeist "robuster Nachhaltigkeit" (Joschka Fischer) verhöhnt und verspottet. Wenn mich nicht alles täuscht, laufen die Beobachtungen über Sprache und Verhalten auf öffentlichen Plätzen und Schulhöfen, in Stadien und öffentlichen Verkehrsmitteln, darauf hinaus, dass sich das Unbehagen in der Zivilgesellschaft und der Frust im Spät- und Turbo-Kapitalismus neben Ausländern und Sozial-Schmarotzern wieder an den klassischen Sündenböcken festmacht: An Juden, Schwulen und kritischen Intellektuellen. Trotz deren formaler Besserstellung und Akzeptanz durch Politik und Medien. Man beachte die Ambivalenz beispielsweise gegenüber Marcel Reich-Ranicki, Paul Spiegel und Michel Friedman.

WIR SIND DABEI. OLYMP-JA! EINE BREITE BEWEGUNG FÜR DIE SPIELE

"Die aktuelle Lage in Deutschland - vielerorts gekennzeichnet durch Pessimismus, eine als Krise der Institutionen bezeichnete strukturelle Verkrustung, mangelnde Reformbereitschaft in Wirtschaft, Politik und anderen gesellschaftlichen Bereichen, sowie die Verschlechterung der finanziellen Rahmenbedingungen - ist nicht unbedingt dazu angetan, zum Griff nach den Sternen zu ermutigen. Doch gerade in einer solchen Situation kann ein großes Ziel die Menschen motivieren, notwendige Änderungen tatsächlich in Angriff zu nehmen."

Aus welchem politischen Lager stammen wohl diese Sätze, die am 16. Mai 2002 als Exklusivbeitrag in der "Frankfurter Neuen Presse" erscheinen? Ganz richtig, es handelt sich um die Sozialdemokratie und bei der Autorin um die ehemalige Frankfurter Sport-Dezernentin, die als Präsidentin der Radsportler auch Mitglied im Nationalen Olympischen Komitee (NOK) ist: die Amtsrichterin und Ex-800-Meter-Läuferin Sylvia Schenk.

"Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1972 in München wurden eine Vielzahl von Einrichtungen ins Leben gerufen, die noch heute eine wichtige Rolle spielen: Von der Stiftung Deutsche Sporthilfe, dem Bundesinstitut für Sportwissenschaften über die Glücksspirale bis zu ‚Jugend trainiert für Olympia' reicht die Palette. Ganz zu Schweigen von den Menschen, die 1972 ehrenamtlich oder beruflich an den Sport gebunden wurden und von denen die Sportorganisati-onen nun seit Jahrzehnten profitieren. So betrachtet ist jeder in Olympia investierte Euro gut angelegt." (Sylvia Schenk in der FNP)

Die Olympia 2012-Gesellschaft der Stadt Frankfurt weist circa sechs Millionen Euro an Steuergeldern als Bewerbungskosten aus, die bis zum Entscheidungstag im April 2003 jeweils auch von den konkurrierenden deutschen Mitbewerbern in Hamburg, Leipzig und Stuttgart investiert werden dürften. Sylvia Schenk: "Über 80% der Befragten unterstützen die Bewerbung." Die erst 2005 vom IOC entschieden wird, wahrscheinlich nicht einmal zu Gunsten von Deutschland als Austragungsort. Angesichts der Konkurrenz von New York, Südafrika u.a. Allerdings schränkt Sylvia Schenk, um den Werbeaufwand zu begründen, gleich ein: "Wenn es ernst wird, das heißt, die Frage nach den Kosten gestellt wird, sinkt die Begeisterung. Nur noch knapp 50 Prozent der Menschen sprechen sich dann für eine Bewerbung aus."

"WIR SIND DABEI! SIE AUCH?"

versichern und fragen einmütig wie Mutter und Tochter auf großflächigen Plakaten der Landesregierung für "Bürgerengagement in Hessen: Gemeinsam aktiv!" Cornelia Hanisch, Olympia-Medaillengewinnerin im Fechten und die 19 Jahre alte Ellen Griesshammer: "Olympische Spiele in Frankfurt, das wäre der Wahnsinn. Da helfe ich gerne mit." - "Freiwillige Helfer (zwei Frauen!) sind der gute Geist aller olympischen Spiele". Den guten Geist und den olympischen Wahnsinn kriegen nicht nur die Frankfurter Kleingarten-Vereine zu spüren, deren Gelände umgewidmet und "enteignet" werden soll. Mit Protestaktionen, die mit der Zusicherung von gleichwertigem Ersatzgelände befriedet werden, verkünden sie kompromißbereit: "OLYMPIA - ja. Verlagerung von Kleingärten - nein!"

In Düsseldorf, der Bewerberstadt für NRW, formiert sich der Protest energischer, weil die dörfliche Idylle in den naturgeschützten Rheinauen und die Ländereien von Bauern sowie das Wohngebiet von etablierten Anwohnern durch die vorgesehenen olympischen Bauten gefährdet sind. Mit einer Traktoren-Demonstration vor dem Rathaus und alternativen Vorschlägen macht dieses potentielle CDU/FDP/GRÜNE-Klientel dem konservativen Bürgermeister erhebliche Schwierigkeiten. Nach ihrem Protest-Besuch beim NOK in Frankfurt wollen sie ihren Widerstand bis zum IOC nach Lausanne weitertragen: "Wir opfern Lörick (das betroffene Gebiet) nicht auf dem Olymp!" - "Hände weg von den Rheinauen!" - "Solltet ihr Athleten schicken, können wir unsere Betriebe knicken!" - "Olympia olé - Bauern adé."

Vom Düsseldorfer Rathaus wird die olympische Fahne gestohlen. Nachdem man zuerst auf überschwängliche Begeisterung getippt hatte - "Das waren Fans" -, wurde eine Diebstahlsanzeige erstattet. Die PDS, die als einzige überregionale Partei die Olympiade-Bewerbung so entschieden ablehnt wie die lokalen Frankfurter "Flughafen-Ausbau-Gegner" (FAG), teilte der Presse mit: "Apropos Diebstahl: das Land kürzt armen Senioren die Ferienfreizeiten, die Düsseldorfer Aids-Hilfe muss Personal entlassen, die Zukunft der Zufluchts-Stätte für misshandelte Mädchen steht auf dem Spiel. Gleichzeitig wirft das Land aber mindestens 22,5 Millionen Euro für die Olympiade-Bewerbung zum Fenster hinaus. Wer beklaut da eigentlich wen?"

Sylvia Schenk hat höhere Ziele und Werte im Sinn, wenn sie die olympischen Bewerbungs-Millionen nicht für reine Geldverschwendung hält: "Derzeit läuft unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eine Kampagne, die mit den Worten ‚Durch Deutschland muss ein Ruck gehen! Worauf warten wir?' dazu auffordert, aktiv zu werden. Aber mit welchem Ziel? Was jetzt noch inhaltsleer auf Plakatwänden und in Zeitungsanzeigen zu überzeugen sucht, bekäme mit Olympia ein Thema, das die ganze Nation hinter sich vereinen und tatsächlich dazu führen kann, Deutschland zu einem neuen Selbstverständnis zu verhelfen. (...) Dabei wären wir gezwungen, uns selbst Rechenschaft über unsere Rolle in der Welt zu geben und die Verantwortung als führende Wirtschaftsmacht anzunehmen" (Sylvia Schenk).

Ich kann mir gut vorstellen, dass es einem alten Sozialdemokraten angesichts der Sprache dieser Neuen Mitte und ihrem neuen deutschen Selbstverständnis dermaßen überkam, dass er sich zum Äußersten gezwungen sah: die Stalinisten von der oppositionellen PDS zu wählen, weil er nirgendwo sonst noch mit 1. Mai- und Oskar-Lafontaine-Rhetorik bedient wird. "Arbeit soll das Land regieren" (PDS). Allzu viele sinds offenkundig nicht gewesen.

FUSSBALLFREI IN ALLEN BETRIEBEN!

Politiker und Gewerkschafter forderten Gleitzeit während der Weltmeisterschaft (BamS, 5.5.02). "Als Fußballfan weiß ich, wie sehr es einen fuchst, wenn man ein schönes Spiel verpasst", sagt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) der Bild am Sonntag. "Unsere Gesellschaft hat ohnehin nicht gerade ein Überangebot an emotionalen Erlebnissen, die viele Menschen unterschiedlichster Stellung zusammenführen."

"Massive Unterstützung kommt von den Gewerkschaften. Die Idee, zur WM flexiblere Arbeitszeiten einzuführen und Fernsehgeräte aufzustellen, ist total spannend", so IG-Metall-Chef Klaus Zwickel. "Das ist eine neue Form von Mitarbeitermotivation am Arbeitsplatz. Ich sage nur: Machen!"

"Auch der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion Wolfgang Gerhardt appelliert an die Unternehmer: ‚Die Fans sollen sich die Spiele anschauen können. Eine Einigung zwischen Betrieben und Mitarbeitern dürfte doch möglich sein. Und wenn dabei der Widerstand gegen flexible Arbeitszeiten fällt, wäre das schon der erste WM-Erfolg Deutschlands.'" (BamS, 5.5.02)

Dieter Bott ist Fan-Soziologe, (Ko-)Autor von "Ball und Birne. Zur Kritik der herrschenden Fußballkultur" (zusammen mit Marvin Chlada und Gerd Dembowski, Hamburg 1998) und "Tatort Stadion. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus im Fußball" (Hrsg. von Gerd Dembowski und Jürgen Scheidle, Köln 2002).

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