25. September 2014 Jörg Wollenberg: Jürgen Kuczynski, Walter Fabian und Brüche im »kollektiven Gedächtnis«

Kriegsschuldfrage von 1914

85 von 111 Mitgliedern der SPD-Fraktion des Deutschen Reichstags Anfang 1914 (Foto: dpa)

Durch die Bücher von Christopher Clark und Herfried Münkler wurde hierzulande die Diskussion um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren auf bloße Diplomatie- und Militärgeschichte heruntergebracht. Dagegen zeichneten die Beiträge in »Sozialismus« von Klaus Wernecke, Heiner Karuscheit, Jörg Berlin und Elmar Altvater ein differenzierteres Bild und reaktualisierten die Tiefenschichten sozial- und strukturgeschichtlicher Ursachenforschung. Darüber hinaus blieb die Rolle der Sozialdemokratie und ihrer politischen Dissidenten in der »Kriegsschuldfrage 1914« unterbelichtet. Mit dem Beitrag von Jörg Wollenberg wird das Bemühen um eine Schärfung unseres historischen Gedächtnisses und gegen geschichtspolitische Deutungsverschiebungen fortgesetzt.

»Kein Sozialist wird jemals Kriegskredite bewilligen. Und ohne Sozialdemokratie kann keine Schlacht geschlagen werden.« Das notierte Theodor Lessing in Erinnerung an seine Jugend, die mit dem Ersten Weltkrieg endete: »Zu groß ist die Macht der Internationale, als dass noch einmal die politischen Machttriebe der völkischen Selbstsüchte sich wechselweise zerfleischen könnten … Die Solidarität der Not, der Armen und Leidenden in allen Ländern, wird sich stärker erweisen als die Erweiterungs- und Beutebegierden der Ämter und des Kapitals … Und nun geschah’s! Die Sozialisten verrieten die Armut, die Mütter die Liebe, die Juden ihre sinnvolle Sendung … An die Tage des August 1914 werde ich bis zum Tode nie anders zurückdenken als an die klarste Offenbarung, die mir je zuteil ward über die schönen menschlichen Wahnideen. Ideal und Krücken. Fortschritt ist nur ein Trug. Geschichte: Lüge«. Für Lessing begann 1914 »die große Stunde der Lüge und der (Ver-)Führer«. Lessing gehörte fortan zu der kleinen Schar »Einsamer und Unzeitgemäßer«, die sich in demselben Augenblick »zusammenschmiedete, wo Europas Menschen – allen voran die führenden Geister – im großen Flammenrausch des Vaterlandes zu Verzückungen politischen Machtwillens entbrannten« (Lessing: Der jüdische Selbsthass, 1930).[1]

Der 1872 in Hannover geborene und Ende August 1933 in Marienbad/ČSR im Auftrag der NS-Führung ermordete jüdische Philosoph und Sozialist Theodor Lessing gehörte als Querdenker der Weimarer Republik mit den assimilierten Juden und Pazifisten Erich Mühsam, Jürgen Kuczynski und Walter Fabian zu den Mitgliedern der Liga für Menschrechte und der Friedensbewegung, die das Recht auf Vaterlandsverteidigung ablehnten. Als linke Internationalisten neigten sie gelegentlich zu ketzerischen Äußerungen und wurden nicht selten zu Renegaten und Dissidenten erklärt, u.a. weil sie die Fehler und das Versagen ihrer Freunde im Lager der deutschen Arbeiterbewegung immer wieder kritisierten und früh die offensichtliche Ahnungslosigkeit auch des linken Flügels hinsichtlich der Kriegsgefahr von 1914 ebenso thematisierten wie deren Unterschätzung der faschistischen Gefahr. »Damals stand zur Wahl: Krieg oder Weltrevolution?«, so Lessing noch einmal in seinem Rückblick von 1921. »Alle versagten, Frauen, Friedensfreunde, Sozialisten, Christen. Dennoch kam der Umsturz. Nur um 4 Jahre und 3 Monate zu spät! Und genau die gleiche Lage wird immer dasein. Immer wird es heißen: Krieg oder Weltrevolution?« (Die verfluchte Kultur, München 1921, Nachdruck München 1981, S. 45)

Zu den Vergessenen und Ausgegrenzten gehören auch die Mitglieder der Liga für Menschenrechte, die schon 1914 verfolgt und nach 1919 ermordet wurden oder, wenn sie nicht rechtzeitig ins Exil gingen, 1933 im Konzentrationslager landeten. Zum Beispiel Erich Mühsam (1878-1934), der als »Anarchist, Antimilitarist, Feind der nationalen Phrase, als Antipatriot und hassender Kritiker der Rüstungsfurie« (so seine Selbstcharakterisierung im Tagebuch vom 4. August 1914) zeitlebens ausgegrenzte Schriftsteller. Er plädierte mit Heinrich Mann im Dezember 1914 für die Gründung eines »Internationalen Kulturbund gegen den Krieg«.

Ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Weltanschauungen und Parteien sollten sich alle zusammenfinden, die »den Krieg unter allen Umständen als kultur- und menschenunwürdig ansehen. Anarchistische und sozialdemokratische Antimilitaristen müssten sich also – natürlich bei voller Wahrung ihrer verschiedenen Ansichten – überwinden, sich mit bürgerlichen Pazifisten und selbst Klerikalen zu verbünden. Ganz besonders müsste bei Frauen-Organisationen geworben werden, da bei den Frauen aller Schichten naturgemäß der gefühlsmäßig tiefste Abscheu gegen die Scheußlichkeit des Kriegs vorausgesetzt werden kann.« So Erich Mühsam in einem Brief an Karl Liebknecht am 5. Dezember 1914, verbunden mit dem Glückwunsch »zu Ihrer mannhaften Demonstration im Reichstag, die mich und außer mir viele, die sich nicht aussprechen mögen, mit lebhafter Freude und Sympathie erfüllt«. Der engagierte Kriegsgegner und Verteidiger der Münchner Räterepublik von 1919 beteiligte sich an allen »Kampfkomitees« gegen den aufkommenden Nationalsozialismus, der ihn früh als »meistgehassten Roten« verfolgte, ihn noch in der Nacht des Reichstagsbrandes (28.2.1933) verhaftete und schließlich am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS ermorden ließ.


Walter Fabian (1902-1992)

Am Tag nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten (1925) verletzte ein anderer Pazifist aus den Reihen der Jungsozialisten ein weiteres nationales Tabu: Der 23-jährige Walter Fabian veröffentlichte im Auftrag der Deutschen Liga für Menschenrechte und der Deutschen Friedensgesellschaft ein Buch zur Kriegsschuldfrage und zu dem vom »Kriegsschuldreferat« des Auswärtigen Amtes stilisierten »Schandparagraphen«, dem Artikel 231 des Versailler Vertrags. Er verstieß damit gegen die zentrale Lebenslüge der Weimarer Republik.

Im Vorwort zur Neuauflage des »am Tage nach der Wahl Hindenburgs zum Präsidenten der Republik« (1925) veröffentlichten Buches über die »Kriegsschuldfrage« formulierte Walter Fabian die Maxime, die den unermüdlichen Aufklärer immer wieder antrieb: Konflikten nicht ausweichen, sondern an der Seite der Unterdrückten und Schwachen kämpfen. Die handlungsleitende Einsicht Fabians war, dass die Ächtung der Vorkämpfer des Friedens in der »herrschenden Meinung« der Bildungsschichten strukturelle gesellschaftliche Gründe hatte und eine Wiederholung der Katastrophe von 1914 ohne Gesellschaftsveränderung kaum zu verhindern war.

Schon in seiner ersten größeren selbstständigen wissenschaftlichen Arbeit über den pazifistischen Professor Friedrich Wilhelm Foerster (1924) dokumentierte er, dass die imperiale Kriegspolitik ihren Ursprung in einem gesellschaftlichen Amalgam aus Monopolkapital, Großgrundbesitz und Militär hatte. Gegen die in Deutschland vorherrschende Unschuldsthese wies er akribisch nach, dass vor allem Deutschland treibende Kraft beim Ausbruch des Völkermordens von 1914 gewesen war. Die Aufklärung darüber wurde ihm zu einem zentralen Anliegen. So sah Fabian sich veranlasst, Wahrheiten öffentlich auszusprechen, die allzu gerne verdrängt wurden. Erwähnt sei hierzu das von ihm und Kurt Lenz 1922 herausgegebene Handbuch »Die Friedensbewegung« (Nachdruck 1985 im Bund-Verlag/Köln). Und Fritz Fischer schreibt im Nachwort zur Neuauflage der ihm bis dahin unbekannten »Kriegsschuldfrage« von Fabian: »Dass ein junger, historisch gebildeter und politisch engagierter Publizist eine so fundierte und kritisch überlegte Darstellung der Kriegsschuldfrage schreiben konnte, verdient auch von der Sicht des 60 Jahre später Lebenden und Lesenden eine hohe Anerkennung. Was wäre Deutschland erspart geblieben, hätten damals seine Einsichten ein größeres Echo gefunden. Es ist nicht geschehen. Auch nach der zweiten Katastrophe Deutschlands ist diese Arbeit noch zu leisten, hat doch gerade die gedanklich selbstverantwortliche Nichtbewältigung der ersten die zweite möglich gemacht.«[2]

Ebenfalls 1925 legte der jüdische Staatsrechtler Hermann Kantorowicz (1877-1940) sein »Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914« vor – im Auftrag des parlamentarischen Untersuchungsausschusses für die Schuldfragen des Ersten Weltkrieges verfasst. Es durfte unter Druck des Auswärtigen Amtes nicht veröffentlicht werden. Kantorowicz, 1929 Nachfolger des Reichsjustizministers Gustav Radbruch auf dem Lehrstuhl für Strafrecht in Kiel, war den schlimmsten Anfeindungen ausgesetzt. Im Juni 1967 hielt dazu der zum Bundespräsidenten gewählte Sozialdemokrat und Kriegsgegner Gustav Heinemann im Geleitwort zur Erstveröffentlichung des Gutachtens fest: »Kantorowicz hatte es gewagt, das damals im Deutschen Reich fast Undenkbare zu denken, schriftlich zu fixieren und gegen eine demokratisch verfasste Obrigkeit zu verfechten. Er ist daran zerbrochen und anschließend in die Fremde getrieben worden.« Das schrieb Heinemann zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland eine neue Kriegsschulddebatte im Gange war: Fritz Fischers Arbeit zur historischen Verantwortung der deutschen Reichsregierung für die Entfesselung des Ersten Weltkrieges hatte den ersten großen Historikerstreit nach 1945 in der BRD ausgelöst. Eine ernsthafte Kontroverse, die zunächst noch George W.F. Hallgartens jahrzehntelang verdrängte Forschungen im US-Exil ausklammerte, die erstmals 1963 in der BRD veröffentlicht wurden und die Christopher Clark in seinem Bestseller ebenso wenig beachtet wie die Gutachten von Kantorowicz, Martin Hobohm, Wilhelm Dittmann oder Walter Fabian.[3]

Sie alle thematisieren mit Hellmut von Gerlach »Die große Zeit der Lüge« zwischen 1871 und 1921 und entlarven die »Verteidigungslüge«. Einer der Einflussreichsten von ihnen war der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Dittmann (1874-1954). Er stimmte 1915 erstmals gegen die Kriegskredite und wurde einer der führenden Gründer der USPD. Wegen der Beteiligung am Berliner Munitionsarbeiterstreik verurteilte ein Kriegsgericht den gelernten Tischler im Januar 1918 zu fünf Jahren Festungshaft. Amnestiert im Oktober 1918 gehörte Dittmann im November/Dezember 1918 zum Rat der Volksbeauftragten, der ersten Reichsregierung nach der Novemberrevolution. 1922 kehrte er zur SPD zurück und blieb von 1922 bis 1933 geschäftsführender Vorsitzender der SPD-Reichstagsfraktion und Sekretär des Parteivorstands der SPD. Am 22. und 23. Januar 1926 hielt Dittmann eine sechsstündige Rede vor dem von ihm geleiteten parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Reichstages zur Dolchstoß-Legende. Mit dieser die Geschichte fälschenden Zwecklüge hatten Rechtsparteien und nationalistische Gruppen behauptet, dass das deutsche Heer im Felde nicht militärisch besiegt, sondern von »hinten erdolcht« worden sei – durch die Anhänger der Novemberrevolution von 1918. Dittmann hatte die amtlichen Geheimakten von 47 Schiffsprozessen, 13 Aktenbände des Reichsmarineamtes und 14 des Reichsgerichtes gründlich durchgearbeitet, um zur Aufklärung über das Gewalt- und Willkürregiment in der Reichsflotte während des Krieges beizutragen. Seine dazu zeitgleich vorgelegte Broschüre über die »Marine-Justiz-Morde von 1917 und die Admirals-Rebellion von 1918« sicherte die weitreichende Publizität in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit ab. Dazu von den Rechten mit Mordanschlägen bedroht, sah sich Dittmann nach der »Machterschleichung der Nationalsozialisten« (Anna Siemsen) gezwungen, im Februar 1933 als verfolgter »Novemberverbrecher« in die Schweiz zu fliehen. Lange wartete der prominente linke Sozialdemokrat auf einen Rückruf aus den Reihen seiner Partei nach 1945, die ihn 1951 mit einem Posten im Parteiarchiv abspeiste und sich verweigerte, seine umfangreichen Erinnerungen zu veröffentlichen. Allzu deutlich hatte er dort den Anpassungskurs der SPD-Führung von 1933 ebenso kritisiert wie den von 1914, als sie sich mit den Gewerkschaften auf einen »Burgfrieden« mit den politisch-militärischen und wirtschaftlichen Eliten einließ. Der Glaube an den »Verteidigungs«-Charakter der deutschen Kriegsführung und die Erwartung, eine kriegsloyale Sozialdemokratie werde nun endlich allgemeine gesellschaftliche Anerkennung finden, führten zu dieser Fehleinschätzung von 1914, die die Spaltung der Partei zur Folge hatte. Und so konnte Kaiser Wilhelm II. verkünden, er kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. »Bruder Hitler« (Thomas Mann) sollte diese fiktiven seelischen Verbindungen von Volk und Führer im völkischen Staat, in »Hitlers Volksstaat« (Götz Aly), noch einmal überhöhen.


Jürgen Kuczynski: 1957 und die Folgen

Dass auch die DDR nach 1945 einen Historikerstreit zum Ausbruch des 1. Weltkrieges erlebte – und das noch vor der westdeutschen Fischer-Kontroverse – blieb allzu lange unbemerkt und wurde in der DDR bald verdrängt, obwohl ein international renommierter Wissenschaftler und Antifaschist den Anlass dazu gab: Jürgen Kuczynski (1904-1997) überlebte diesen »Historikerstreit made in DDR« von 1957/58 in einer Gratwanderung zwischen Ungnade und Widerruf als »hoffnungsloser Optimist und linientreuer Dissident«.[4]

Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen und Niederlagen der deutschen Arbeiterbewegung sah sich Jürgen Kuczynski in seinem nicht nur von Fritz Fischer und Christopher Clark ignorierten Buch von 1957 über den »Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie« (Akademie-Verlag Berlin) veranlasst, das »Versagen der Marxisten-Leninisten« zu thematisieren, denen es nicht gelang, die »ungeheure Kompliziertheit der Einschätzung mancher Kriege dieses Jahrhunderts« zu durchschauen und eine »einheitliche Einschätzung des Charakters« beider Weltkriege vorzulegen (S. VII). Mit dieser Studie löste der international renommierte und mehrfach für den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften nominierte Gelehrte eine heftige, schnell unterdrückte Kontroverse aus, die das Ende des politischen Tauwetters nach dem 20. Parteitag der KPDSU in der DDR einläutete. Der kurz zuvor zum Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR ernannte Querdenker hatte im Gefolge des Tauwetters der beginnenden Entstalinisierung kritische Thesen zu den Fehlern der Linken vor dem 1. Weltkrieg vorgelegt und wurde deshalb des »Revisionismus« bezichtigt und mit Partei­strafen überzogen. Der Akademie-Verlag stellte die Auslieferung des Buches des Nationalpreisträgers vorläufig ein. Kuczynski wurde unterstellt, er hätte mit seinen Ausführungen fälschlicherweise die verräterische Politik der SPD-Parteiführung mit der undurchsichtigen Geheimpolitik der Reichsregierung erklärt. In den ersten Nummern des Jahrgangs 1958 der zentralen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften der DDR (ZfG) erschienen sieben Artikel gegen ihn, u.a. von Josef Schleifstein, Werner Berthold und Günter Benser. Und Alfred Meusels »kritische Betrachtungen zu dem Buch von J. Kuczynski« endeten mit dem Appell, es dem international hoch geschätzten Gelehrten der DDR bei aller Kritik zu ermöglichen, »seine großen Fähigkeiten für die Weiterbildung der marxistischen Geschichtswissenschaft, für die Sicherung des Friedens, für den Ausbau des Sozialismus und für die friedliche und demokratische Wiedervereinigung unserer geliebten Heimat einzusetzen«.[5] Soweit der Vorsitzende des Autorenkollektivs »Lehrbuch der deutschen Geschichte« zu einem Historikerstreit in der DDR. Sein renommierter Schüler Fritz Klein geht als Leiter von Projekten des Zentralinstituts für Geschichte im Band 9 des Lehrbuches (Deutschland 1897/98-1917) mit keinem Wort auf das Buch und den Konflikt um den kurzfristig kaltgestellten, aber unbeugsamen Jürgen Kuczynski ein.[6]

Worum ging es in diesem Historikerstreit in der frühen DDR? Kuczynski weist anhand von Akten und Presseberichten nach, dass auch die Linke um Rosa Luxemburg in der noch geeinten SPD die Kriegsgefahr falsch einschätzte und es im August 1914 versäumt hatte, die »Notwendigkeit einer Trennung und der Gründung einer echten, gereinigten, marxistischen Partei« zu erkennen (S. 166). »Welch Verrat, welch Betrug der Massen der Werktätigen durch die Reformisten und Opportunisten! – so mögen Menschen heute urteilen, die an das schändliche Bündnis zwischen rechten Führern von Arbeiterparteien und Gewerkschaften mit der herrschenden Klasse denken, das Ende Juli und Anfang August 1914 offiziell abgeschlossen wurde und bis heute dauert. Aber sie haben Unrecht. Noch ist die Gelegenheit zum Verrat nicht gegeben. Noch handelt es sich um etwas anderes. Noch handelt es sich um die raffinierte Geheimpolitik der Vorbereitung des Krieges, der alle zum Opfer fielen, die für den Fortschritt kämpften.« (S. 31) Als Beleg für die Fehleinschätzung in den Reihen des linken Flügels der europäischen Arbeiterbewegung zitiert Kuczynski u.a. den Börsenbericht, der am 23. Juli 1914 in der »Sozialdemokratischen Korrespondenz«, dem Organ der Linken, erschien. Noch am Tag, an dem das einer Kriegserklärung gleichkommende Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien überreicht wurde, veröffentlichte dort Julian Marchlewski, ein »großer Revolutionär, der keinen Verrat im August übte«, einen Bericht, der so begann: »Die Börse hat es schon wieder einmal mit der Kriegsangst. Ein eigentümliches Ding das: der Bourgeois von heute gibt sich kriegerischer als eine Rothaut aus den Indianerromanen.« Und Marchlewski endet am 23. Juli 1914 mit dem Statement: »Von ernsthafter Kriegsgefahr ist augenblicklich sicher nicht die Rede.« (Zitiert bei Kuc­zynski, S. 32)

Der Glaube an die Friedensbereitschaft der deutschen Regierung im Juli 1914, so Kuczynski, sei allgemein in der deutschen Sozialdemokratie verbreitet gewesen. Selbst Rosa Luxemburg konstatierte noch am 28. Juli 1914 in der »Sozialdemokratischen Korrespondenz«: »Fragt man freilich, ob die deutsche Regierung kriegsbereit sei, so kann die Frage mit gutem Grund verneint werden.« (Nr. 85, S. 1) Erst nach dem 4. August 1914 setzte mit der Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten die Opposition in den Hochburgen der Arbeiterbewegung ein. Und dieser Kritik begegneten die deutschnational eingestellten Sozialdemokraten in den Führungsetagen um Friedrich Ebert und Wilhelm Keil mit chauvinistischer Empörung. Aus Klassenführern wurden Klassenfeinde. »Der Verrat am Sozialismus, begangen durch die Mehrheit der Führer der II Internationale (1889-1914)«, so Lenin Anfang September 1914, führte zum Verlust der Glaubwürdigkeit und zur Spaltung der Arbeiterbewegung.


Bremer Linke (1905-1919)

Der verengte Blick von Kuczynski allein auf die Parteiführung, auf die »Eiterbeule des Opportunismus« in der SPD (S. 147ff.), hat zur Folge, dass er die Oppositionsgruppen gegen die Linie des Parteivorstandes in den traditionellen linken Arbeiterhochburgen nur am Rande behandelt und unterschätzt. In Bremen hatte z.B. nicht erst bei Kriegsausbruch, sondern lange vor 1914 der linke Flügel im SPD-Ortsverein die Mehrheit. Im Juni 1913 spaltete sich der linke Mehrheitsflügel im Gefolge der Werftarbeiterstreiks in Bremen und Hamburg in der Gewerkschaftsfrage. Der Streik führte zum Bremer Aufstand gegen die »Gewerkschaftsbürokratie« und zum Kampf gegen die Kriegsrüstung.[7] Im Gegensatz zu dem von Kuczynski häufig zitierten »Vorwärts«, dem Zentralorgan des SPD-Parteivorstands, berichtete die »Bremer Bürgerzeitung« in den letzten Tagen des Juli 1914 immer wieder von der Gefahr eines europäischen Bürgerkrieges. Zahlreiche Kundgebungen gegen den drohenden Krieg fanden in der Juli-Krise von 1914 in Bremen statt, allein sieben überfüllte Versammlungen mit den Bremer Linken als Redner des Ortsvereins (vgl. BBZ 29.7.1914). Und es ist kein Zufall, dass Alfred Henke, der Bremer Reichstagsabgeordnete und Chefredakteur der BBZ, einer von den 14 SPD-Abgeordneten war, der gegen die Kriegskredite stimmte und zu den Gründern der USPD gehörte. Einen komplett anderen Weg beschritten die Bremer Linken um Johann Knief und Paul Frölich. Sie verstanden sich als der linke Flügel der »Radikalen« in der alten Sozialdemokratie. Sie gingen nicht zur USPD, sondern nahmen als Bremer Diskussionszirkel mit einer eigenen Wochenschrift für den wissenschaftlichen Sozialismus »Arbeiterpolitik« im November 1916 Kurs auf eine neue Partei, die sich zunächst Internationale Sozialisten (ISD) nannte und sich ab Mitte Dezember 1918 als »Internationale Kommunisten Deutschlands« (IKD) konstituierte. Mit der Spartakusgruppe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht lehnte die rund 500 Mitglieder umfassende Gruppe der Bremer Linken das Recht auf »Vaterlandsverteidigung« in einem Krieg ab, der – in Anlehnung an Lenins Imperialismustheorie und an Rosa Luxemburgs Theorie und Geschichte der Akkumulation des Kapitals – aus ihrer Sicht ein aus den spezifisch imperialistischen Widersprüchen erwachsener Konflikt war.

Die Bremer Linken entwickelten früh eine auf praktische Wirkung fokussierte Politik, die sich neben dem Goethebund-Streit (1905), der Protestbewegung gegen die Entlassung von vier sozialdemokratischen Lehrern aus dem Schuldienst (1906) und der Vertreibung Friedrich Eberts aus Bremen mit der anschließenden Wahl von Wilhelm Pieck zum Parteisekretär und von Anton Pannekoek zum hauptamtlichen Lehrer der Partei, vor allem aber in der Unterstützung der Streiks von 1913 und den Straßendemonstrationen gegen den Krieg im August 1914 niederschlug. Der antikapitalistischen »Ermattungsstrategie« von Karl Kautsky stellte Anton Pannekoek in einer Artikelserie für »Die Neue Zeit« und die BBZ das Konzept des politischen Massenstreiks entgegen.[8] Spätestens der Krieg, so hoffte er, werde – gestützt auf die Stimmung der Bremer Werftarbeiter – für die Masse der Bremer Arbeiterschaft das Signal zur revolutionären Erhebung sein.[9]

Aber sie verweigerten aus prinzipiellen Gründen jegliches organisatorische Zusammengehen mit der zentristischen USPD. In der Bürokratie der alten Arbeiterorganisationen, vor allem in den Gewerkschaften, erkannten sie den Kern des Opportunismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Mit den Anarchosyndikalisten teilten sie die Überzeugung von der totalen Diskreditierung der Gewerkschaftsbürokratie im Ersten Weltkrieg. Deshalb plädierten sie ab August 1917 bis März 1920 als linkskommunistisches Sammelbecken der Opposition (ISD/IKD) in der Ende 1918 mit ihrer Unterstützung in Berlin gegründeten KPD (Spartakus) für eine neue »gewerkschaftlich-politische Einheitsorganisation«, genauer für die notwendige Synthese des politischen und wirtschaftlichen Kampfes in den »Einheitsorganisationen«. Auf dem Gründungsparteitag der KPD in Berlin scheiterten sie mit dem von Felix Schmidt eingebrachten Antrag, die Einheitsorganisation durchzusetzen, am Widerspruch von Rosa Luxemburg.[10] Dagegen gelang ihnen in der Frage der Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung ein Erfolg über Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Mit 62 gegen 23 Stimmen siegten die »Rühlianer« (Otto Rühle) mit den Bremer Arbeitern. Sie plädierten für die Nichtbeteiligung. Dazu schrieb Rosa Luxemburg an Clara Zetkin am 11. Januar 1919: »Vergiss nicht, dass die Spartakisten zu einem großen Teil eine frische Generation sind, frei von den verblödenden Traditionen der ›alten bewährten‹ Partei – und das muss mit Licht- und Schattenseiten genommen werden. Wir haben alle einstimmig beschlossen, den Casus nicht zur Kabinettsfrage zu machen und nicht tragisch zu nehmen.«[11]

Nach 1945 versuchten die weit über Bremen hinaus einflussreichen Sozialisten und Gewerkschafter zusammen mit den auf einen Rückruf aus dem Exil wartenden Genossen vergeblich, an die unabhängige und marxistisch geprägte Tradition der Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten anzuknüpfen. Als bald nach 1945 an den »Karl-Marx-Schulen der Partei« (Otto Brenner) wieder national gesinnte Nicht-Marxisten unterrichteten, schrieb der von der SAP zur SPD zurückgekehrte Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner, Ende 1947 einen Brief an die alten jüdischen SAP-Freunde in den USA (Erna und Joseph Lang), überall würde er in Hannover die »marxistische Richtung in der Defensive« sehen. In der Sozialdemokratie würden auf dem kulturpolitischen Sektor die religiösen Sozialisten (Adolf Grimme, Carlo Schmid u.a.) dominieren. Und die zunächst eng mit dem Brenner-Kreis kooperierenden ethischen Sozialisten (um Willi Eichler und Alfred Kubel), die »ISK-Freunde (Internationaler Sozialistischer Kampfbund), mit denen wir in vieler Beziehung einen Weg gehen können und deren charakterliche Haltung bisher jeder Kritik standhielt, halten jetzt den Zeitpunkt für gekommen, durch die Besetzung vieler Schlüsselpositionen in der Partei die Führung zu übernehmen«.[12]

Aber selbst bei diesen Anhängern von Leonard Nelson, die sich durch einen aktiven Widerstand gegen das NS-System ausgezeichnet hatten, wirkte der »nationale Sozialismus« nach, der das Bündnis mit dem deutschen Patrioten Kurt Schumacher in der SPD nach 1945 erleichterte. Was war von einer solchen Haltung zu erwarten, die Götz Alys These von der Wirksamkeit des nationalen Sozialismus in der SPD bis heute zu belegen scheint?[13] Aus der Sicht des international denkenden Sozialisten Brenner ist diese Auffassung mit zurückzuführen auf die unzulängliche Analyse der »Situation von vor 1933 und der faschistischen Epoche nach 1933 …, um zu den richtigen Schlussfolgerungen für die Zielsetzung der Arbeiterbewegung zu kommen«.
Für den Theodor Lessing-Schüler und Rosa Luxemburg-Verehrer Otto Brenner hieß das auch, den Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus als Ungeist in den eigenen Reihen zu thematisieren, der es schon Gustav Noske erlaubte, Rosa Luxemburg als eine »ostjüdische Marxistin« zu diffamieren und ermorden zu helfen,[14] einen Ungeist, der nicht zuletzt den Nationalsozialisten in die Hände spielte und ihnen half, ihren Kampf gegen die »jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung« zu exekutierten – mit verhängnisvollen Folgen auch nach 1945.


Peter Weiss: »Europa ist ein einziger Friedhof von betrogenen, verratenen und gemordeten Hoffnungen« (Notizbücher, 1971)

So sah z.B. Erich Weniger, 1929 vom preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker zum ersten Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschulen in Kiel und Altona ernannt, keine Schwierigkeiten darin, nach 1945 an seine militärpädagogischen Schriften aus der Nazi-Zeit anzuknüpfen und sie für die Wiederaufrüstung dienstbar zu machen. Im Gegenteil: Die zu einer »Oase der freien Menschen« hochstilisierte Wehrmacht erlaubte ihm nach 1945, an seinen »militärpädagogischen Schlüsselbegriffen: Manneszucht, Kameradschaft, Führertum und Gefolgschaft« aus der NS-Zeit festzuhalten. Auch nach 1945 blieb es für Weniger verpflichtend, der »Zerstörung der Volkssubstanz« entgegenzuwirken, auf die »echten und gesunden Kräfte des deutschen Volkes« zu setzen und eine Kampagne gegen die Reeducation zu starten. Was den einflussreichen Erziehungswissenschaftler und Historiker Erich Weniger gemeinsam mit den vielen deutsch-nationalen Intellektuellen verband, war die Erinnerung an den August 1914 und den Geist von Langemarck. Noch in seinen Reden als erster Direktor an der Pädagogischen Hochschule Göttingen versuchte Weniger 1946/47, die Erinnerung daran wachzuhalten. In seinen Vorschlägen »zur Neugestaltung des Geschichtsunterrichts« verklärte er die »Ideen von 1914« zu einem »echten Symbol für eine deutsche Möglichkeit zur Vollendung«: »Eine Möglichkeit, endlich einmal die Einheit des Volkes einschließlich der Arbeiterschaft in Gefühl und Handeln zu gewinnen.«[15] 1945 bedeutete deshalb für Weniger keine Zäsur. Diese ungebrochene Kontinuität in seinem Denken wurzelt in den »deutschen Ideen von 1914«, dem »Augusterlebnis« als Erfindung der Volksgemeinschaft, dem so viele deutsche Intellektuelle folgten. Auch Eduard Spranger erlag 1914 mit den der SPD nahestehenden Professoren Ernst Troeltsch und Gustav Radbruch sowie den Literatur-Nobelpreisträgern Rudolf Eucken und Thomas Mann dem »Genius des Krieges« (Max Scheler), dem »Flammenrausch des Vaterlandes« (Theodor Lessing).

Meist vergessen wird dabei, dass auch führende Repräsentanten der SPD und der Gewerkschaften diesen »Ideen von 1914« erlagen und den Burgfrieden mit stützten. So verneigte sich der Vorsitzende des Deutscher Metallarbeiter-Verbands (DMV), Alexander Schlicke, bei der Eröffnung der ersten Generalversammlung im Oktober 1919 nicht nur vor den über 26.000 Mitgliedern, die im Krieg getötet worden waren, sondern er fügte hinzu: Die Kollegen seien in den Kampf gezogen und für ihre Überzeugung gefallen, »das Heiligste, was sie besitzen, ihr Heim, ihre Familie, ihre Kultur zu schützen«. Schlicke wurde anschließend abgewählt – wie viele der Vorstandsmitglieder und Bevollmächtigten der Verwaltungsstellen, die den Burgfrieden mit getragen hatten. Die Opposition um die »Revolutionären Obleute« des Metallarbeiter-Verbandes setzte sich durch und wählte Robert Dißmann auf der Generalversammlung zum neuen Vorsitzenden. Er war Schlicke mit folgender Erwiderung entgegengetreten: »Kollege Schlicke sagte, sie fielen für ihre Überzeugung. Nein, sie fielen nicht für ihre Überzeugung … Ein großer Teil jener Männer hatte bei dem Tod auf dem Schlachtfeld den Fluch auf den Lippen, den Fluch ob der Verbrecher, weil sie schon erkannt hatten, dass sie hinausgeschickt waren, nicht um Heimat, Frau und Kind zu verteidigen, sondern den Geldschrank, und dass sie geopfert wurden im Interesse der besitzenden Klasse« (aus dem Protokoll der 14. Generalversammlung des DMV, 13.-23.10.1919 in Stuttgart).

Bleibt noch anzumerken, dass große Teile des DMV-Vorstandes erneut 1933 einer fatalen Fehleinschätzung unterlagen und den bis zur Selbstpreisgabe gehenden Anpassungskurs der ADGB-Führung um Theodor Leipart gegenüber der NS-Führung mit trugen, ohne dass die Organisation daraus nach 1945 personelle Konsequenzen zog. Im Gegenteil: die ins Exil sich rettenden oder die KZ-Haft überlebenden linken Oppositionellen aus der Weimarer Republik warteten in der Regel lange vergeblich auf einen Rückruf aus der Organisation.

»Europa ist ein einziger Friedhof von betrogenen, verratenen und gemordeten Hoffnungen. Von der Strangulierung des Spanischen Bürgerkriegs, der Preisgabe der Widerstandsbewegung nach dem 2. Weltkrieg, der Verschacherung der westlichen Kommunistischen Parteien durch den Marshallplan, bis zur Aufteilung in die Großmachtblöcke Ost und West, wölbt der Dunghaufen Europa seine Fäulnis immer höher, stinkend zum Himmel.«[16]

Dieses Resümee zog Peter Weiss am 31. März 1971 zu einem Zeitpunkt, als die Politik des »Wandels durch Annäherung« zum Sturz von Walter Ulbricht führte, Willy Brandt zum Friedensnobelpreisträger ernannt wurde und Pablo Neruda den Literatur-Nobelpreis erhielt. Der in Bremen und Berlin aufgewachsene und im schwedischen Exil überlebende Schriftsteller Peter Weiss (1916-1982) sah sich damals erneut einer Lebensentscheidung ausgesetzt: Sollte der Weg des deutschen Emigranten, der nach dem Selbstbekenntnis »Nirgendwo zuhause war« und es dennoch zu Weltruhm brachte – nach der geringschätzig ironischen Herablassung in der BRD und den politischen Angriffen in der DDR, besonders im Gefolge der vernichtenden Kritik an seinem Trotzki-Stück von 1970 und den Vorarbeiten zum ersten Band der Ästhetik des Widerstands –, noch einmal in ein politisches Abseits führen, aus dem Weiss erst mit seinen literarischen Experimenten aufgebrochen war? »Dass der Emigrant + Jude sich jetzt wieder – und immer noch – damit befasst, während die anderen, die das alles entfacht haben, seelenruhig leben und gut schlafen«, hatte Peter Weiss im März 1964 nach einem Besuch des Frankfurter Auschwitz-Prozesses und kurz vor der Premiere seines Marat–Stückes in Berlin in seinen Notizbüchern festgehalten.[17] Sollte er zurückkehren zu jenem »Dritten Standpunkt«, den er mit dem Prosatext Meine Ortschaft (Auschwitz) – »für die ich bestimmt war und der ich entkam« – verlassen hatte?[18] In Auschwitz holte ihn der perennierende Schuldkomplex des assimilierten Juden ein. Die Begegnung mit dem musealen Auschwitz im Jahre 1964 konfrontierte ihn mit der Schwierigkeit, das Vergangene zu vergegenwärtigen: »Ein Überlebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah.« Über ein Jahrzehnt angestrengter Arbeit lag hinter dem Versuch, »das aufzuzeichnen, was ich früher nicht sah ... Ich lebte in unmittelbarer Nähe derer, die im illegalen Kampf standen[19] ... In diesen Jahren bahnte sich in Stockholm an, was sich jetzt in der Situation der beiden deutschen Staaten zeigt[20] … Da die Gegenwart immer noch Nachwirkungen enthält von den Auseinandersetzungen in den Vorkriegsjahren, den ersten Kriegsjahren, will ich etwas in Erfahrung bringen über die Bemühungen um eine einheitliche Strategie, um ein Zusammengehen der Arbeiterparteien, über die entstandenen Streitpunkte und den schließlichen Bruch, der zur scharfen Abgrenzung und zur Errichtung zweier entgegengesetzter Gesellschaftssysteme auf dem Boden des geschlagenen Deutschland führte.«[21]

Die Erinnerungsarbeit in den Notizbüchern von Weiss ist für Sozial- und Kulturwissenschaftler eine unentbehrliche, bislang zu wenig genutzte Quelle, eine Stoffsammlung und ein Rechenschaftsbericht über Begegnungen mit Kunstwerken, Figuren und Orten, die historisch belegbar sind; ein Weißbuch der Kämpfe im Spiegel von Gesprächen mit den Beteiligten, von unveröffentlichten Briefen, Tagebüchern und Dokumenten – auch und besonders zu den jüdischen Intellektuellen und Schriftstellern, deren Reintegration in die Bundesrepublik nicht gelang und die auch von der westdeutschen Arbeiterbewegung vergessen wurden. Alfred Döblin hat diesen heute eher verdrängten Tatbestand in einem Satz zusammengefasst: »Als ich wiederkam, da kam ich nicht wieder.« Oder mit Hermann Kesten formuliert, der im Mai 1949 nach 16 Jahren Exil das erste Mal deutschen Boden wieder betrat und sich in seiner Heimatstadt Nürnberg fragte: »Gibt es ein Wiedersehen oder eine Heimkehr?«[22] Einige Westemigranten wie Jürgen Kuczynski, Stephan Hermlin, Bert Brecht, Hans Mayer, Ernst Bloch, Stefan Heym oder Franz Dahlem nahmen dagegen das Angebot an, in der SBZ/DDR einen Neuanfang zu wagen. Viele von ihnen erlebten trotz hoher Anerkennung auch Enttäuschungen, Einschränkungen, Parteiausschlüsse und Kaltstellungen. Nicht alle blieben »linientreue Dissidenten« wie Jürgen Kuczynski oder Walter Markov, sondern gingen wie Hans Mayer und Ernst Bloch später in den Westen. Andere wie Walter und Ruth Fabian oder Walter Grab verweigerten sich lange, überhaupt nach Deutschland zurückzukehren, weil sich auf den Bajonetten der Siegermächte nach 1945 keine Demokratie aufbauen ließe.

Jörg Wollenberg, Jg. 1937, seit den 1960er Jahren Lehr- und Leitungstätigkeit an Volkshochschulen, Gewerkschaftsschulen und NS-Gedenkstätten. Von 1978 bis zum Ruhestand 2002 Professor für Weiterbildung an der Universität Bremen, Mitglied der IG Metall und der GEW. Der Beitrag greift auf Texte zurück, die im Rahmen einer von ihm angeregten Bremer Veranstaltungsreihe zu »1914 – Die große Stunde der Lüge und (Ver-)Führer« vorgetragen wurden, und ist den (Wahl-)Bremern Axel Troost zum 60. und Gerhard Engel zum 80. Geburtstag gewidmet.

[1] Vgl. Theodor Lessing: Ausgewählte Schriften, Bd.2: »Wir machen nicht mit!« Schriften gegen den Nationalismus und zur Judenfrage, hrsg. von Jörg Wollenberg mit Beiträgen und Zeichnungen von Walter Grab und Alfred Hrdlicka, Bremen 1997.
[2] Walter Fabian: Die Kriegsschuldfrage. Grundsätzliches und Tatsächliches zu ihrer Lösung, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1925 mit einem Nachwort von Fritz Fischer, Bremen 1985, S. 135.
[3] Hermann Kantorowicz: Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914, Frankfurt a.M. 1967; Martin Hobohm: Untersuchungsausschuss und Dolchstoßlegende. Eine Flucht in die Öffentlichkeit, Verlag der Weltbühne Berlin 1926; Georges W.F. Hallgarten: Das Wettrüsten. Seine Geschichte bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M 1967; derselbe: Imperialismus vor 1914. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem ersten Weltkrieg, 2 Bde., München 1963. Unberücksichtigt blieben auch die Bücher von Autoren wie Konrad Haenisch (SPD) über »Die deutsche Sozialdemokratie in und nach dem Weltkriege« von 1917 oder von Paul Frölich (KPD/KPO) über »Zehn Jahre Krieg und Bürgerkrieg« von 1924.
[4] So seine Selbstbeschreibung, vgl. u.a. Jürgen Kuczynski: »Ein linientreuer Dissident«. Memoiren 1945-1989, Berlin 1994, S. 101-117; derselbe: Frost nach dem Tauwetter. Mein Historikerstreit, Berlin 1993, S.90-113.
[5] Vgl. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, VI. Jg. 1958, Heft 5, S. 1049-1068.
[6] Vgl. Fritz Klein: Drinnen und draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, Frankfurt a.M 2001.
[7] Vgl. hierzu und zur Bremer Linken u.a. Peter Kuckuk: Syndikalisten und Kommunistische Arbeiterpartei in Bremen in der Anfangsphase der Weimarer Republik, in: Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit, Nr. 14, 1996, S. 15-66; Gerhard Engel: Johann Knief – ein unvollendetes Leben, Berlin 2011; Erhard Lukas: Die Sozialdemokratie in Bremen während des Ersten Weltkrieges, Bremen 1969; Karl-Ernst Moring: Die SPD in Bremen 1890-1914, Hannover 1968; Hansgeorg Conert: Reformismus und Radikalismus in der bremischen Sozialdemokratie vor 1914. Die Herausbildung der »Bremer Linken« zwischen 1904 und 1914, Bremen 1985; Peter Kuckuk: Bremen in der Deutschen Revolution 1918/1919. Revolution. Räterepublik. Restauration, Bremen 1986; Jens Becker: Heinrich Brandler. Eine politische Biographie, Hamburg 2001; Hans Manfred Bock: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923, Darmstadt 1993; Doris Kachulle (Hrsg.): Die Pöhlands im Krieg, Neuausgabe, Köln 2006.
[8] Anton Pannekoek: Massenaktion und Revolution, in: Die Neue Zeit, 1912, Bd. 2, 30. Jg., S. 541ff., 585ff., 609ff.;vgl. auch Bremer Bürger-Zeitung vom 3.4., 9.5., 2.8., 27.8., 2.9.1913.
[9] So auf einer Mitgliederversammlung am 26.11.1911 (BBZ, 22. und 27.9.1911); vgl. Moring, 1968, S.163.
[10] Vgl. Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 485ff.
[11] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 5, Berlin 1984, S. 426f.
[12] Lehrstücke der Solidarität. Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945-1949, hrsg. von Helga Grebing, Stuttgart 1983, S. 154-156.
[13] Alys Thesen in »Hitlers Volksstaat, Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus«, Frankfurt a.M. 1995, sind zurecht umstritten, vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 3, 2005, S. 29-97.
[14] Vgl. Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987; Rainer Buntenschön/Eckart Spoo (Hrsg.): Wozu muss einer der Bluthund sein? Der Mehrheitssozialdemokrat Gustav Noske und der deutsche Militarismus des 20. Jahrhunderts, Heilbronn 1997.
[15] Geschichte ohne Mythos, in: Die Sammlung, 3. Jg., 1. Heft, 1948, S. 37.
[16] Peter Weiss: Notizbücher 1960-1971, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1982, S. 851.
[17] Peter Weiss: Notizbücher 1960-1971, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1982, S. 228.
[18] Vgl. Peter Weiss: Meine Ortschaft, in: ders.: Rapporte, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1968, S. 113-124.
[19] Unter anderem Willy Brandt, Herbert Wehner, Fritz Bauer, Fritz Tarnow, Peter Blachstein, August Enderle, Fritz Fricke, Max Hodann, Wolfgang Steinitz, Max Seydewitz, Herbert Warnke, Karl Mewes, Erich Glückauf, Walter A. Berendsohn, Rosalinde von Ossietzky.
[20] Gemeint ist das Scheitern des Freien Deutschen Kulturbundes in Stockholm als letztes großes Volksfront-Bündnis im Februar 1945 nach der Konferenz von Jalta, die die deutsche Teilung in drei, später vier Besatzungszonen festlegte und die Mitglieder des Bundes zur Entscheidung zwang, mit welcher der Siegermächte sie glaubten, ein neues sozialistisches Deutschland aufbauen zu können; vgl. u.a. Jan Peters: Exilland Schweden. Deutsche und schwedische Antifaschisten 1933-1945, Berlin 1984; Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933, München 1974; Sven Radowitz: Schweden und das »Dritte Reich« 1933-1945, Hamburg 2005, S. 542ff.
[21] Peter Weiss: Notizbücher 1971-1980, Band 1, Frankfurt/M 1981,
S. 50f.
[22] Alfred Döblin: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. 1978, S. 431. Hermann Kestens Nürnberger Erinnerung an die Rückkehr nach Nürnberg im Oktober 1949 ist nachgedruckt in Jörg Wollenberg (Hrsg.): Von der Hoffnung aller Deutschen. Wie die BRD entstand, Köln 1991, S. 152-171. Zu Kuczynski und Anna Seghers: derselbe, S. 44-66.

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