1. Januar 2010 Redaktion Sozialismus

2010: Chancen und Widersprüche eines Politikwechsels

Seit 2002 erforscht ein Team um Wilhelm Heitmeyer die Entwicklungen von menschenfeindlichen Vorurteilen in Deutschland, die "Deutschen Zustände".[1]

2009 lag ein Hauptaugenmerk auf der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise und ihren Folgen im Hinblick auf die Ausprägung von Ressentiments und die Verfestigung von sozialen, kulturellen oder nationalen Vorurteilen. "'Die' Krise, so gern sie 2009 diskutiert wurde und wird, gibt es eigentlich nicht – statt dessen allerdings eine ganze Folge von Krisen: Der Finanzkrise, die nur wenige konkret betrifft, folgten eine weitreichendere Wirtschafts- und Fiskalkrise, die dann der Einzelne spürt – und die kann sich im äußersten Fall bis zur Gesellschaftskrise – bis zum Infragestellen des aktuellen gesellschaftlichen Systems ausweiten." Diese Entwicklung – so Heitmeyer – löst in großen Teilen der Bevölkerung Ängste aus. So fürchten 92%, es würde in Zukunft mehr soziale Abstiege geben, und 94% der Bevölkerung erwarten mehr Armut.

Auch wenn viele sich persönlich noch nicht betroffen fühlen, erleben sie die Krise als Bedrohung. Dies zerstöre zunehmend gesellschaftliche Kernnormen wie Solidarität, Gerechtigkeit und Fairness. So erwarten 75% der Befragten, dass die Bedrohung des Lebensstandards die Solidarität mit den Schwachen verringert. 59% sehen in Krisenzeiten weniger Chancen auf Gerechtigkeit, und 62% meinen, in Krisenzeiten könne man nicht mit Fairness durch andere rechnen. Damit steigt das Desintegrationsrisiko – und wer sich gesellschaftlich nicht integriert fühlt, so zeigten die Studien der vergangenen Jahre, neigt eher dazu, schwache Gruppen abzuwerten.

Zur Desintegration gehört die Tendenz, sich aus der demokratischen Willensbildung zurückzuziehen. Seit Anfang der 1990er Jahre ist der Begriff der "Parteienverdrossenheit" aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Der Anteil derer, die sich in Umfragen als von allen Parteien enttäuscht bezeichnen, ist seitdem starken Schwankungen unterworfen, stieg aber von Werten um die 30% in den 1980er Jahren auf bis zu 65% im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts an. Gleichzeitig nahm die zuvor schon schwankende Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen in der Tendenz stark ab. Auch bei Bundestagswahlen ging die Wahlbeteiligung zurück, allerdings langsamer. Da liegt es nahe, diese Entwicklung als Folge der "Parteienverdrossenheit" zu interpretieren. Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl im September 2009 war mit 70,8% so gering wie noch nie; vor vier Jahren waren noch 77,7% der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen.

Doch die Vorstellung, Wahlenthaltung sei gleichbedeutend mit Protest gegen die Parteien und das politische System, verstellt den Blick auf die eigentlichen Strukturen des Phänomens. Natürlich gibt es BürgerInnen, die den Parteien mit ihrer Wahlenthaltung ganz bewusst einen Denkzettel verpassen wollen, doch dabei handelt es sich um eine kleine Minderheit. Die meisten NichtwählerInnen – häufig junge Leute – interessieren sich nur wenig für Politik, haben vergleichsweise geringe politische Kenntnisse und schreiben der Wahlbeteiligung keinen größeren Stellenwert zu. Diese Befunde müssen vor allem einer Partei zu denken geben, die bei ihrer Neugründung für einen umfassenden, radikalen Politikwechsel eingetreten war, der nicht nur die überlieferten ökonomischen und sozialen Herrschaftsverhältnisse infrage stellen sollte, sondern eine Revitalisierung der Demokratie von unten, eine Erneuerung des Parteientypus und des politischen Systems zum Ziel hatte. Hierbei sollten vor allem jene gesellschaftlich stärker zum Zuge kommen, die von der konservativen und neusozialdemokratischen Strategie des Umbaus des Wohlfahrtsstaates in einen zunehmend autoritären Wettbewerbsstaat sozial ausgegrenzt, marginalisiert und stigmatisiert worden sind. Denn die Neukonturierung der Klassengesellschaft hat zur Verstärkung einer fatalistischen Grundstimmung in den von Armut und starker sozialer Unsicherheit heimgesuchten Schichten geführt. "Dieser Statusfatalismus ist ein Eckgestein der derzeitigen Bewusstseinslage der unteren Sozialschichten... Die Mehrheit der unteren 20% hält die sozialen Schichten für zementiert".[2]

Unbestreitbar ist allerdings, dass die neue politische Kraft der LINKEN wenige Wochen nach ihrem Erfolg bei der Bundestagswahl erheblich hinter den selbstgesteckten Ansprüchen zurückgefallen ist. Die brandenburgische Linksfraktion wurde von ihrer Vergangenheit derart massiv eingeholt, dass der Start der rot-roten Landesregierung – die im Saarland und in Thüringen im einen Fall von den Grünen, im anderen Fall von der SPD torpediert worden war – selbst von ihren Repräsentanten als misslungen bezeichnet wird. Statt Aufbruch nach vorne ist von einer "Krise der moralischen und der politischen Integrität" die Rede.

Zu Recht verstärkt der Großteil der Medien angesichts dieser Konstellation die Haltung kritischer Distanz. Die Argumentation lautet in etwa zusammengefasst: Vier Jahre nach dem fulminanten Bundestagswahlkampf von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi und zwei Jahre nach dem Zusammenschluss der westdeutschen Protestpartei WASG mit der PDS zeigt sich, wie brüchig das Bündnis ist. Während die Stasi-Affären in Potsdam deutlich machen, wie mangelhaft die Geschichte der Partei im Osten aufgearbeitet worden ist, ist das Misstrauen vieler West-GenossInnen, die vom Mitregieren sowieso nichts halten, gegenüber den inhaltlichen Verabredungen mit der SPD wieder angewachsen. Die Neubearbeitung des politischen Feldes zwischen Sozialdemokratie und Linker droht in einer Mischung aus Vorbehalten, berechtigter Kritik und Gezänk zu unterbleiben. Dabei gäbe es Ansatzpunkte. Die Linkspartei hat das politische Vakuum, das die SPD in den unteren Gesellschaftsschichten hinterlassen hat, zumindest teilweise ausfüllen können. Seit Anfang 2007 hat die Partei mehr als 4.000 Mitglieder gewonnen. Ihr Organisationsgrad ist mittlerweile höher als der der Freidemokraten und der Grünen. Während der Linkssozialismus in anderen europäischen Ländern welkt, hat er sich in Deutschland einen Platz im politischen System erobern können. Für die linkssozialistische Partei, die sich in ihren Mitgliedersegmenten auf eine Kombination von prekarisierten Unterschichten, gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen und kritischen BildungsarbeiterInnen stützt, kann die wechselseitige Akzeptanz von Milieus und differenzierter gesellschaftlicher Sozialisation eine herausragende Chance für eine Politik der zielorientierten Gesellschaftsveränderung sein.

Der Göttinger Parteienforscher Franz Walter hat diese Seite gut zusammengefasst. "Die Linkspartei unterscheidet sich markant von früheren Linksabspaltungen und linkssozialistischen Parteibildungen in der Geschichte. Weit mehr als hundert Jahre entsprang der Linkssozialismus den Frustrationen radikalisierter Jugendlicher und extremistischer junger Erwachsener. Gegen einen solchen juvenilen Linkssozialismus, der die martialischen Gebärden der Straßendemonstration, der aggressiv skandierenden Sprechchöre, mitunter gar des Barrikadenkampfes liebte, der eifernd vom Umsturz, von der Zerschlagung und von revolutionärem Aufbruch in blutroten Metaphern schwadronierte, gegen einen solch furchterregenden Zerstörungssozialismus waren der konservative Widerstand und die bürgerliche wie sozialdemokratische Gegenreaktion stets plausibel und erfolgreich zu mobilisieren. Aber so ist die Linke in Deutschland nicht mehr. Die neue Linke ist alt. Ihre Repräsentanten wirken nicht wie virile und kühne Kämpfer, bei denen man argwöhnt, dass sie demnächst mit Pflastersteinen und roten Fahnen das Kanzleramt oder die Deutsche Bank stürmen. Die parlamentarischen Vertreter der Linken sind wie ihre Wähler größtenteils um die 50 Jahre und älter. Das Haar ist grau und schütter, die Gesichter wirken eher melancholisch statt fanatisch."[3]

Etwa 75% der Deutschen vertreten die Auffassung, dass die Linkspartei die Probleme beim Namen nenne; die Hälfte aller BundesbürgerInnen stimmt mit ihren politischen Positionen überein; und fast zwei Drittel der Befragten halten die Partei für eine demokratische Partei wie alle anderen Bundestagsparteien auch. Inhaltliche und mentale Übereinstimmungen gibt es dabei nicht nur zwischen SympathisantInnen der Sozialdemokratie und der LINKEN.

Gleichwohl: Die Linke in Deutschland hat auch das Potenzial, sich als Faktor der politischen Willensbildung erheblich zu diskreditieren. Auf der einen Seite sind große Teile der Bevölkerung und damit der Partei existenziell nach wie vor an Korrekturen der zusammengestrichenen Leistungsgesetze des Sozialstaates und der Verteilungsverhältnisse interessiert: Es geht um mehr Kaufkraft durch Mindestlöhne und die Erhöhung der Arbeitseinkommen sowie der Sozialtransfers für die Ausgegrenzten und die AltersrentnerInnen. Es geht um einen Ausbau der sozialen Sicherheit in den Bereichen Bildung und Kultur. Und es geht um den Übergang zu einer sozial-ökologisch verträglichen Arbeits- und Lebensweise. Auf der anderen Seite wächst durch die Probleme im Bereich Klima, Energie und Umwelt sowie die Anforderungen der wissensbasierten Ökonomien mit ihrer Produktivität das Bewusstsein darum, dass es mit einzelnen Korrekturen nicht getan ist.

Angesichts dieser Widerspruchskonstellation besteht die Gefahr, entweder im alltäglichen Verbesserungsimpetus stecken zu bleiben oder unkritisch auf überholte Sozialismusvorstellungen des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen. In der politischen Alltagspraxis wie in dem komplizierten Unterfangen einer Programmdebatte kann nicht ausgeschlossen werden, dass mögliche Konsense zerredet werden und eben keine Verständigung auf weitergehende Zielsetzungen erfolgt.

Um die Notwendigkeit und den Zeitplan der Programmdebatte hat es im Vorstand der Linkspartei Auseinandersetzungen gegeben, auch weil Parteichef Oskar Lafontaine die Diskussion nicht für dringlich hielt. Bundesgeschäftsführer Bartsch meint zudem, mit den programmatischen Eckpunkten, auf die sich PDS und WASG bei ihrem Zusammenschluss 2007 verständigt hatten, habe die Linke bereits "ein Programm". Nunmehr ist verabredet, dass im Februar oder März 2010 ein erster Entwurf zur Programmdiskussion "an der Basis" vorliegen soll. Nach einem Zwischenbericht auf dem Parteitag im Mai 2010 in Rostock sind im Herbst Regionalkonferenzen geplant, möglichst gemeinsam organisiert von ost- und westdeutschen Landesverbänden. Ende 2010 soll es einen Programmkonvent geben, Anfang 2011 einen zweiten Entwurf. Die endgültige Verabschiedung ist für Oktober/November 2011 vorgesehen. Für den jetzigen Zeitplan soll eine Rolle gespielt haben, dass 2011 in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern Landtagswahlen stattfinden. "Nach Wahlerfolgen können wir in etwas größerer Gelassenheit beraten."

Die gegenwärtigen Korrekturforderungen – Mindestlohn, armutsfeste Altersrenten, Abschaffung des jetzigen Systems der Sozialunterstützung (Hartz IV) und Beendigung der Auslandseinsätze der Bundeswehr – müssen in eine umfassende Strategie zu einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung eingebunden werden. DIE LINKE entgeht der Verengung auf tagespolitisches Klein-Klein, wenn sie ihre Politik auf einen grundlegenden Richtungswechsel ausrichtet. Der politische Horizont ist mithin eine umfassende gesellschaftliche Regulierung und Umgestaltung des gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfungs- und Verwertungsprozesses. Die dazu erforderliche Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse wird von einer breiten zivilgesellschaftlichen Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus angeschoben werden müssen.

[1] Bislang sind acht Folgen erschienen (Suhrkamp, Frankfurt a.M.).
[2] Renate Köcher (Institut für Demoskopie Allensbach): Der Statusfatalismus der Unterschicht, in: FAZ vom 16.12.2009, S. 5.
[3] Die neue Linke ist alt, FAZ, 7.11.2008.

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