1. Oktober 2000 Sybille Stamm

4 + 1 = 5?

Je näher der Zeitpunkt des ver.di-Gewerkschaftstages im März 2001 rückt, umso konkreter wird die Struktur der neuen Organisation sichtbar und umso größer werden auch Ängste in den Reihen der betroffenen fünf Gewerkschaften vor Verlust ihrer Kultur und Organisationstraditionen. Das ist völlig normal bei einem Fusionsprozess. Wer einen solchen Prozess erlebt hat, z.B. die Fusion aus fünf Gewerkschaften zur IG Medien vor zehn Jahren, der weiß, wie schmerzlich und schwierig der Prozess des Zusammenwachsens ist.

Bevor ver.di gegründet werden kann, müssen die fünf beteiligten Einzelgewerkschaften Auflösungsbeschlüsse ihrer Organisationen fassen. Das Quorum liegt bei der ÖTV bei 80% der Delegierten und bis heute ist unsicher, ob diese Hürde übersprungen wird. Seit fast zwei Jahren wird über die Gründung einer großen politik- und handlungsfähigen Dienstleistungsgewerkschaft diskutiert und an Strukturen gearbeitet. Alle betroffenen Gewerkschaften sind mehrheitlich von ihrem inneren Selbstverständnis her auf die neue Organisation eingestellt. Die DAG z.B. hat vor nunmehr fünf Jahren den Beschluss gefasst, dem DGB beizutreten; entsprechend groß ist das Bedürfnis von Mitgliedern und FunktionärInnen, diesen Prozess nun auch in Angriff zu nehmen.

Ohne Zweifel wäre ein Scheitern von ver.di Indiz für die Reformunfähigkeit der fünf betroffenen Gewerkschaften und darüber hinaus eine Schwächung für die gesamte Gewerkschaftsbewegung. Andererseits sind außerordentlich interessante neue Strukturen für die Organisation erarbeitet worden, die es lohnt, in der Praxis auszuprobieren.

IG Medien, HBV, DPG und DAG standen im Juli / August vor der Frage, wie sie verfahren sollen, wenn eine der beteiligten Gewerkschaften – in diesem Fall würde es sich wahrscheinlich um die ÖTV handeln – den Schritt der Selbstauflösung nicht schafft. Sollen dann alle Bemühungen zu Ende sein oder gibt es ein anderes Modell der »zwei Geschwindigkeiten«, das ermöglicht, mit vier Gewerkschaften zu beginnen und gemeinsam darauf hinzuarbeiten, dass es der fünften Gewerkschaft möglich wird, zu einem späteren Zeitpunkt in den Verbund einzusteigen.

Dieses 4+1-Modell hat durch die Gewerkschaftstage der IG Medien und HBV und in den höchsten Entscheidungsgremien der DPG und DAG grünes Licht bekommen. Allerdings ist auch klar, dass längerfristig eine Gewerkschaft, die in der Lage ist, auf die großen Herausforderungen und neuen Strukturen insbesondere im Dienstleistungsbereich souverän zu reagieren, ohne die ÖTV nicht denkbar ist. Die Hauptbedenken in der ÖTV gegen das neue Organisationsmodell, das nunmehr in Form eines Satzungsentwurfs vorliegt, beziehen sich auf zwei Punkte:
Einmal auf die Anzahl der Bezirke der ver.di-Gesamtorganisation (hier will die ÖTV möglichst viele, die HBV möglichst wenige Bezirke) und auf die Matrixorganisation, ein weder in Deutschland noch weltweit bis dato praktiziertes Organisationsmodell, das eine mehrstufige regionale und fachlich-branchenbezogene Repräsentation ermöglichen soll. Diese stark dezentralisierte Gliederung soll ein »ausgewogenes Verhältnis« zwischen der Gesamtorganisation und ihren Untergliederungen schaffen bzw. eine demokratische Organisation der Willensbildungsprozesse »von unten nach oben« garantieren.

»Vielfalt ohne Einheit ist Chaos. Einheit ohne Vielfalt ist Diktatur.« (Pascal) Dazwischen muss ver.di liegen. Unbestritten existiert die Gefahr, dass eine so große Gewerkschaft mit 3 Mio. Mitgliedern zu einer »top-down«-Veranstaltung wird, Minderheitsinteressen untergehen und eine demokratische Willensbildung verunmöglicht wird. Die Ausgangsfrage bei der Erarbeitung einer neuen Organisationsstruktur lautete also: Wie schaffen wir eine Struktur, die die Vielfalt unserer verschiedenen Organisationen garantiert und gleichzeitig eine starke neue Einheit bildet. Das Ergebnis ist die Matrixstruktur.

Man muss sich das so vorstellen:
3 Mio. Mitglieder werden nach sachlichen Gesichtspunkten in 13 Fachbereiche aufgegliedert. So geben die Gewerkschaften ÖTV, DPG, HBV und DAG einen Teil ihrer Mitglieder in den Fachbereich 1 Finanzdienstleistungen. Im Ergebnis dieser neuen Aufteilung in der vertikalen Organisationsstruktur vermischen sich Geschichte, Kulturen und eingespielte Organisationsstrukturen der einzelnen Gewerkschaften. Es besteht die Notwendigkeit, Neues zu schaffen. Und das ist gut so.

Gemeinsame Handlungsfähigkeit aller Mitglieder soll auf den Ebenen von ver.di – Bezirke, Landesbezirke, Bundesebene – erreicht werden. Die Ebenen bilden die politische und organisatorische Klammer um die Fachbereiche. Die Fachbereiche sind teilautonom, sie sollen finanziell und personell ausgestattet werden und ihre Tarifpolitik eigenständig gestalten. Dieses ureigene und politisch vielleicht wichtigste Handlungsfeld der Gewerkschaften ist vorrangig ein branchenbezogenes – schon deshalb ergibt sich die Notwendigkeit der Delegation der Tarifhoheit in die Fachbereiche. Allerdings sollen dem Hauptvorstand von ver.di wichtige Entscheidungen über Streik vorbehalten bleiben. Ver.di darf keinesfalls – da sind sich wirklich alle einig – eine Organisation von 13 Fachbereichsgewerkschaften werden. Weder sollen die Ebenen der Gesamtorganisation noch die Fachbereiche politisches Übergewicht erlangen.

Der Organisationssoziologe Prof. Bernd Keller von der Universität Konstanz plädiert aufgrund seiner Studien und Kenntnisse über Gewerkschaftsfusionen massiv für die Matrixorganisation. »Eine demokratische Organisation der Willensbildung ist bei stark ausgebildeten Fachbereichen eher und besser zu gewährleisten. Minderheitenschutz, der als legitimes Anliegen in den Strukturvorgaben der Satzung zu verankern ist, kann nur durch die Stärkung der Fachbereiche wirksam garantiert werden.« Er weist nachdrücklich darauf hin, dass »Dezentralisierung« in den Untergliederungen der neuen föderalen Gewerkschaft ganz unterschiedliche Bedeutung haben kann, etwa bei der internen Gliederung der Fachbereiche, die keinesfalls identisch sein muss.

Die notwendigen Mitwirkungs- und Einflussmöglichkeiten der Mitglieder sind bei kleineren dezentralisierten Einheiten besser zu gewährleisten. Schließlich ist die beabsichtigte »Stärkung ehrenamtlicher Strukturen« über fachlich-inhaltliche Bezüge sowie in dezentralisierten Einheiten eher und leichter möglich.

Er weist außerdem darauf hin, dass der aktuelle Trend der Organisationsentwicklung in Richtung auf flachere Hierarchien, mehr Flexibilität und stärkere Dezentralisierung, u.a. von Ressourcen und Verantwortung geht. Die Erkenntnis, dass sich Großorganisationen, zu denen auch Gewerkschaften zu rechnen sind, nicht »von oben nach unten« führen lassen, ist inzwischen Allgemeingut. Das Dilemma der gewerkschaftlichen Linken in ver.di auf dem Weg zu einer neuen und handlungsfähigen starken Dienstleistungsgewerkschaft ist nicht nur, dass die programmatische Diskussion über Selbstverständnis und Ziele dieser neuen Gewerkschaft zu kurz gekommen ist, sondern insbesondere auch, dass die Organisationsdebatte nicht als politische Debatte geführt wird, also nicht nach einer optimalen Struktur gefragt wurde, die sich für die Durchsetzung von Minderheitsinteressen eignet. Es kann nicht so sein, dass sich die gewerkschaftliche Linke in den hehren Höhen der Programmdiskussion bewegt, während die Pragmatiker Strukturen schaffen und damit reale Politik machen. Insofern ist die Trennung in politische Diskussion (= Programmdiskussion) und Organisationsdiskussion (= biederer Pragmatismus) falsch.

Die angestrebte Matrixorganisation von ver.di unterscheidet sich qualitativ von den traditionellen Entscheidungsstrukturen aller in ver.di beteiligten Gewerkschaften, die ohne Ausnahme gewohnt sind, auf drei bzw. vier Handlungsebenen zu entscheiden.

Gefragt werden muss nach den politischen Kriterien in der Strukturdebatte. Dabei geht es für die Linke insbesondere um zwei Dinge:

1. In allen fünf beteiligten Gewerkschaften treffen rechte und linke Positionen aufeinander. Natürlich will die Gewerkschaftslinke eine Struktur, bei der sie selbst nicht total untergebuttert wird, und ohne Zweifel gibt es auf der anderen Seite Interessen, die die Zeit für geeignet halten, die gewerkschaftliche Linke zurückzudrängen. Das ist überhaupt nicht neu und begleitet die Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung seit ihrer Gründung und das hat sehr viel mit der Organisationsdebatte zu tun.

2. Entscheidend ist jedoch, welches Politikkonzept hinter der Fusion steht und welches Politikverständnis über Struktur, den Gewerkschaftsapparat und das Verhältnis von Mitgliedschaft zur Gewerkschaftsorganisation.

Dabei fällt auf, dass die ÖTV mit der Überbetonung der Ebenen ein eher traditionalistisches Konzept verfolgt, während die Gewerkschaften HBV, DPG, DAG und IG Medien eher ein Konzept vertreten, das sehr stark auf Ehrenamtlichkeit und einer Struktur beruht, die eine soziale Bewegung von unten ermöglicht. Nur so ist die neue angestrebte Organisationsstruktur, die Matrixorganisation zu verstehen. Sie muss sich allerdings erst in der Praxis bewähren.

Sybille Stamm ist Landesbezirksvorsitzende der IG Medien in Baden-Württemberg.

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