1. Juni 2003 Michael Schlecht

Agenda 2010: Lohnsenkungen statt Zukunftsinvestitionen?

Der harte Kern der Agenda 2010 heißt: Senkung der Löhne! Herunter mit den Löhnen, soweit sie tarifvertraglich geregelt sind, als auch herunter mit den Löhnen, soweit sie über die Sozialversicherungsbeiträge gesetzlich geregelt sind. Letzteres läuft unter dem Titel "Senkung der Lohnnebenkosten". Wachstum und Arbeitsplätze könnten nur wieder wachsen, wenn den Unternehmern massive Entlastungen bei den Lohnkosten beschert würden. So der breite Konsens in Regierung und Opposition sowie großen Teilen der öffentlichen Meinung.

"Lohnnebenkosten" runter!?

Schon im Papier des Kanzleramtes vom Dezember 2002 war die Kernstrategie verkündet worden: "Absenkung der Lohnnebenkosten." Es sei angemerkt, dass die Bezeichnung "Lohnnebenkosten" irreführend ist. Lohn oder Gehalt umfasst das gesamte Einkommen, einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge, die je hälftig von den Unternehmern und den Beschäftigten zu zahlen sind.

Für den Kanzler ist klar: "Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die ... auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, Beschäftigung zu schaffen." Deshalb: "Durch unsere Maßnahmen zur Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir die Lohnnebenkosten... Unter anderem dadurch, dass wir das Arbeitslosengeld für die unter 55-jährigen auf zwölf und für die über 55-jährigen auf 18 Monate begrenzen."

Dem Kanzler reichen diese Kürzungen nicht. Die "Lohnnebenkosten" müssen weiter reduziert werden durch Absenkung der Beiträge zur Krankenversicherung auf unter 13%. Deshalb soll es demnächst ein Eintrittsgeld beim Arzt geben. So richtig Geld will der Kanzler beim Krankengeld sparen. Immerhin schlappe 7,6 Mrd. Euro macht das aus. Das ist keine Reform, das ist ein Schnitt ins Zentralnervensystem der Krankenversicherung.

Nur noch 13% Beitrag zur Krankenkasse klingt auch aus Sicht der Beschäftigten scheinbar nicht schlecht. Wer sich aber zu früh freut, für den gibt es ein böses Erwachen: Die Beschäftigten müssen in Zukunft das Krankengeld alleine bezahlen. Nach den aktuellen Planungen sollen die Beschäftigten um 3 Mrd. Euro und die Unternehmer um 10 Mrd. Euro entlastet werden. Da die Belastung der Patienten gleichzeitig um 3,7 Mrd. Euro ansteigt – die Erhöhung der Tabaksteuer ist hier noch nicht berücksichtigt –, werden diese unter dem Strich fast 1 Mrd. Euro mehr bezahlen. Es bleibt eine massive Entlastung der Unternehmer von 10 Mrd. Euro. Dies wird sich in einem deutlich sinkenden Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung niederschlagen, während die Beschäftigten eine leicht steigende Beitragszahlung zu erwarten haben. Die paritätische Finanzierung wird damit beendet.

Einen Vorteil haben nur die Unternehmer: Für sie werden die "Lohnnebenkosten" gesenkt. Genau darum geht es dem Kanzler.

So stranguliert man die Binnennachfrage

So kann man viele Milliarden einsparen – und die Binnennachfrage weiter strangulieren. Denn Arbeitslosengeld- und Sozialhilfebezieher leben in der Regel von der Hand in den Mund. Jeder Euro, jeder Cent den sie erhalten, wird auch wieder unmittelbar ausgegeben. Nimmt man ihnen Geld, so wird die Nachfrage genau um diesen Betrag geschmälert. Das soll dann die Konjunktur beleben?!

Unter Wirtschaftsexperten ist klar, dass die Agenda 2010 den Abbau von Arbeitsplätzen beschleunigt. Resultat wird also das Gegenteil von dem sein, was der Kanzler verspricht. "Kurzfristig könnte die mit der Agenda einhergehende Schwächung der Binnennachfrage bundesweit zum Verlust von bis zu 100.000 Jobs führen," so Gustav Horn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Das Bruttoinlandsprodukt werde um bis zu einem Prozentpunkt schwächer wachsen.

Der Würzburger Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger weist besonders auf die Auswirkungen von Einschnitten bei Arbeitslosengeld und -hilfe in strukturschwachen Regionen hin. Lohnersatzleistungen und Kündigungsschutz seien "automatische Stabilisatoren", die verhinderten, dass sich konjunkturelle Schocks direkt auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirkten. Selbst der Chefökonom der Deutschen Bank, Norbert Walter, sieht kurzfristig keine positiven Auswirkungen des "Reformpaketes" auf die Wirtschaftsentwicklung.

Angriff auf Tarifautonomie

In den letzten zehn Jahren sind durch "betriebliche Bündnisse für Arbeit" – so die verharmlosende Umschreibung – viele betriebliche Absenkungen von Tarifstandards getroffen worden. Häufig aufgrund der Nötigung durch die Unternehmer, häufig aufgrund der Androhung von Entlassungen.

Das Flächentarifvertragssystem ist so ohnehin bereits ein Flickenteppich. Eigentlich ein Verstoß gegen den Flächentarifvertrag, denn der soll ja gerade "gleiche Konkurrenzbedingungen in einer Branche" herstellen, so der Kanzler. Das hindert ihn jedoch nicht, die Gewerkschaften anzutreiben: "Ich erwarte, dass sich die Tarifparteien auf betriebliche Bündnisse einigen ... Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber handeln."

Das ist eine unverhohlene Drohung. Wenn die Gewerkschaften nicht selbst Hand anlegen an die Bindungswirkung des Flächentarifvertragssystems, drohen gesetzliche Reglementierungen. Wie groß ist da noch die Differenz zur Position von CDU/CSU sowie FDP, die sofort das Tarifvertragsgesetz "liberalisieren" wollen? Faktisch fordert der Kanzler zum Selbstmord auf, da ansonsten der Tod droht!

Senkung der Lohnkosten?

Die Strategie des Kanzlers läuft letztlich darauf hinaus, das Tariflohnniveau "flexibler" zu gestalten, oder im Klartext: die Lohnkosten zu senken. In dem Maße, in dem durch "betriebliche Bündnisse" der jeweilige Flächentarifvertrag durchlöchert wird, zerbröselt die Bindungswirkung und letztlich das gesamte Tarifniveau.

Damit ist klar: Der Kanzler setzt schwerpunktmäßig auf die Wirtschaftslehre der Konservativen.

  Die Unternehmer sollen vor allem von den vermeintlich hohen Lohnkosten entlastet werden. Deshalb der Druck auf die Gewerkschaften, über "betriebliche Bündnisse" schleichend das Lohnniveau abzusenken.

  Die Unternehmer sollen von den vermeintlich hohen "Lohnnebenkosten" entlastet werden. Deshalb streicht die Regierung Arbeitslosengeld zusammen und verschlechtert die Leistungen der Krankenkasse. Und das, obwohl die Deutsche Wirtschaft nicht unter zu hohen Lohnkosten leidet!

  Seit 20 Jahren findet eine Umverteilung von unten nach oben statt. Wenn der verteilungsneutrale Spielraum (Preissteigerung plus Produktivitätszuwachs) immer ausgeschöpft worden wäre, würden die Tariflöhne heute um 17% höher liegen. Trotz dieser Begünstigung der Gewinne ist die Arbeitslosigkeit beständig gestiegen.

  Das DIW hat in seinem jüngsten Wochenbericht festgestellt, dass die Lohnentwicklung in den letzten Jahren in Deutschland moderat war. Von ihr ist keine die Konjunktur beeinträchtigende Kostenentwicklung ausgegangen. Eher hat die Lohnentwicklung zu einer zu starken Dämpfung der Binnennachfrage geführt, was die konjunkturelle Entwicklung einschnürt.

  Von 1997 bis 2002 sind die Einkommen in der EU um durchschnittlich 2,7% angestiegen; in Deutschland lediglich um 1,9%. Dies ist das Schlusslicht.

  "Unser Problem ist nicht die internationale Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Die ist exzellent, wie immer neue Rekorde beim Export oder bei den Direktinvestitionen zeigen."[1] In 2002 wurde der Exportüberschuss mit 83 Mrd. Euro gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt – das ist historischer Höchststand. "Unser Problem sind Binnennachfrage und Investitionen", lautete Ende Dezember letzten Jahres noch die Schlussfolgerung des Kanzleramtes.

  Selbst konservative Ökonomen, wie das ehemalige Mitglied des Sachverständigenrates Olaf Sievert, sagen, dass es "einen direkten Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Lohnhöhe sicherlich nicht (!) gibt. Allerdings hat die Lohnpolitik psychologisch (!) einen Einfluss auf die Bereitschaft der Unternehmer, Investitionen zu wagen." Das neoliberale Dogma endet im afrikanischen Busch und versucht sich in einer Abart des Voodoo.

Gefahr der Deflation

Ob der Kanzler weiß, auf was für ein gefährliches Parkett er sich begibt? Bislang ist das deutsche Tariflohnsystem maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Deflationssorgen sich noch in Grenzen halten. So meldete die Financial Times Deutschland, dass der deutschen Ökonomie die "Verkrustungen" des Lohnsystems helfen. "Der Flächentarifvertrag verhindert bislang, dass die Löhne fallen", so Peter Bofinger von der Universität Würzburg.

Der Kanzler weiß, dass die Binnennachfrage eigentlich gestärkt werden muss, wenn die Konjunktur hochgefahren werden soll. Deshalb sollen auch öffentliche Investitionen erhöht werden. "Gerade in der jetzigen Situation müssen Wachstumsimpulse gesetzt werden", so der Kanzler. Auf den ersten Blick konnte man die Hoffnung haben, dass ein Sofortprogramm von 20 Mrd. Euro aufgelegt wird. Die Kommunen, die für 2003 ein Defizit von 10 Mrd. Euro erwarten, wären nicht mehr gezwungen, ihre Investitionen noch weiter zurückzufahren, sondern hätten zusätzliche Milliarden zur Verfügung. Doch das sind lediglich Wunschvorstellungen, die sich bei der Lektüre der Präambel zur Agenda 2010 einstellen. Ein derartiges Sofortprogramm wäre ja "nur" ein Strohfeuer, meint der Kanzler. Obgleich eigentlich bekannt ist, dass mit einem Strohfeuer dicke Äste angezündet werden und so ein schönes Feuer entsteht.

Wo soll man 20 Mrd. Euro auch hernehmen? Da kann die Arbeitslosigkeit sich auf die Fünf-Millionen-Marke zubewegen, für den Kanzler gilt: "Wir halten am Ziel der Haushaltskonsolidierung und an dem im Stabilitätspakt vereinbarten Rahmen fest." Die Finanzierung durch die Wiedereinführung der Vermögensteuer ist tabu. Dabei hat sogar der Spiegel jüngst vorgerechnet, dass mit Vermögensteuern 46 Mrd. Euro Mehreinnahmen erzielbar wären.

Die Ankündigung in der Agenda 2010 von Investitionen in Höhe von 15 Mrd. Euro entpuppen sich als zinsverbilligte Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau.

  Es ist fraglich, ob die 7 Mrd. Euro Kreditlinie, die den Kommunen zur Verfügung gestellt werden, überhaupt genutzt werden können. Viele Städte und Gemeinden sind bereits derart verschuldet, dass sie aus haushaltsrechtlichen Gründen keine weiteren Schulden machen dürfen, selbst wenn der Zins noch so günstig ist. Wenn sich etwas bewegen soll: Die Kommunen brauchen richtig Geld!

  Ob die 8 Mrd. Euro Kredite für den privaten Wohnungsbau viel bewirken, ist auch mehr als fraglich. Denn: In einer wirtschaftlich unsicheren Zeit werden sich viele Interessenten trotz günstiger Zinsen überlegen, ob sie sich zusätzliche Schulden aufladen. Zudem fließt das Geld meist zu jenen, die ihre Villa mal aufpolieren wollten. "Mitnahmeeffekte" nennt man das. Es zeugt von ausgesprochen weitsichtiger Strategie, einerseits die Eigenheimförderung deutlich zusammenstreichen zu wollen und andererseits zinsverbilligte Kredite für den Wohnungsbau zur Verfügung zu stellen.

Gleichwohl erhalten die Gemeinden und Städte etwas finanziellen Spielraum. Sie werden für bis zu einer Million Sozialhilfeempfänger in Zukunft nicht mehr bezahlen müssen. Dies soll die Bundesanstalt für Arbeit regeln. Damit diese entlastet wird, erhalten Arbeitslose unter 55 Jahren in Zukunft nur noch höchstens für zwölf Monate Unterstützung, danach geht es ab in die Sozialhilfe. Letztlich läuft die ökonomische Logik des Kanzlers darauf hinaus, dass die Arbeitslosen den Straßenbau der Kommunen finanzieren.

Aktive Beschäftigungspolitik

Wir brauchen eine Stärkung der Binnennachfrage! Vor allem keine weitere Schwächung durch Senkung der Lohnkosten und der darin enthaltenen "Lohnnebenkosten" durch Leistungskürzungen. Deshalb ist und bleibt der Weg des Kanzlers falsch.

Neben dem privaten Konsum sind der staatliche Konsum und die öffentlichen Investitionen eine wichtige Stütze der Binnennachfrage. Ein Zukunftsinvestitionsprogramm für Arbeit, Bildung und Umwelt ist notwendig. Die öffentlichen Investitionen müssen schrittweise bis spätestens 2006 um etwa 40 Mrd. Euro gesteigert werden. Die Anzahl der Erwerbstätigen kann so um 500.000 Beschäftigte erhöht werden.

Kurzfristig ist als erster Schritt in diesem Zukunftsinvestitionsprogramm ein Sofortprogramm im Umfang von 20 Mrd. Euro notwendig. Vor allem muss dies durch finanzielle Hilfen für die Kommunen erfolgen. Über die dort drohenden Defizite von 10 Mrd. Euro im Jahr 2003 hinaus müssen Impulse zur Stärkung der Binnennachfrage gesetzt werden. So – und nicht durch Senkung der "Lohnnebenkosten" – wird die Konjunktur und die Beschäftigung stabilisiert, indem vor allem regionale, mittelständische Unternehmen mehr Aufträge erhalten.

Unternehmen, Reiche und vor allem Superreiche wurden in der Vergangenheit immer mehr von der solidarischen Finanzierung des Gemeinwesens freigestellt. Seit 1997 hat der Staat auf mindestens 80 Mrd. Euro verzichtet, die heute im Wesentlichen aufgrund von politisch motivierten Steuerrechtsänderungen fehlen.

Mit einer Umkehr dieser Entwicklung sind die Finanzierungsmöglichkeiten für eine offensive Finanzpolitik vorhanden. Unter anderem ist die Wiedereinführung der Vermögensteuer und eine Reform der Erbschaftsteuer notwendig. Hinzu kommen muss eine konsequente Besteuerung von Aktiengesellschaften und GmbHs. Schließlich muss die Zinsbesteuerung für Vermögende erhalten bleiben und die Zinszahlung durch Kontrollmitteilungen sichergestellt werden.

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