25. Mai 2020 Kalle Kunkel: Gewerkschaftliche Arbeitszeit- und Leistungspolitik

Altes Terrain mit neuen Fragen

Totgeglaubte sterben nicht! Nach fast 30 Jahren weitgehender gewerkschaftspolitischer Abstinenz ist die Arbeitszeit- und Leistungspolitik zurück auf der Agenda. Hatten Kratzer et al. dieses Feld noch 2008 als »gerade nicht umkämpft« angesehen,[1] so hat sich seitdem ein buntes Panorama aus vielfältigen Aus­einandersetzungen entwickelt.

Zugleich hat sich das Gesicht der Auseinandersetzung gewandelt. Zielten frühere Auseinandersetzungen vor allem auf Arbeitszeitverkürzung, sind heute vor dem Hintergrund veränderter Produktions- und Managementtechniken die Arbeitsverdichtung und Entgrenzung sowie deren Folgen für die Beschäftigten (Erschöpfung, Burnout) ein wesentlicher Gegenstand der Kämpfe.

Die Gewerkschaften müssen deshalb die Arbeitszeit- mit der Leistungspolitik verbinden. Da gibt es nur wenige Erfahrungen. Für die Gewerkschaften lohnt es sich jedoch, sich auf dieses neue Terrain zu begeben, da insbesondere der Kampf gegen die Arbeitsverdichtung eine starke Mobilisierungskraft entfaltet und einen Beitrag zur gewerkschaftlichen Erneuerung leisten kann. Allerdings reduziert sich damit die Kompromissfähigkeit der Gewerkschaften im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen, in denen die Arbeitszeitverkürzung zum Teil im Tausch für eine höhere Flexibilisierung der Arbeit erreicht wurde.


Experimentelle Vielseitigkeit

Der neue Aufschwung gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik ist von einer fast schon experimentellen Vielseitigkeit geprägt. Die erste größere Auseinandersetzung, in der mit dem Thema Gesundheitsschutz zum Streik mobilisiert wurde, hatte bereits im Jahr 2009 im Sozial- und Erziehungsdienst des öffentlichen Dienstes stattgefunden. Während der dort erzielte Abschluss zum Thema Gesundheitsschutz jedoch eher vage blieb, wurde in dieser Auseinandersetzung vor allem eine bessere Bezahlung durchgesetzt. Dies entsprach seinerzeit auch der Prioritätensetzung von ver.di.

Die Gewerkschaft machte jedoch die Erfahrung, dass das Thema Belastung in der Arbeit eine enorme Mobilisierungskraft entfalten konnte. Damit wurde sichtbar, was seitdem durch zahlreiche Umfragen und insbesondere die Krankenstatistiken der Krankenkassen bestätigt wird: Die Belastung in der Arbeit durch Leistungsverdichtung und Zeitdruck hat sich zu einem manifesten Konfliktfeld zugespitzt.[2] Die Diskussion um eine neue Arbeits- und Leistungspolitik ist ein Ergebnis dieser Zuspitzung.

Auch die IG Metall machte ihre ersten (neuen) Gehversuche nicht mit einer tariflichen Initiative zur Arbeitszeit, sondern mit einem Vorschlag für eine Anti-Stress-Verordnung im Jahr 2012.[3] Seitdem finden Auseinandersetzungen sowohl um die Begrenzung der Belastung in der Arbeit (vor allem im Krankenhaussektor) als auch um die Verringerung der Arbeitszeit statt. Zu Letzterer hatte die Bahn-Gewerkschaft EVG den ersten breiter rezipierten Schritt gemacht.

Kalle Kunkel hat als Gewerkschaftssekretär die Tarifauseinandersetzungen um Personalregelungen an der Charité mit organisiert. Bei diesem Artikel handelt es sich um eine stark gekürzte und ergänzte Fassung des Beitrags in: Stützle, Ingo (Hrsg.): Work-Work-Balance. Marx, die Poren des Arbeitstags und die neuen Offensiven des Kapitals, Berlin 2020, S. 118-138.

[1] Nick Kratzer u.a. (2008): Leistungspolitik als Feld »umkämpfter Arbeit«, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften 150, S. 11-26.
[2] DAK: Psychoreport (2019): Entwicklung der psychischen Erkrankungen im Job. Langzeitanalyse 1997-2013, Hamburg.
[3] IG Metall: Anti-Stress-Verordnung. Eine Initiative der IG Metall, Frankfurt a.M. 2012.

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