1. November 2000 Theodor Bergmann

Am Rande des Abgrunds

Erneut ist der mühselige Friedensprozess zwischen Israel und der PLO durch militärische Auseinandersetzungen unterbrochen. Wieder trafen sich die Hauptakteure (König Abdullah von Jordanien, Kofi Annan, Yassir Arafat, Ehud Barak, Bill Clinton und Hosni Mubarak), dieses Mal in Scharm el-Scheich, um den Brand zu löschen und die kämpfenden Parteien an einen Tisch zu bringen. Die Lunte hatte der rechtsextreme Ariel Sharon angezündet, als er unter starkem Polizeischutz auf den Tempelberg zur Al-Aksa-Moschee ging – just an dem Tag, dem 28. September, als Ehud Barak seinen Landsleuten erklärte, dass es in Jerusalem zwei Hauptstädte geben müsse.

Unklar bleibt, wer für den Polizeischutz verantwortlich war. Aber das Pulverfass war voll – mit der Ungeduld der Palästinenser mit dem zu langsamen Gang der Verhandlungen, mit der ungelinderten sozialen Not in den Palästinensergebieten, wohl auch mit Arafats Herrschaftsstil, der wenig demokratisch und korruptionsverdächtig ist. Manchem besonders radikalen Palästinenser ist alles Verhandeln mit dem Feind völlig zuwider. Arafat steht in dem Verdacht, den Ausbruch der neuen Unruhen gewünscht oder gar indirekt angeleitet zu haben, weil er dem Druck im eigenen Lager ein Ventil öffnen wollte; denn sonst hätten nicht Teile seines Staatsapparates die Brutalitäten geduldet oder gar unterstützt. Auf der anderen Seite ist Ehud Barak wegen seiner Kompromissbereitschaft unter Druck. Seine breite Koalition ist zerfallen, und er leitet eine Minderheitsregierung, die vielleicht bei Beginn der Herbstsession der Knesset gestürzt wird. Sharon – eine Gefahr für Israel – möchte seinem parteiinternen Rivalen Binyamin Netanjahu zuvorkommen und nächster Regierungschef werden.

Die aktuellen Gründe für die Eruption der Gewalt sind benannt. Die Urgründe werden wieder deutlich in den radikalen Parolen der Hamas, die vor allem von Iran materiell, militärisch und ideologisch gefördert wird. Geht es bei den israelischen Rechten um das größere Eretz-Israel (das ihnen Gott vor 5000 Jahren versprochen hat), so bei den palästinensischen Maximalisten noch immer um das »ganze Palästina«, in das die Israelis widerrechtlich eingedrungen seien. Die »Zionisten« sollen endgültig vertrieben werden. Die extremen Forderungen werden auf beiden Seiten religiös verkleidet, wobei der angebliche Glaube immer wieder die brutalste Menschenverachtung gebiert und rechtfertigt. Der orthodoxeste Rabbiner hält die jüdischen Opfer des Faschismus für Sünder, für die Auschwitz die gerechte Strafe gewesen sei. Jüdische Siedler in den besetzten Gebieten greifen zu Mord und Totschlag. Muslimische Geistliche rufen zu Mord und Vertreibung auf, schicken – besonders mutig – Kinder an die Front, lynchen Israelis in einer Polizeistation – wobei Polizisten zuschauen.

Ein kleiner Tempelberg, um den sich unbewiesene Legenden beider Seiten ranken, wird zum Symbol des Ringens um Sein oder Nichtsein – so behaupten es die »religiösen« Fanatiker. Dass sich Menschen dafür einsetzen und missbrauchen lassen, dafür andere umbringen und selbst umgebracht werden, zeigt, wie man nationale Gefühle unterfüttern und verstärken kann, weil die Tötung des Nachbarn Gott oder Allah gefällig sei.

Israel ist zwar militärisch stärker als die Palästinenser. Aber das Trauma der totalen Vernichtung durch den deutschen Faschismus wirkt fort und führt zu verstärktem Einsatz. Aber alle militärischen Siege in den vielen kleinen Kriegen, die in Wirklichkeit nur Schlachten in einem langen Krieg sind, lösen kein Problem. Bisher ist die Wirkung der israelischen Siege im besten Fall ambivalent. 33 Jahre Okkupation (seit dem Sechstagekrieg von 1967) und sieben Jahre Friedensverhandlungen (seit dem Osloer Abkommen von 1993) haben keiner Seite die Erfüllung ihrer Hoffnungen gebracht. Eher haben sie Enttäuschung und Ermüdung befördert und damit die politische Lähmung. Diese wird auf der vielfältigen israelischen Linken durch die internationale Krise der Arbeiterbewegung verstärkt.

Drei der Unterhändler in Scharm el-Scheich sind Politiker auf Abruf. Bill Clinton ist am Ende seiner Präsidentschaft, muss u.a. die feudalen Ölscheichs schätzen und seiner mächtigen Erdöllobby gerecht werden, nicht nur den jüdischen Wählern der Demokratischen Partei. Yassir Arafat findet nur noch schwindenden Rückhalt bei den Palästinensern; er muss seinen Ultras entgegenkommen. Die nach dem Stillhalteabkommen vom 16. Oktober fortgesetzten Unruhen lassen nur zwei Erklärungen zu: Entweder ist Arafat nicht Herr der Lage, kann die Einstellung der Kämpfe nicht durchsetzen; oder er ist an ihrer Fortdauer interessiert. Ehud Barak wird von den Rechten des »Ausverkaufs« geziehen und muss befürchten, dass bei eventuell anstehenden Neuwahlen die nationalistischen Emotionen zum Sieg des Likud, der Kriegspartei, führen. Also bedienen sich Arafat und Barak radikaler Rhetorik. Selbst wenn das alles nicht wörtlich gemeint ist, beflügelt das die Gegner des Friedens.

Die »Einigung« in Scharm el-Scheich ist bestenfalls ein Minimalstkonsens. Beide Seiten wollen ihre Anhänger und Streitkräfte auffordern, jede Gewalt einzustellen. Wenn das geschehen ist, soll drei Wochen später der Friedensprozess wieder aufgenommen werden, und eine internationale Kommission wird die Schuldigen an den Unruhen festzustellen suchen. Die Verhandlungen werden dann nicht bei dem vor einigen Monaten erreichten Stand beginnen, jedoch von neuem Misstrauen belastet. Jede Seite befürchtet, die andere Seite könnte ihre wirklichkeitsfremden Maximalforderungen durchsetzen. Weder können die Hamas-Anhänger die Israelis ins Meer treiben und »ganz Palästina befreien«, noch können die Israelis alle Palästinenser oder auch nur ihre muslimische Mehrheit aus »Eretz Israel« verdrängen. Sie werden früher oder später koexistieren – nicht miteinander, sondern nebeneinander, wenn auch der Prozess der historischen Einsicht und des Sich-Abfindens gerade in Zeiten eines überbordenden Nationalismus sehr langsam fortschreitet. Palästina als Flickenteppich, wie bisher von manchen vorgesehen – das ist angesichts der Emotionen auf beiden Seiten unmöglich. Die Siedlungen in den besetzten Gebieten haben sich nicht als Faustpfand bei Verhandlungen erwiesen, sondern als schwere Bürde für Israel, die abzulösen ist.

Der deutsche Faschismus hat die Massenauswanderung der Überlebenden erzwungen. Die damaligen Führer der arabischen Völker – vor allem in Palästina, dem Irak und Ägypten – haben der faschistischen Propaganda geglaubt und die damals mögliche Koexistenz ausgeschlagen. Das ist Geschichte von vor 60-70 Jahren. Was die meisten Führer der arabischen Staaten noch heute einigt, ist der Hass gegen Israel. Ansonsten gibt es wenig Gemeinsamkeiten, dafür umso mehr Rivalitäten. Materiell haben sie den palästinensischen Flüchtlingen kaum geholfen. Eine politische Verurteilung Israels wird die Verhältnisse nicht ändern. Die PLO wird trotz allem direkt mit Israel verhandeln müssen.

Die innenpolitischen Folgen sind beträchtlich – auf beiden Seiten. Falls Arafat von den Maximalforderungen abweichen und den Palästinenserstaat endlich im Einvernehmen mit Israel ausrufen will, wird eine wütende Opposition den Weg zu blockieren suchen, die überhaupt keine Verhandlungen will. Ehud Barak sieht sich gleichfalls einer maximalistischen Front gegenüber, die in der Knesset fast über die Mehrheit verfügt. Bis zum Beginn der aktuellen Unruhen am 28. September konnte man davon ausgehen, dass Barak die Stimmung und die Stimmen der Mehrheit auf seiner Seite haben würde; jetzt ist das keineswegs mehr sicher. Noch ist offen, ob Barak mit Sharon und dem Likud eine Notstandsregierung bilden wird. Die Aussagen sind (absichtlich?) widersprüchlich. Eine solche Regierung würde für einige Zeit Friedensverhandlungen unmöglich machen.

Die israelische Linke entbehrt einer eigenen Strategie. Sie ist in einem ähnlichen Zustand wie in vielen Ländern Europas, wo sie in Fragen von Krieg und Frieden durch die Regierungsbeteiligung von »Kommunisten« und »Sozialdemokraten« die Kriegspolitik ihrer Regierungen mit zu verantworten haben. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Arbeiterbewegung ein Wort mitzusprechen hatte, wenn es galt, ein Völkermorden zu beenden. Etwas Derartiges klingt heute utopisch. Eine eigenständige Strategie von Sozialisten sollte nicht für eine der kriegführenden Regierungen optieren, sondern versuchen, Brücken der Verständigung zu bauen zwischen palästinensischen und jüdischen Werktätigen. Sie brauchen den Frieden, und in normalen Zeiten will ihre große Mehrheit ihn auch.

Theodor Bergmann ist pensionierter Hochschullehrer, lebt in Stuttgart.
Von ihm erschien soeben die politische Autobiographie »Im Zeitalter der Katastrophen«, VSA-Verlag, Hamburg 2000.

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