1. Februar 2008 Günther Frieß

''Andiner Sozialismus''

Als die bolivianische Bevölkerung am 18. Dezember 2005 Evo Morales zu ihrem neuen Staatsoberhaupt wählte, "gewannen die Indigenas nach 474 Jahren und 33 Tagen auf dem südamerikanischen Kontinent in einem Teil der Anden ihre Macht zurück".

Das schreibt der deutsch-bolivianische Wirtschaftswissenschaftler Muruchi Poma voller Stolz und Pathos zu Beginn seiner überaus lesenswerten Biografie über den ersten indigenen Präsidenten Boliviens.

Muruchi Poma
Evo Morales. Die Biografie
Übersetzung aus dem Spanischen von Erik Engelhardt
Militzke-Verlag, Leipzig 2007,
224 Seiten, 24,90 Euro

Poma stammt ebenso wie Morales aus der Urbevölkerung Boliviens, dem indigenen Volk der Aymara. Die Studie basiert auf einer Vielzahl von Gesprächen, die der Autor mit Evo Morales geführt hat. Darüber hinaus interviewte Poma Personen aus dem politischen und sozialen Umfeld des Präsidenten und recherchierte vor Ort Hintergründe und Zusammenhänge. Akribisch, mitunter jedoch etwas zu detailversessen, gleichwohl nie langweilig zu lesen, zeichnet der Autor den Weg von Evo Morales aus ärmlichsten Verhältnissen in den Regierungspalast in La Paz nach. Um es vorweg zu sagen: Poma ist ein ebenso überzeugendes wie emphatisches Portrait über Boliviens Staatsoberhaupt gelungen.

Kindheit und Jugend des 1959 geborenen Morales standen ganz im Zeichen des entbehrungsreichen Lebens der Hochlandbauern. Als Junge hütete er Lamas, später baute er Kartoffeln und dann Koka an. Morales wurde stark geprägt von den kulturellen Prinzipien der Aymara-Kultur. Poma charakterisiert Morales als eine charismatische wie authentische Persönlichkeit. Charakteristisch für ihn ist sein bescheidenes, zugleich souveränes Auftreten in der Öffentlichkeit und auf der Bühne der Weltpolitik. Seine innere Verbundenheit mit seinem Volk demonstrierte der Präsident erst unlängst bei der UNO-Generalversammlung als er in seinem rot gestreiften "Chompa-Pullover", einem typischen Kleidungsstück der Andenbewohner, an das Rednerpult trat, ein Kokablatt in die Höhe hielt und ins Plenum rief: "Das ist nicht weiß wie Kokain, sondern grün und es repräsentiert die Kultur der Anden." Für Morales spiegelt sich im Kokablatt das kulturelle Wesen der indigenen Hochlandbewohner wider.

Dass sich Morales als junger Kokapflanzer bereits früh für die Gewerkschaftsarbeit auf dem Land und gegen eine akademische Ausbildung entschied, war, wie Poma hervorhebt, nicht nur die entscheidende Wegmarke im Leben des jungen Evo, sondern auch ein Schritt der geradezu "zwangsläufig" in die Politik führen sollte. Die gewerkschaftliche Tätigkeit an der Basis bezeichnet Morales heute gerne als seine "Universität des Lebens", hier hatte er seine ersten Kontakte mit sozialistischen Ideen. Das "ABC des Marxismus" lernte er von seinem älteren Cousin und ersten politischen Mentor, Marcial Morales, der ein enger Vertrauter des legendären Guerillaführers Ernesto Che Guevara war und ihn in seinem Haus versteckte. Ein Schlüsselerlebnis für Morales war, als er mit ansehen musste, wie ein Cocalero, der sich nicht des Drogenhandels für schuldig erklären wollte, auf brutalste Weise von den Militärs der Regierung Garcia Meza ermordet wurde: "Seit diesem Moment versprach ich, für die Menschenrechte, für die Ruhe und den Frieden in unserer Heimat, für den freien Koka-Anbau, für die nationale Souveränität der Rohstoffe, für die Menschenwürde der Bolivianer und für unsere Freiheit zu kämpfen."

In den 1980er Jahren avancierte Morales zur zentralen Figur und zum Hoffnungsträger der knapp 100.000 Kokabauern der Provinz Chapare, dem größten Anbaugebiet für Kokablätter Boliviens. Unter seiner Führung verbündeten sich die Kokapflanzer mit den Hauptkonsumenten des Kokablatts, den Indigenas, die das Kokablatt als Heilpflanze, zur Dämpfung des Hungergefühls und als Aufputschmittel ähnlich wie Koffein verwenden.

Morales organisierte in seinen Funktionen als Gewerkschaftsgeneralsekretär (1985), Wahlkreisabgeordneter (1997) und als Parteivorsitzender der MAS-IPSP (Bewegung zum Sozialismus – Politisches Instrument für die Selbstbestimmung der Völker) seit 1999, unermüdlich Versammlungen, Demonstrationen, Streiks, Straßenblockaden, und Protestmärsche. Der Kampf gegen die bolivianischen Drogenmilitärs, die willkürlich Hersteller und Konsumenten der Kokablätter erschossen und die Felder der Kokabauern vernichteten, hatte Evo Morales als Anführer der Koka-Bauern politisch so gestählt, dass er es schließlich schaffte, zwei Präsidenten, Sánchez de Lozada (2002-2003) und Carlos Mesa (2003-2005), wegzufegen und selbst Staatschef zu werden. Wie sehr Morales der gewerkschaftlich denkende und agierende Cocalero geblieben ist, zeigt die Tatsache, dass er das Amt des Präsidenten der sechs Syndikate der Cocaleros auch als Staatspräsident nicht abgelegt hat. Die etwa 30.000 Mitglieder bilden die Basis jeder Demonstration, die die Morales-Administration zur Durchsetzung ihrer Absichten versammelt.

So minuziös wie spannend rekonstruiert Poma den Weg von Evo Morales an die Macht. Die Logik der Abfolge der politischen Ereignisse vergleicht er mit einem Dominoeffekt. Den Stein ins Rollen brachte Morales mit seiner "inoffiziellen Koalition" mit der Regierung von Carlos Mesa (2003). Es folgten die Lahmlegung Boliviens durch Straßenblockaden, der Rücktritt Mesas im Juni 2005 und schließlich die Amts­übernahme von Morales im Januar 2006. Neben der ausführlichen Lebensbeschreibung widmet sich der Autor, der aus seiner Sympathie für seinen Protagonisten keinen Hehl macht, im zweiten Teil des Bandes den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Zielen des bolivianischen Staatsoberhaupts, die er nicht nur referiert, sondern auch einer kritischen Analyse unterzieht.

Die Koka-Thematik ist in Bolivien allgegenwärtig, und das nicht zuletzt auch wegen des permanenten Misstrauens der USA und der "zivilisierten Welt", die den Anbau von Koka mit der Herstellung von Kokain gleichsetzen. "Ja zum Koka – nein zum Kokain", das war der Wahlslogan der MAS und von Morales im Wahlkampf 2005. "Null Drogenhandel", so lautet die offizielle Devise auch heute.

Dem Kokain hat Morales den Kampf angesagt. Er will die legale Produktion der Kokapflanze fördern, um einerseits zu verhindern, dass die USA – wie bereits in Kolumbien und Peru geschehen – die Kokafelder mit Unkrautvertilgungsmitteln aus der Luft besprühen. Andererseits geht es um nichts weniger, als die Erhaltung der Lebensgrundlage und des Grundrechts der Koka-Bauern.

Mit ihrer Politik der Nationalisierung setzt die Morales-Regierung nach und nach ihr Wahlversprechen um und verstaatlicht die Energiequellen Gas und Öl, die Gold- und Silberminen sowie Forst und Landwirtschaft. Dabei geht es Morales zuerst darum, die Ureinwohner am Reichtum des Landes zu beteiligen, um ihnen das zurückzugeben, was ihnen gehört. Poma konstatiert, künftig werde sich Morales an einer Politik messen lassen müssen, die Gewinne aus dem Ener­giesektor in die Staatskasse und in Sozialprogramme fließen lässt. In Bolivien, dem ärmsten lateinamerikanischen Land, leben zwei Drittel der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze. Gemeinsam mit einem US-Amerikaner, dem ehemaligen Mitarbeiter der Weltbank und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stieglitz, will der Indigena Morales Bolivien aus der Armut führen. Zwar habe die Regierung unter der Führung von Morales bislang "einzigartige Taten" vollbracht, "die man als wahrhaft revolutionär charakterisieren kann", aber, so merkt Poma kritisch an, es reiche nicht aus, die Überschüsse gerecht zu verteilen. Noch fehle es an einem stimmigen Konzept, welches ein besseres Leben in den indigenen Kommunen schafft. Hier appelliert Poma an die wirtschaftspolitische Phantasie des Präsidenten, "Projekte mit Spannweite" zu initiieren, beispielsweise die Förderung alternativer Kokaprodukte, wie Tee, Kosmetika und Medizinalprodukte.

In landesweiten Versammlungen propagiert der Präsident immer wieder den neuen bolivianischen Staat, den "Constituyente", einen "integrierenden Staat für alle, für Mestizen und Kreolen unter Führung der Indigenas". Morales hat sich dem Ziel verschrieben, dem kolonialen Staat und dem neoliberalen Modell ein Ende zu setzen. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Politik des bolivianischen Staatschefs. Die globalisierte Welt stellt sich für ihn dar als eine Welt der "Konfrontation des Gewissens mit dem Geld", und eines seiner Hauptargumente lautet: "Das menschliche Kapital ist wichtiger als das finanzielle." Darin ist sich Morales mit Boliviens Vizepräsident, dem weißen Nicht-Indigena, Alvaro Garcia Linera, einig. Der Sozio­loge ist der Theoretiker in der yunta, dem "Ochsengespann", wie Morales zu sagen pflegt, während Morales der Politiker und Anführer von Millionen Indigenas ist.

Fazit: Morales’ "andiner Sozialismus", die Schaffung von Gleichheit und der Rückverteilung von Reichtum, trägt zwar Züge der südamerikanischen Befreiungsideologie, ist aber vor allem eine linke, indigene "Bewegung des Gewissens und nicht des Absahnens", die zwischen Ideologie und Realpolitik changiert. Ob und inwieweit die Politik von Morales auch an den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez anknüpft, lässt die Studie offen. Indes: Der Cocalero-Führer und Indigenist Evo Morales träumt von einem großen Vaterland Südamerika, ähnlich der Europäischen Union.

Ein umfangreicher Bild-, Statistik- und Kartenteil vervollständigt die bemerkenswerte Biografie über den bolivianischen Präsidenten. Darüber hinaus hat Poma ein wundervolles Buch über das Land und seine Menschen geschrieben. Bemerkenswert ist auch, dass der Herausgeber des Bandes, der Militzke-Verlag in Leipzig, einen Teil des Bucherlöses für gemeinnützige Projekte in Bolivien spendet.

Günther Frieß lebt in Nonnweiler-Primstal (Saarland).

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