24. Mai 2013 Otto König / Richard Detje

Arbeitskampf bei Amazon

Für mehr Geld, bessere Arbeitsbedingungen – und Respekt

Amazon steht in den Schlagzeilen – endlich. Mitte Februar hatte eine ARD-Dokumentation aufgedeckt, dass das Unternehmen Tausende Hilfskräfte mit falschen Zusagen als flexible Arbeitskraftreserve zur Bewältigung von Auftragsspitzen mobilisiert, kaserniert und von einem der rechtsextremen Szene entstammenden oder nahestehenden Sicherheitsdienst bewacht.

Und nun wurde im Mai beim weltgrößten Internet-Versandhändler gestreikt. In Leipzig und im Amazon-Verteilzentrum in Bad Hersfeld hatten die ver.di-Mitglieder zu 97,6% für einen Arbeitskampf gestimmt. Die Beschäftigten wollen, dass Tarifflucht, Lohndrückerei und die Aushöhlung ihrer Rechte beendet werden. ln der hessischen Kurstadt Bad Hersfeld arbeiten schätzungsweise 2.900 fest und 750 befristete Angestellte, in der sächsischen Metropole 1.500 feste und 600 befristete. In den sieben Logistikzentren im Bundesgebiet sind rd. 9.000 fest angestellte Arbeitnehmer_innen tätig.[1]

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di erhöhte mit Urabstimmung und Streik den Druck auf die Geschäftsführung, Tarifverhandlungen endlich aufzunehmen. Ver.di fordert tarifliche Regelungen, wie sie im Einzel- und Versandhandel üblich sind. So verdient in Bad Hersfeld ein Kommissionierer nach einem selbstgestrickten Konzernsystem zu Beginn seiner Tätigkeit 9,83 Euro in der Stunde. Laut Tarifvertrag müssten 12,18 Euro gezahlt werden. Amazon zahlt den Beschäftigten aufgrund der nicht vorhandenen Tarifbindung rund 20%, also 9.000 Euro pro Jahr weniger als ihnen laut Tarifvertrag im Einzel- und Versandhandel zustehen. Ferner fordert ver.di ein tarifliches Urlaubs- und Weihnachtsgeld für die Beschäftigten.


Das Amazon-Prinzip

Amazons Position: »Unsere Mitarbeiter leisten logistische Tätigkeiten – Kommissionierung, Verpackung und Versendung von Waren«, weshalb sich das Unternehmen an der Bezahlung der Logistikbranche orientiere und die Aufnahme von Tarifverhandlungen ablehnt.

Auf die Ausbeutung der Angestellten gründet sich ein Teil des Amazon-Erfolgs. Mit seiner »Strategie der tödlichen Umarmung« zwingt Amazon d­arüber hinaus große Teile des stationären Buchhandels, Verlage und auch andere Online-Händler in die Knie.[2] So dominiert der Konzern inzwischen nicht nur den Buchmarkt im Internet, sondern kontrolliert zwischen einem Fünftel und einem Viertel des Online-Versandhandels in Deutschland. In 2012 wurde ein Erlös in Höhe von 6,5 Mrd. Euro erwirtschaftet. Über ein äußerst kreatives Firmenkonstrukt mit einem Pro-Forma-Firmensitz in Luxemburg gelingt es, nicht nur die Steuern auf Gewinne nahezu auf Null zu drücken, sondern gleichzeitig bei Produkten wie e-Books die deutsche Umsatzsteuer zu unterlaufen. So führt der Internet-Händler statt 19% an den deutschen Fiskus lediglich 3% an die luxemburgische Staatskasse ab.

Hinzu kommt, dass der Internet-Riese auf staatliche Subventionen bauen kann. Da die Ansiedlung von Logistikzentren in strukturschwachen Regio­nen einhergeht mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, kann das Unternehmen auf die willfährige Unterstützung durch Politik und Behörden rechnen. So wurde in Graben bei Augsburg vor dem Betriebsgelände für stolze 1,1 Mio. Euro eigens eine Haltestelle der Bahn errichtet. In Nordrhein-Westfalen griff die Bundesagentur für Arbeit (BA) dem Unternehmen kräftig unter die Arme: Die Fördermaßnahmen ermöglichten den zweiwöchigen Einsatz von Arbeitslosen im Unternehmen, ohne dass es dafür auch nur einen einzigen Cent zahlen musste. Einem Bericht der Wochenzeitung »Die Zeit« zufolge geschah dies im Jahr 2011 in fast 3.000 Fällen. Von den Arbeitsuchenden sei zwar die Mehrzahl übernommen worden, doch meist nur befristet – die meisten mussten nach dem Weihnachtsgeschäft wieder gehen.

Die »Geschäftsidee« ist noch viel umfassender: Das globale Online-Kaufhaus ist zugleich ein äußerst lukrativer Datenverwerter. So sammelt es seit Jahren Daten über die Einkaufsgewohnheiten der Kunden, »vermietet die Kapazität seiner riesigen Rechenzentren an Dritte und verdient Geld mit der Vermarktung der in der digitalen Datenwolke ›Cloud‹ vorgehaltenen Programme zur Auswertung von Daten«.3 Dafür gibt es auch einen Begriff: »Matrix-Handel«.


»Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon«

Die ARD-Dokumentation »Ausgeliefert! Leiharbeiter bei Amazon« rückte die Arbeits- und Wohnbedingungen von Leiharbeitern des Konzerns ins Rampenlicht: Leistungsdruck, totale Kontrolle, Gängelung im Arbeitsalltag und Überwachung der aus Spanien angelockten Wanderarbeiter. Die Reportage schlug ungewöhnlich hohe Wellen. Kritische Konsumenten riefen zum Boykott auf; in einer aktuellen Stunde im Bundestag musste sich der Internet-Händler den Vorwurf »menschenverachtender« Praktiken gefallen lassen.[4] Dies führte dazu, dass sich selbst der Bundesverband des Deutschen Versandhandels (BVH), dem Händler wie Otto-Versand und der Weltbild-Verlag angehören, von seinem Mitwettbewerber absetzte: »Es ist misslich, dass durch ein einzelnes Unternehmen ein Eindruck entsteht, unter dem die ganze Branche leiden könnte.«[5]

Derart unter Druck geraten betrieb Amazon Schadensbegrenzung und beendete die Zusammenarbeit mit dem Überwachungsdienst H.E.S.S., dessen Mitarbeiter in der Kleidung der bei Neo­nazis beliebten Marke »Thor Steinar« auftraten. Und entdeckte die betriebliche Mitbestimmung. Amazon-Chef Kleber: »Ich finde Betriebsräte sehr gut und ich ermuntere die Mitarbeiter in unseren Logistikzentren, Betriebsräte mitzugründen.« Für ver.di-Vertreter Heiner Reimann steht fest: »Er will sicherlich weiter ein maximales Direktionsrecht ausüben. Betriebsräte können nicht über die Lohnhöhe mitbestimmen und sind leichter in Angst zu versetzen als eine Gewerkschaft.«[6] Aus seiner Sicht folgerichtig erklärte Kleber Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft ver.di zum Tabu.

Zur Einleitung von Betriebsratswahlen bedurfte es jedoch keines Arbeitgeber-Appells. Mit Hilfe des gewerkschaftlichen »Organizing«-Projekts hatten sich die betroffenen Arbeitnehmer an den Standorten bereits aktiviert. »Wir haben immer versucht, die Beschäftigten zusammenzubringen, sie gefragt, was ihre Probleme, ihre Bedürfnisse sind, wo bei ihnen der Schuh drückt. Gemeinsam haben wir einen Plan entwickelt, um die Probleme anzugehen und bestenfalls zu lösen« (Reimann). So gelang es an den vier Standorten Leipzig, Bad Hersfeld, Graben und Rheinberg inzwischen, einen Betriebsrat zu wählen. In Pforzheim (Baden-Württemberg) und Werne (NRW) standen Wahlen an, Koblenz soll folgen. Auf die neugewählten Betriebsräte warten eine Menge Probleme.

Um Tausende Bestellungen effizient abwickeln zu können, wurden die Arbeitsabläufe in den Versandzentren in ein strikt rationalisiertes, softwaregesteuertes und streng reglementiertes Ablaufschema gepresst. Ehemalige Beschäftigte berichten »von extremem Leistungsdruck und unmenschlichen Arbeitsbedingungen, von systematischer Überwachung des Arbeitspensums«.[7] Der Druck in den Hallen ist extrem hoch. In langen Regalreihen liegen nebeneinander aufgereiht die unterschiedlichsten Produkte wie Bücher, DVDs und Elektronikgeräte. An den Halleneingängen befinden sich Sicherheitsschleusen, an denen nach Schicht­ende die Taschen der Beschäftigten durchsucht werden. Seine Arbeitsbedingungen im Leipziger Versandzentrum beschrieb ein »Picker«, zuständig für das Einsammeln und Zusammenstellen der Waren für den Versand: »Zehn bis 15 Kilometer Wegstrecke lege ich am Tag im Lager zurück. Aber nicht die körperliche Arbeit, sondern die ständige Kontrolle der Arbeitsprozesse und der damit verbundene psychische Druck waren und sind für mich die größte Belastung. Ein Computersystem zeichnet genau auf, wie schnell die Bestellungen von mir zusammengestellt werden … Jeder Toilettengang wird mitgezählt, damit die Arbeitszeit von 7,75 Stunden auch wirklich geleistet wird.«[8]

Entsprechend lauten die Forderungen, die von den Beschäftigten zu allererst benannt werden: weniger Leistungsdruck, weniger Befristungen, bessere Bezahlung und mehr Respekt. Für den Gang zur Toilette darf man inklusive Weg nur fünf Minuten brauchen. Der Standort hat die Fläche von 17 Fußballfeldern und geschätzt alle 300 Meter ein WC, beschreibt Heiner Reimann die Situation in Bad Hersfeld. Während normalerweise 3.000 dort arbeiten, waren es kurz vor Weihnachten 2011 8.000: »Dann will man als 60-Jährige nicht gefragt werden, warum man sieben Minuten gebraucht hat, zu pinkeln.«[9]

Gegen dieses menschenunwürdige System treten die Beschäftigten bei Amazon an. Die Streikbeteiligung belegt, dass sie bereit sind, Sand in das Getriebe der »Wunscherfüllungsmaschine« – heute bestellen, morgen erhalten – zu streuen. »Die Lehre für die Geschäftsführung aus einem Streik ... muss sein: Amazon funktioniert auf Dauer nur, wenn der US-Konzern diejenigen, die die Maschinerie rund um die Uhr in Gang halten, fair behandelt.« (Frank-Thomas Wenzel) Bei dieser Auseinandersetzung geht es nicht nur um den weltgrößten Online-Händler. Ein erfolgreicher Tarifabschluss könnte zum Signal für eine ganze Branche werden.

Otto König ist Herausgeber, Richard Detje Redakteur von Sozialismus.

[1] Süddeutsche Zeitung, 30.4.2013. Amazon verweigert konkrete Angaben. Nur so viel: »Das Logistikzentrum in Bad Hersfeld besteht seit 1999 ... und dort stehen mehr als 85% in unbefristeten Arbeitsverhältnissen. Unternehmensweit geben wir keine Zahlen bekannt«, so Amazon-Deutschland-Geschäftsführer Ralf Kleber in SPIEGEL-online, 14.5.2013.
[2] Vgl. Daniel Leisegang: Amazon und die Strategie der tödlichen Umarmung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 4/2013.
[3] FAZ, 23.2. und 18.5.2013. Vgl. auch Carsten Knop: Amazon kennt dich schon, Frankfurt a.M. 2013.
[4] Jedoch: Die von Amazon genutzten prekären Beschäftigungsverhältnisse sind Folge der Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die rot-grüne Bundesregierung, die prekären Beschäftigungsformen wie Leiharbeit und Werkverträgen mit den Hartz-Gesetzen Tür und Tor geöffnet hat.
[5] »Der Stern«, 6.4.2013.
[6] Gespräch mit Heiner Reimann, Gewerkschaftssekretär bei ver.di, in: Mitbestimmung 4/2013.
[7] Süddeutsche Zeitung, 2.3.2013.
[8] www.fr-online.de, 26.02.2013.
[9] Interview mit H. Reimann in »Marx21«, April 2013.

Zurück