1. September 2004 Björn Harmening

Arbeitslosigkeit und Gesellschaft in Zeiten von Hartz IV

Am 1. Januar tritt das "Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" – Hartz IV genannt – in Kraft. Eingeführt wird damit das Arbeitslosengeld II, das die frühere Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe auf einen Wert von 345 Euro (331 Euro im Osten) zusammenlegt. Betroffen ist jeder nach zwölfmonatiger Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig wurde die Zumutbarkeit von Jobs deutlich verschärft. Nahezu jede angebotene Arbeit – auch solche, die unter die geringfügigen Beschäftigungen fällt – muss von der/dem Betroffenen angenommen werden. Auch wenn sie unter Tarif liegt.

Hartz IV ist ein weiterer Kilometerstein im Wettlauf um die Zerschlagung der sozialen Pfeiler dieser Republik zu Gunsten einer nur am Profit orientierten, vollkommen pervertierten Werteordnung. Es sind nicht nur die etliche Seiten langen Antragsformulare, abgefasst im schlimmsten Amtsdeutsch, die jedes noch so geringe Vermögen aufdecken sollen, während sich die Bosse zieren, ihre Einkünfte offen darzulegen. Es ist nicht nur die Tatsache, dass man nach X Beitragsjahren und unverschuldeter Arbeitslosigkeit auf Sozialhilfeniveau abrutscht. Es ist nicht nur die billige und leider nur zu oft nachgeplapperte Polemik, mit der die Arbeitsuchenden von entsprechenden Interessengruppen und Medien als Anhänger des süßen Müßigganges verunglimpft werden.

Es ist auch die Sturheit und die wider besseres (Ge-?)Wissen durchgepeitschte politische Agitation, mit der hier wieder gegen diejenigen vorgegangen wird, die am wenigsten für ihre prekäre Lage und die damit verbundenen Kosten verantwortlich sind. Wieder wird im Vorfeld landauf landab diskutiert, dass wir uns das nicht mehr leisten können, dass wer will, auch eine Arbeit kriegt, und dass das, was uns jetzt als Hartz IV vorliegt, auch eine erfolgreiche, sprich zu mehr Arbeitsvermittlung und besserer Betreuung führende Reform sei.

Ein Problem ist, dass diese Propaganda z.T. selbst von Betroffenen verinnerlicht wird oder sie zumindest verunsichert, sodass eine dagegen argumentierende Diskussion immer einen defensiven, keinen offensiven Charakter bekommt. Dieses Phänomen erfährt man auch bei der Interessenvertretung im Betrieb. Die Schlagzeilen von "BILD" und die flammenden Reden einiger durch sämtliche Talkshows reisender Wirtschaftsvertreter haben einen deutlich höheren Stellenwert als jede vernünftige Argumentation: darüber, aus welchen Bevölkerungsschichten sich die Sozialhilfeempfänger denn wirklich zusammensetzen, wie viele offene Stellen es in Wahrheit gibt, wie wenig Sinn ein Verzicht auf Lohn macht und dass Eigenverantwortung zumeist nur eine Floskel für höhere individuelle Zuzahlungen statt gemeinsame Solidarität ist.

Wer sich die geringe Mühe macht und die offiziellen Zahlen zur Arbeitslosenstatistik betrachtet, der fragt sich, wie bei 296.000 gemeldeten offenen Stellen im Juli 2004 und einem dem gegenüberstehenden Heer von 4,359 Millionen gemeldeten Arbeitsuchenden denn nun eine durch Hartz IV erfolgreichere Vermittlung stattfinden soll?

Rechnerisch gibt es nur für jeden 15. Arbeitsuchenden eine offene Stelle – zählt man die gut zwei Millionen nicht offiziell gemeldeten Betroffenen hinzu, kommt man sogar auf ein Verhältnis von rund 22 Bewerbern auf eine Stelle. Diese Rechnung beinhaltet noch nicht die Frage nach beruflicher Qualifizierung oder mangelnder Mobilität des Einzelnen.

Vor diesem in Politik und Wirtschaft bekannten Hintergrund die Hartz-IV-Gesetze durchzupeitschen, macht deutlich, dass es um die schrittweise Enteignung der sozialen Sicherungssysteme und nicht um eine wirkliche Reform geht.

Selbstverständlich steigen die Kosten für die Sozialversicherungen aufgrund erhöhter Bedarfe und mangelnder Beitragsleistungen; doch dafür sind nicht die Bezieher verantwortlich, sondern eine Politik, die seit mindestens zwei Jahrzehnten nur noch auf die Optimierung der Unternehmensgewinne fixiert ist und dabei selbst wirtschaftlich relevante Fragen wie eine geregelte Binnennachfrage durch vernünftige Kaufkraft der Bevölkerung außer Acht lässt.

Aber es geht hier nicht nur um materielle Sicherheit, sondern auch um das soziale Selbstbewusstsein der Betroffenen. Die Grenze des Zynismus ist erreicht, wenn angesichts der neuen Gesetzgebung manche Sozialverbände jubeln, dass sie demnächst wieder viele Billigarbeitskräfte als Ersatz für die Zivildienstleistenden bekommen – denn es muss ja jede zumutbare Arbeit angenommen werden.

Auch die Diskussion um Arbeitseinsätze von Zuwendungsberechtigten, die ja wohl auch mal im Winter Schnee räumen oder den Dreck wegmachen könnten, gehört dazu. Weshalb den Menschen denn nicht gleich einen festen und unbefristeten Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst anbieten, der ihnen Sicherheit und Würde zurückgibt? Nein, stattdessen muss sich jeder Hinterbänkler in den Parlamenten mindestens einmal mit einem Vorschlag aus der Sanktionskiste zu Wort melden – bis hin zur Quasi-Zwangsarbeit.

Dasselbe Engagement wünscht man sich von der Politik bei der Umsetzung von Vorhaben wie der Umlagefinanzierung von Ausbildungsplätzen. Der stattdessen verabredete Ausbildungspakt scheint schon im Jahr seiner Einführung gescheitert zu sein. Schon die im Vorfeld angekündigte Zahl von 30.000 neuen – nicht etwa zusätzlichen – Ausbildungsplätzen, sozusagen in Selbstverpflichtung, wird sich als die Augenwischerei erweisen, als die sie vorgesehen war.

Zwar verkündete die Deutsche Industrie und Handelskammer (DIHK) stolz die Schaffung von 19.000 neuen Ausbildungsplätzen – denen stehen jedoch 18.000 abgeschaffte gegenüber (taz, 5.8.04). Laut Bilanz der Bundesagentur für Arbeit hat es 2004 einen Rückgang um 31.000 Ausbildungsplätze bei gleichzeitigem Anstieg um etwa 15.000 jugendliche Bewerber gegeben. Damit ist der Lehrstellenanteil zum vierten Mal in Folge gesunken – so viel zu Versprechungen.

Unsere Gesellschaft wird derzeit immer mehr von ökonomischem Denken regiert und viele ordnen sich ihm freiwillig unter. Die Ende der 1990er entstandene Aktieneuphorie, bei der jeder plötzlich zum Superspekulanten mit der Zeitschrift "Capital" unterm Arm an der Werkbank wurde, war einer der Ausdrücke für diese Philosophie.

Heute wird den ArbeitnehmerInnen "unternehmerisches Denken" am Arbeitsplatz eingetrichtert und so ein Deckmantel für steigenden Arbeitsdruck und Leistungsverdichtung geschaffen, während an anderer Stelle die Leistungen für diejenigen gekürzt werden, die nicht mehr teilnehmen dürfen an diesem Hamsterkarussell der Ausbeutung von Arbeitskraft. Die öffentliche oder besser veröffentlichte Diskussion um längere Arbeitszeiten von 41, 42, 45 oder gar 50 Stunden pro Woche, die von Wirtschaftsexperten und Bossen wie Conti-Chef Wennemer gefordert werden, unterstreichen diesen Trend.

"Wieviel Deutschland verträgt die Wirtschaft?" heißt es in einer Schlagzeile in der Braunschweiger Zeitung (2.7.04) – den Präsidenten von Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, zitierend. Kein Wunder, dass dabei die Interessen der ArbeitnehmerInnen und Arbeitslosen unter die Räder kommen.

In den Landesparlamenten und im Bund gibt es derzeit keine politische Partei, die diese Lage ändern könnte oder auch nur wollte. Die konservativen und neoliberalen Parteien arbeiten weiter an der Fortführung des sozialen Umbaus, und die Sozialdemokraten, ehemaligen Sozialisten und Alternativen eifern ihnen in der Hoffnung nach, Wählerpotenzial aus diesen Schichten zu bekommen und so die Macht zu erhalten.

Die Gewerkschaften und außerparlamentarischen Verbände und Gruppen brauchen aber einen Verbündeten in den Plenarsälen, um die Interessen von ArbeitnehmerInnen, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gegenüber der geballten Macht der Unternehmen politisch vertreten zu können. Dieser Verbündete könnte sich vom Ansatz her aus der "Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" entwickeln, wenn sich die Initiative nicht auf den gleichen falschen Weg zur Macht begibt, wie ihn beispielsweise die Grünen Ende der 1980er Jahre beschritten haben. Wenn das gelingt und endlich auch die Einsicht der Betroffenen wächst – wie es ansatzweise bei den Demonstrationen am 3. April 2004 und den derzeitigen Montagsdemonstrationen, die vor allem im Osten Deutschlands einen starken Zulauf bekommen, geschieht –, dann haben vielleicht künftig Gesetze wie Hartz IV keine Chance mehr, umgesetzt zu werden.

Sondern es wird dann nach wirklichen Alternativen gesucht, um unser soziales Leben wieder aufzubauen und so zu gestalten, wie es sich für eine Demokratie gehört.

Björn Harmening ist Mitglied der IG Metall Vertrauenskörperleitung bei VW Salzgitter und Redakteur von "der motor".

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