22. Dezember 2022 Frank Deppe: Die krisenhafte Entwicklungsgeschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und die Geschichte der Gewerkschaften

»Auf der Höhe der Zeit sein«

Struktur und Bewegung der kapitalistischen Produktionsweise werden durch den Interessengegensatz von Kapital und Arbeit als ein Prozess »antagonistischer Vergesellschaftung« bestimmt.

Dieser wird auf verschiedenen Ebenen ausgetragen: Erstens im Betrieb, zweitens in der Gesellschaft, drittens im Staat. Er manifestiert sich in Konflikten und Kämpfen ebenso wie in rechtlich und institutionell festgeschriebenen Macht- und Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen. Dabei werden auch Regeln für die Verhandlungen zwischen Kapital und Arbeit festgelegt. Diese Prozesse werden durch die Konkurrenz auf den Märkten und den Zwang zur Profitproduktion angetrieben. Im Verlauf der Kapitalakkumulation und der Entwicklung der Produktivkräfte entfaltet sich die der kapitalistischen Produktionsweise immanente Tendenz zur zyklischen Reproduktion von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen, wobei zwischen den »großen Krisen« und den »kleinen Krisen« des Konjunkturzyklus unterschieden werden muss. Die Kräfteverhältnisse und Handlungsbedingungen verändern sich in den verschiedenen Entwicklungsepochen des Kapitalismus.

Ihre konkrete Gestalt in den einzelnen Staaten wird durch vielfältige Faktoren, wie zum Beispiel durch nationale Geschichte, politische Kultur, religiöse Traditionen, Kampferfahrungen und Führungspersönlichkeiten, geformt. Die Akteure – auch die Gewerkschaften und ihre Mitglieder, vor allem aber ihre Führungsgruppen – sind immer wieder herausgefordert, ihre strategischen Optionen im Hinblick auf die Interessenvertretung der Lohnabhängigen neu zu formulieren – ein oft sehr schwieriger und widersprüchlicher Prozess der Vermittlung praktischer Erfahrungen, der Analyse der Veränderung von Bewusstseinsformen der Lohnabhängigen und der theoretisch geleiteten Analyse der jeweiligen Handlungsbedingungen. In demokratischen Organisationen schließt das immer auch die Frage nach der Beteiligung der Mitglieder an solchen Prozessen ein. »Auf der Höhe der Zeit sein« erfordert also einerseits ein praxisorientiertes, solides Grundwissen, andererseits aber auch eine enorme intellektuelle und strategische Flexibilität: lernen aus neuen Erfahrungen und aus neuem Wissen.

Diese Ausgangsthesen werden im Folgenden auf zwei Feldern konkretisiert, die sowohl für die Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen, als auch für die Politik und Organisation der Gewerkschaften von zentraler Bedeutung sind.

1. Der Zwang zur Akkumulation und der Prozess der »Landnahme«.
2. Der zyklische und krisenhafte Verlauf der Kapitalakkumulation und der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft – sowie die darin eingebettete Abfolge von »großen« und »kleinen Krisen«.

Einer der berühmtesten Sätze aus dem »Kapital« von Karl Marx lautet: »Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!« (MEW 23: 621). Das heißt zugleich: Stillstand bedeutet den Tod![1] Die Expansion der kapitalistischen Produktionsweise nach innen (Erweiterung der Produktion, Erschließung neuer Anlagesphären) und nach außen (zum Weltmarkt) ist eine Existenzbedingung dieser Produktionsweise und zugleich ihre Antriebskraft. Das heißt: kapitalistische Gesellschaften unterliegen zu ihrer dynamischen Selbststabilisierung einem Zwang zur fortwährenden »Landnahme« nichtkapitalistischer Milieus (Rosa Luxemburg/Klaus Dörre).

Frank Deppe ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Phi­lipps-Universität Marburg. Zuletzt erschien von ihm »SOZIALISMUS. Geburt und Aufschwung – Widersprüche und Niedergang – Perspektiven« (VSA: Verlag Hamburg 2021), in Vorbereitung ist der gemeinsam mit Kim Lucht und Klaus Dörre herausgegebene Band »Sozialismus im 21. Jahrhundert? Gegen die›Politik des Negativen‹, für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Sozialismus-Debatten 1« (ebenfalls VSA: Verlag Hamburg 2023). Bei diesem Artikel handelt es sich um den Abdruck des gleichnamigen Beitrags in dem von Malte Müller, Richard Rohnert und Petra Wolfram herausgegebenen Hefts der ZWISCHENRUFE »Vorwärts und nichts vergessen! Aus der Geschichte lernen«, die anlässlich 50 Jahre IG Metall Bildungsstätte Sprockhövel gerade erschienen sind (siehe auch die Anzeige in diesem Heft auf S. 44).

[1] Im »Manifest« (1847/8) hatten Marx und Engels von der »höchst revolutionären Rolle« der Bourgeoisie in der Geschichte gesprochen. Sie »kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. [...] Alle festen eingerosteten Verhältnisse im Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel« (MEW 4: 464/5).

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