1. November 2003 Heinz Bierbaum

Auf der Suche nach der verlorenen Identität

Mit dem 20. ordentlichen Gewerkschaftstag in Hannover hat die IG Metall den Versuch unternommen, sich neu zu positionieren und ihre interne Krise zu überwinden. Deren Tiefpunkt war mit dem Rücktritt des langjährigen Vorsitzenden Klaus Zwickel erreicht, der selbst wesentlich zur Personalisierung der Konflikte beigetragen hatte, die nach dem verlorenen Arbeitskampf im Osten ausgebrochen waren.

Mit seinem Rücktritt hat sich Zwickel nicht nur einen recht unwürdigen Abschied verschafft, sondern sich auch der Möglichkeit begeben, auf dem Gewerkschaftstag noch einmal politisch Position zu beziehen. In einem vorgezogenen ersten Teil des Gewerkschaftstages Ende August in Frankfurt wurde ein verkleinerter Vorstand mit Jürgen Peters und Bertold Huber als Führungsduo gewählt. Das Wahlergebnis der beiden von rd. 67% gilt zwar bei Gewerkschaftstagen als schwach, doch vor dem Hintergrund der vor allem persönlich geführten Auseinandersetzungen kann es sich durchaus sehen lassen.

In den Medien wird gern das Bild vom Kampf zwischen "Modernisierern" mit Huber als Galionsfigur und den von Peters repräsentierten "Traditionalisten" gezeichnet. Diese Charakterisierung ist ein Zerrbild, das weder der differenzierten Struktur der Basis und des Funktionärskörpers der IG Metall gerecht wird, noch die eigentlichen politischen Konfliktlinien trifft. Andererseits ist aber auch offenkundig, dass Huber und Peters für unterschiedliche, allerdings nicht besonders homogene Lager stehen, was sowohl beim Abstimmungsverhalten als auch bei der gewerkschaftspolitischen Positionierung deutlich wurde.

Huber nutzte die Eröffnung des Gewerkschaftstages in Hannover für eine Art zweites Grundsatzreferat. Im Zentrum seiner Positionsbestimmung steht die Bewahrung des "deutschen Produktionsmodells", das sich durch hohe Innovationsfähigkeit und geringe Konflikthäufigkeit auszeichne. Zu diesem Modell gehört ein auf soziale Integration zielendes "Solidarprojekt", das verhindern soll, dass aus Marktdominanz gesellschaftliche Risse und Spaltungen entstehen. Den Konservativen und Wirtschaftsliberalen wirft er vor, eine Politik der "Amerikanisierung der Arbeitsbeziehungen" und des sozialen Ausschlusses zu betreiben. Davon abgesetzt verortet Huber die Gewerkschaften als Kräfte des Ausgleichs und des Dialogs, "die aus der Mitte der Gesellschaft Einfluss nehmen." Dazu sei es notwendig, im Verhältnis zu den Parteien – und damit ist in erster Linie die Sozialdemokratie gemeint – dialogfähig zu bleiben. In einer stärker autonomen gewerkschaftlichen Politik und in der Hinwendung zu sozialen Bewegungen sieht er hingegen die Gefahr einer Isolation der IG Metall. Neben der Weiterentwicklung der Tarifautonomie und dem Umbau der sozialen Sicherungssysteme sieht Huber in der Berufsausbildung und Weiterbildung einen zentralen Ansatzpunkt, die Überlegenheit eines konsensgestützten Produktionsmodells unter Beweis zu stellen.

Deutlich andere Akzente setzte Peters in seinem mit viel Beifall bedachten Grundsatzreferat. Ihm zufolge befindet sich der Kapitalismus global in einer "krisenhaften Umbruchphase" aufgrund des gewachsenen Widerspruchs zwischen entwickelten Produktivkräften und einer ungerechten Verteilung des Wohlstandes. Aufgrund des neoliberalen Einheitsdenkens weite sich die Umbruchkrise zu einer "handfesten Krise der parlamentarischen Demokratie" aus. Peters sieht die Gesellschaft an einer "Weggabelung": der eine Entwicklungspfad führt in eine "neoliberale Wettbewerbs-Gesellschaft" ohne oder mit entscheidend geschwächter kollektiver Interessenvertretung der Lohnarbeit; der andere Pfad in eine "demokratische und nachhaltige Arbeitsgesellschaft", die Peters als eine "Vision" beschreibt, die durch weitere programmatische Debatten auszufüllen ist. Außerordentlich kritisch setzte er sich mit der Sozialdemokratie auseinander und stellte sie als politischen Bündnispartner in Frage, wenn sie ihren derzeitigen politischen Kurs weiterfährt. Damit trat er faktisch für eine stärker autonom ausgerichtete Gewerkschaftspolitik ein.

Die Unterschiede in den politischen Grundlinien von erstem und zweitem Vorsitzenden sind damit deutlich. Beide Positionen weisen allerdings auch Defizite auf. Während Huber die Frage unbeantwortet ließ, ob eine Sozialdemokratie, deren politische Programmatik und Perspektiven mit der Agenda 2010 umgesetzt werden, überhaupt noch als Dialogpartner taugt, blieb bei Peters eine nähere politische Positionsbestimmung im Sinne einer autonomen Gewerkschaftspolitik offen, ohne die aber der berechtigten Kritik an der Sozialdemokratie eine praktikable Perspektive fehlt. Auch der Gewerkschaftstag selbst befasste sich nicht wirklich ernsthaft mit dem realen Problem, wie Gewerkschaften politische Durchschlagkraft ohne Verbündete im politischen Raum erzielen können. Stattdessen gab es eine eher gespenstische Diskussion um die Zulässigkeit von politischen Streiks. Die schon im ersten Teil des Gewerkschaftstages in Frankfurt breit geteilte scharfe Kritik an der "Agenda 2010" bleibt politisch nahezu folgenlos. Die Gewerkschaften sind sich zwar einig in der Kritik, doch bleibt ihre Haltung widersprüchlich. Auch wenn es in einigen Betrieben zu breiten Aktionen zur Verteidigung der Tarifautonomie kam, kann doch von einer Bewegung gegen den Sozialabbau nicht die Rede sein, schon gar nicht von einem "heißen Herbst", wie er einmal vollmundig angekündigt worden war.

In seinem Grundsatzreferat skizzierte Peters Eckpunkte für ein gewerkschaftspolitisches Reformkonzept. Dazu gehört eine Betriebspolitik, bei der die Menschen wieder stärker in den Mittelpunkt rücken, wobei u.a. auch eine altersgerechte Arbeitsgestaltung ein wesentliches Element darstellt. Weiter nannte er eine Tarifpolitik, die am Ziel der Verteilungsgerechtigkeit festhält, die sich allerdings stärker um die Frage der Differenzierung kümmern muss. Einen Schwerpunkt der gewerkschaftlichen Reformpolitik sieht Peters in der solidarischen Sozialstaatsreform mit der Stärkung der finanziellen Basis durch eine "Erwerbstätigenversicherung", beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik, Förderung der Frauenerwerbstätigkeit und stärkere Förderung der Bildung. Weitere Punkte betreffen eine stärkere europäische Ausrichtung der Gewerkschaftspolitik und das Eintreten für eine "Globalisierung mit menschlichem Antlitz".

Auch wenn Peters den Debatten um die Entschließungen nicht vorgreifen wollte, so blieben doch die Vorstellungen zu gewerkschaftlichen Kernthemen eher blaß. Zweifellos ist "gute Arbeit" ein ausbaufähiges Projekt gewerkschaftlicher Arbeitspolitik, bei dem die Gestaltung einer altersgerechten Arbeitswelt ein Schlüsselthema ist – aber darin kann sich die Neuausrichtung der inhaltlichen Schwerpunkte der Betriebspolitik nicht erschöpfen. Und in der Tarifpolitik hat sich Peters damit zufrieden gegeben, die Linie allgemein vorzugeben: "Wir brauchen ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept. Unsere tarifpolitischen Verteilungsziele, unsere Vorstellungen für eine solidarische Finanzierung der Sozialversicherungen und für eine gerechte Steuerreform müssen ineinander greifen." Vor dem Hintergrund der tarifpolitischen Schwächung in den vergangenen Jahren und der aktuellen Auseinandersetzungen mit rot-grüner Umverteilung sollte rasch an die Bearbeitung dieser Aufgabenstellung gegangen werden.

Zu begrüßen ist, dass gerade die Globalisierungsfrage und damit auch das positive Aufgreifen der globalisierungskritischen Bewegung zu einem wesentlichen Eckpunkt von Gewerkschaftspolitik gemacht wurde. Eher enttäuschend ist jedoch die europäische Dimension, wo wenig Vorstellungen vorhanden sind und z.B. noch nicht einmal die Problematik der Europäischen Betriebsräte aufgegriffen wurde.

Der Gewerkschaftstag selbst hat wenig zur inhaltlichen Vertiefung und gewerkschaftspolitischen Akzentuierung beigetragen. Zentrale kontroverse Themen wurden vertagt. Dies gilt für die Tarifpolitik, wo die Frage der Differenzierung umstritten ist. Hier soll – so Huber – ein breiter innergewerkschaftlicher Diskussionsprozess mehr Klärung bringen. Ähnliches gilt für die gewerkschaftliche Bildungspolitik. So wurde mit der Annahme des Antrags, wonach es in 2006 zu einer großen Bildungskonferenz kommen soll, die es entsprechend vorzubereiten gilt, der Kontroverse die Spitze genommen. Allerdings stießen hier bereits in Frankfurt die Gegensätze zwischen denjenigen, die die gewerkschaftliche Grundlagenbildung durch die vom Vorstand angestrebten Veränderungen in Frage gestellt sehen, und eben deren Vertretern stark aufeinander.

So vermochte der Gewerkschaftstag insgesamt wenig Akzente zu setzen. Dazu beigetragen hat allerdings auch eine Regie, die die politische Debatte kaum zuließ. Offensichtlich in dem Bestreben, das nach der Wahl des neuen Vorstands mühsam erreichte einheitliche Erscheinungsbild nicht zu gefährden, war eine Diskussion des Grundsatzreferats erst gar nicht vorgesehen. So konnte die politische Debatte nur sehr verkürzt und beschränkt im Rahmen der Antragsberatung erfolgen. Mit der Beratung der Anträge wurde man im Übrigen auch nicht fertig, so dass der verbleibende Rest in den Beirat überwiesen. In dieses Bild eines Gewerkschaftstages, der "business as usual" demonstriert und damit an den eigentlichen Problemen weitgehend vorbeigeht, gehört auch, dass man einen ganzen Tag der Satzungsberatung widmete und dabei dann noch den Bundeskanzler einschob, ohne dass dieser – außer einer überreichten Erklärung zur Tarifautonomie – mit der Position der IG Metall konfrontiert wurde.

Um die politische Diskussionskultur der IG Metall ist es nicht gut bestellt. Dabei hatte es in Frankfurt eigentlich so schlecht nicht angefangen. Es gab eine sehr breite Diskussion, wobei vor allem der verlorene Arbeitskampf im Osten im Mittelpunkt stand. Dabei wurden auf der einen Seite Anlage und Durchführung des Arbeitskampfes kritisiert, andererseits aber auch die innergewerkschaftliche Solidarität und die Rolle von Betriebsräten aus der Automobilindustrie einer kritischen Betrachtung unterzogen. Auch Peters ging in seiner Vorstellung selbstkritisch auf den Arbeitskampf ein, ließ jedoch die eigentliche politische Analyse, die Grundlage für die weitere gewerkschaftspolitische Debatte ist, vermissen. In Hannover spielte der verlorene Arbeitskampf keine große Rolle mehr. Dabei wäre es dringend notwendig, diesen Arbeitskampf aufzuarbeiten, hat er doch erhebliche politische und organisatorische Defizite der IG Metall aufgezeigt – Defizite, die die gesamte Organisation betreffen und eben nicht nur die ostdeutschen Bezirke und Verwaltungsstellen, wie das manchmal dargestellt wird. Es ist für die IG Metall von grundlegender Bedeutung, inwieweit sie im Osten tarifmächtig bleibt bzw. wieder wird.

Mit dem Gewerkschaftstag in Frankfurt/Hannover hat die IG Metall zunächst einmal die aufgebrochenen personellen Konflikte überwunden. Wie weit dies trägt, müssen die nächsten Monate erweisen. Ein politisch-inhaltlicher Aufbruch konnte er vielleicht noch nicht sein. Die IG Metall muss überzeugende Antworten in der Tarifpolitik finden, wo die Kontroverse erst einmal vertagt wurde. Dies gilt fast noch mehr für die Betriebspolitik, wo die Mitbestimmung unter erheblichem politischen Beschuss steht und sich die Gewerkschaften in der Defensive befinden. Dazu gehört auch die europäische Dimension, wo wenig Konzepte vorhanden sind. Zugleich muss sie sich der internen Organisationsfrage stellen. Dazu reichen Appelle, mehr Mitglieder zu werben, nicht. Die immer weitere Reduzierung der Zahl der geschäftsführenden Vorstandsmitglieder auf nunmehr nur noch sieben ist organisationspolitisch ein Fehler. Damit ergeben sich nicht nur Probleme bei der Organisation der inhaltlichen Arbeit, man begibt sich vielmehr angesichts der vorhandenen Zwänge der Besetzung auch der Möglichkeit, politisch unterschiedliche Positionen, wie sie in der IG Metall vorhanden sind, im geschäftsführenden Vorstand zum Ausdruck kommen zu lassen. Überdacht werden sollte auch die Rolle der Bezirksleiter, die entsprechend der Satzung der IG Metall nicht gewählt werden, sondern Angestellte des Vorstands sind. Ob dies angesichts ihrer doch hervorgehobenen und bisweilen auch verselbständigten Rolle wirklich sinnvoll ist, mag bezweifelt werden. Jedenfalls müssen die Führungsgremien der IG Metall politisch gestärkt werden. Diese dürfen nicht nur im ersten und zweiten Vorsitzenden bestehen.

Notwendig ist auch die verstärkte Weiterführung der Debatte um die Rolle der Gewerkschaften und ihres Verhältnisses zur Politik. Angesichts der Entwicklung der Sozialdemokratie mit ihrer Abwendung von der Kultur der Arbeit und ihrer Hinwendung zur Kultur des Unternehmens verlieren die Gewerkschaften einen historischen Repräsentanten gewerkschaftlicher Anliegen im politischen Raum, der nicht einfach ersetzt werden kann – zumal die politische Linke außerordentlich schwach ist. Damit ist auch das "Bündnis für Arbeit" faktisch tot. Das Verhältnis von Gewerkschaften und Politik muss neu bestimmt werden. In diesem Zusammenhang spielen die sozialen Bewegungen eine wichtige Rolle. Vor allem aber kommen die Gewerkschaften in der Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten und in der Zielsetzung der Schaffung einer sozial gerechten Gesellschaft um die Wahrnehmung eines eigenständigen politischen Mandats gar nicht herum.

Heinz Bierbaum ist Professor in Saarbrücken und leitet das INFO-Institut.

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