1. Oktober 2006 Bernhard Müller

Aufwind für den Rechtsextremismus

Der Einzug der NPD in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und die Erfolge dieser rechtsradikalen Partei in einigen Berliner Bezirken hat in der politischen Klasse die schon bekannte Betroffenheits- und Erklärungsrhetorik ausgelöst.

Alle bislang herangezogenen Erklärungsmuster (Prostest-, Ost- oder Jugendphänomen) werden erneut angeführt, ohne dass der moralischen Empörung politische Taten folgen, die an die vermuteten Wurzeln gehen. Gegen Protest hülfe eine Änderung bei dem, wogegen sich der Protest richtet, z.B. dem Sozialabbau. Gegen fehlende Arbeitsplätze hülfe eine Politik, die Arbeitsplätze schafft. Und gegen den Protest hülfe eine radikal veränderte politische Kommunikation vor Ort. Aber letztlich setzt sich die Formel von der Alternativlosigkeit der gegenwärtig praktizierten Politik durch. Und diese politische Konzeption stellt selbst die wenigen Finanzmittel für die Aufklärungsarbeit gegen Rechts zur Disposition. Für die realen oder gefühlten Nöte derer, die sich nicht mehr repräsentiert sehen und deshalb (ganz überwiegend) nicht mehr wählen gehen oder die rechtsextreme Option wahrnehmen, ist da kein Platz. Bei der Verarbeitung dieser Form der politischen Abschreibung hilft die Formel von der "Normalisierung" im europäischen Vergleich. "Darf man sich deswegen, wenn die braunen Brüder hierzulande wieder Erfolge feiern, damit beruhigen, dass politische Perversionen eben keine deutschen Spezialitäten sind?" (Heribert Prantl) Man darf nicht, aber man macht es trotzdem.

Fest steht: Mit dem Einzug von NPD/DVU in drei Landtage (Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen – NPD, Brandenburg – DVU) wie auch ihren lokalen Erfolgen bei den Kommunal- und Bezirkswahlen in Niedersachen und Berlin hat sich der Rechtsextremismus im politischen System der Berliner Republik festgesetzt. Seine Wähler findet er überproportional bei jungen Männern, Arbeitslosen, Arbeitern und Selbstständigen.

Fest steht auch, dass sich die politische Linke schwer tut bei der Erklärung des und dem Umgang mit dem Rechtsextremismus. Die massenhafte Abwanderung der früheren WählerInnen der Linkspartei.PDS in Berlin in die Wahlenthaltung und ihr (wenn auch bescheidener) teilweiser Wechsel zu den Rechtsparteien haben deutlich gemacht, dass die eigene Regierungspraxis wie auch das politische Angebot viele WählerInnen nicht überzeugt haben. Dies und die wachsende Attraktivität der extremen Rechten allein auf die Bundespolitik und die (unbestrittenen) Strukturprobleme etwa Berlins oder Mecklenburg-Vorpommerns mit seiner hohen Arbeitslosigkeit zu schieben, wird der Situation nicht gerecht. Jede Rückführung der gestiegenen Akzeptanz des Rechtsradikalismus auf singuläre Ursachenzusammenhänge trägt mehr zur Mythologisierung denn zur Aufklärung bei.

Zukunftsängste und wachsende soziale Spaltung

Zunächst müsste zur Kenntnis genommen werden, dass sich seit Jahren eine fremdenfeindliche, rassistische Struktur im Alltagsbewusstsein ausbreitet. Zu Recht verweisen Sozialforscher darauf, dass hier massive Zukunftsängste, eine wachsende Verunsicherung über die eigene Lebenslage und die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft einen Verursachungszusammenhang bilden und wechselseitig aufeinander wirken. Die von dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer u.a. herausgegeben Studie "Deutsche Zustände, Folge 4" (2006) weist für das Jahr 2005 folgende Befunde aus:

1. Zukunftsängste und Verunsicherung: "Angst vor sozialem Abstieg verspüren heute etwa die Hälfte von allen Befragten, also nicht nur Befragte in den unteren, sondern auch in mittleren und gehobenen Soziallagen... Seit 2002 nimmt auch die Anerkennung sowohl im Beruf als auch im Alltag, die für die Integrationsqualität einer Gesellschaft zentral ist, signifikant ab."

2. Fremdenfeindlichkeit: "'Es leben zu viele Ausländer in Deutschland' – die Zahl derjenigen, die diesem Satz eher oder voll und ganz zustimmen, ist von 2002 bis 2005 kontinuierlich von 55% auf 61% gestiegen." 36% wollen Ausländer in ihre Heimat zurückgeschickt sehen, vor drei Jahren waren es etwa 28%. Den Vorwurf, dass Ausländer eine Belastung für das soziale Netz bedeuten, erheben 59% der Befragten – ein dramatischer Anstieg gegenüber 2002 (40%).

3. Rechtspopulistisches Potenzial: "Die Neigung, schwache Gruppen abzuwerten, ist bei Personen stärker ausgeprägt, die hohe Orientierungsunsicherheiten aufweisen. Diese Orientierungslosigkeit ist in ihren politischen Folgen besonders ernstzunehmen, weil einerseits die politischen Ohnmachtsgefühle in der politischen Mitte besonders ausgeprägt sind und andererseits das rechtspopulistische Potenzial im Zeitraum von 2002 und 2005 von 20% auf inzwischen 26% zugenommen hat. Dies ist ein Potenzial, dass sich insbesondere gegen Fremde, schwache Gruppen wendet".

Die politische Ökonomie der Unsicherheit, Kennzeichen des entfesselten Kapitalismus, setzt sich um in kulturelle Verunsicherungen mit dramatischen Folgen für gesellschaftlich schwache Gruppen, die Fremdheitsgefühle "im eigenen Land" auslösen, als wirtschaftliche Konkurrenz wahrgenommen werden, eingeschliffene kulturelle Selbstverständlichkeiten infrage stellen oder angeblich die öffentliche Ordnung stören.

Ein ganz wesentlicher Aspekt dieses Syndroms ist freilich auch die weit verbreitete Einschätzung einer stark eingeschränkten Kompetenz der Politik bei der Steuerung oder Kontrolle der sozioökonomischen Prozesse.

Sündenböcke

Die rasche Ausweitung des rechtspopulistischen Potenzials steht in engem Zusammenhang mit der Politik, die in der vielgerühmten "Mitte" der Republik betrieben wird. Mit der Agenda 2010 wurde das "Modell Deutschland" unter Rot-Grün weitestgehend demontiert. Die große Koalition setzt diese Politik beschleunigt fort. Den BürgerInnen werden Veränderungen des Arbeitsmarktes, der Sozialsysteme, aber auch der Bildungs- und Kulturinstitutionen zugemutet, weil vermeintlich die globalisierte Ökonomie und andere Strukturveränderungen keine Alternative zuließen.

Die allseits bekannte Reaktion der mehr oder minder Betroffenen sind Unsicherheit und Zukunftsängste. Das Vertrauen in die politischen Parteien und das politische System insgesamt sinkt dramatisch, weil die Politik in den Augen großer Teile der Bevölkerung ihre Steuerungs- und Ausgleichsfunktion verloren hat und zum Selbstbedienungsladen für die politische Klasse verkommen ist.

An diese Erfahrungen, Sichtweisen und Vorurteilsstrukturen knüpfen die rechtsextremen Parteien an und suchen das Unbehagen und die Unzufriedenheit, ja den Zorn eines großen Teils der Lohnabhängigen und der mehr oder minder an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängten sozialen Schichten mit dem Angebot von rassistisch unterfütterten schnellen Scheinlösungen für sich zu instrumentalisieren. Vor dem Hintergrund des Verfalls politischer Institutionen, wachsender Sorge um die soziale Zukunft und einer stärker wahrgenommenen Spaltung der Gesellschaft werden Sündenböcke gesucht – und gefunden.

Im rechten Lager bemühen sich vor allem NPD und DVU um Vereinheitlichung und "Modernisierung". Sie kaschieren ihre programmatische Nähe zu früheren faschistischen Versuchen, den zivilisatorischen Fortschritt zurückzuwerfen und bemühen sich um den Anschluss an das gewachsene Potenzial von Zukunftsängsten, Vertrauensverlust und Parteienfeindlichkeit.

Ihre Erfolge in Deutschland waren nur möglich, weil wir auch bei uns eine partielle Modernisierung und Bündelung des Rechtsextremismus erleben, wie sie in anderen europäischen Nachbarländern schon viel früher sichtbar wurde. So setzt die NPD als die führende und treibende Kraft im rechtsextremen Lager auf

  erstens eine Modernisierung der Organisation und Kommunikation. Beispielsweise hat die NPD in Mecklenburg-Vorpommern "durch einen hochprofessionellen Wahlkampf und die Unterstützung der im Land gewachsenen Neonazi-Kameradschaften ihre Wähler mobilisiert";

  zweitens auf eine Bündelung der Kräfte (Wahlabsprachen und Bündnisse);

  drittens eine Verschiebung ihrer programmatischen Schwerpunkte: Die Vorstellung eines "nationalen Sozialismus" wird in die Themen Arbeit und soziale Gerechtigkeit eingebettet.

Die NPD greift die Politik der großen Koalition als "menschenfeindliche Politik" an. Sie forderte und versprach z.B. im Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin u.a.:

  die Aufhebung der Praxisgebühren und die Einführung einer Bürgerversicherung, die sie "Volksversicherung" nennt;

  die Abschaffung der Hartz IV-Gesetze. "Sie diskriminieren die sozial Schwächsten und treiben sie in die Armut";

  einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,80 Euro;

  keine Privatisierung öffentlichen Eigentums. "Privatisierung ist Diebstahl von Volkseigentum";

  "Bildung darf keine Frage des Geldbeutels der Eltern sein! Bildungsangebote müssen unabhängig von der sozialen Herkunft allen Kindern zugänglich gemacht werden";

  Arbeit und Sozialleistungen zuerst für Deutsche.

Rassistische Konzeptionen wie sie von der NPD et al. vertreten werden, haben sich schon in Dänemark, Frankreich, Italien, Österreich etc. als zugkräftig erwiesen. Restriktive Zuwanderungs- und Asylpolitik, Beschränkung der Sozialleistungen auf deutsche StaatsbürgerInnen und Rückführung von "Ausländern" – das, was hier an "Krisenlösung" angeboten wird, ist einfach und dumm, aber nicht ohne Attraktivität, weil sich die etablierten Parteien damit nicht auseinandersetzen bzw. bestimmte Teilaspekte sogar in ihre Politik übernehmen.

Ob der NPD der Spagat zwischen aggressiv-neonazistischer und deutschnationaler Partei gelingt, bleibt offen. "Die NPD ist militant – und verbirgt das nur kurzzeitig, wenn es opportun erscheint... Sie ist jung, gut organisiert, und ihre wenig präsentablen Führungsfiguren treten als ›Kümmerer‹ auf, die sich der Alltagssorgen annehmen: Erst kommt ihr Protest gegen die Strompreiserhöhung, die braune Soße kommt hinterher." (Prantl) Derzeit ist eine vergleichbare Entwicklung hin zu einer parteipolitisch gebundenen rechtspopulistischen/-extremen Sammlungsbewegung wie z.B. in Dänemark oder Italien noch nicht in Sicht.

Was tun?

Vorurteilsstrukturen und Ohnmachtsgefühle entwickeln sich im Kontext von gesellschaftlichen Krisenprozessen, die in ihren Ursachen unbegriffen bleiben. Gesellschaftlicher Wandel wird zu einem unvermeidlichen und quasi natürlichen Prozess, dem die Menschen ausgesetzt sind und den auch Politik nicht mehr entscheidend beeinflussen kann.

Im Zentrum linker Gegenstrategien steht deshalb die Aufklärung über die gesellschaftlichen Ursachen dieser Fehlentwicklungen mit dem Fokus auf die Verteilungsfrage. Und – daraus folgend: Es gibt sehr wohl gesellschaftliche Alternativen. Dazu bedarf es eines radikalen Politikwechsels. Unsere Botschaft muss sein: Über eine Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft kann sozialer Wandel gestaltet und soziale Sicherheit hergestellt werden und so dem sozialen und ethnischen Ausgrenzungsdiskurs der Garaus gemacht werden Die Aufklärung darüber muss populär sein, ohne in falsche Vereinfachungen gesellschaftlicher Sachverhalte zu verfallen.

Gleichzeitig gilt es den rechtsextremen oder auch rechtspopulistischen Partei aktiv entgegenzutreten, und in der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass alte oder neue Rechte über keine Zukunftslösungen verfügen und eine Gefahr für die Demokratie darstellen.

Wenn es uns allerdings nicht gelingt, durch gesellschaftliche Mobilisierung einen Politikwechsel und eine Erneuerung der politischen Kultur herbeizuführen und das Projekt Neue Linke vernünftig zu Ende zu bringen, werden wir – wie schon unsere europäischen Nachbarländer – erleben, dass rassistische Parteien in Regierungskoalitionen aufrücken.

Bernhard Müller ist Redakteur von Sozialismus.

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