28. November 2013 Klaus Wernecke: Christopher Clarks Mächte auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg

Außenpolitik ohne Unterbau

Vor über 50 Jahren begann die Fischer-Kontroverse zur »Kriegsschuldfrage« am Ausbruch des Ersten Weltkrieges (vgl. Fischer 1961). Schließlich überwog ein Konsens: Alle beteiligten Mächte tragen – langfristig – Mitverantwortung für den Weg in den Ersten Weltkrieg. Im Juli 1914 aber zündet die Deutsche Reichsregierung die erste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

1963 veröffentlichte der Hamburger Historiker Imanuel Geiss, damals Assistent am Lehrstuhl von Fritz Fischer, später Professor in Bremen, eine umfangreiche Dokumentation zu »Julikrise und Kriegsausbruch«. Allein die Schriftstücke der beiden Bände füllen über 1.000 Seiten. Im Vorwort wies Geiss darauf hin, »dass es bisher noch keine Gesamtdarstellung der Zeit vor dem 1. Weltkrieg gibt, die auch nur annähernd zufriedenstellen könnte; dazu ist das Thema zu groß« (Geiss 1963, Bd. 1: 35). Es ist allerdings anzumerken, dass schon die dichte Darstellung von George W.F. Hallgarten (1963) zum »Imperialismus vor 1914« und seinen »soziologischen Grundlagen« die Außenpolitik der europäischen Mächte insgesamt beleuchtete. Vor allem zur Verknüpfung von Wirtschaftsinteressen und Politik findet der Leser hier reiches Material. Auch die DDR-Wissenschaft brachte einige vorzügliche Imperialismus-Studien hervor.

Rund 50 Jahre nach dem Diktum von Geiss versucht sich der Historiker Christopher Clark[1] am außenpolitischen Teil dieses Themas. Er lehrt am St. Catharine’s College in Cambridge. Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Das ist Clarks erkenntnisleitende Fragestellung. Er versucht vor allem, die deutsche Seite von Verantwortung zu entlasten.

Die politisch Handelnden sind hier Regierungschefs, Monarchen, (Außen-)Minister und die Diplomatischen Korps mit den Botschaftern an der Spitze, partiell auch deren vermutete, weiterreichende Netzwerke. Lesenswert ist deshalb die Skizzierung der Gruppen- und Lagerbildung unter den Trägern der Außenpolitik der Großmächte. Überwiegend werden schon gedruckte Quellen, Aktenreihen, Memoiren, Tagebücher und Briefsammlungen herangezogen. Hinzu kommen u.a. das Tagebuch des damaligen Staatspräsidenten Raymond Poincaré aus der Französischen Nationalbibliothek, Akten aus den britischen National Archives sowie vereinzelte zusätzliche Aktenstücke aus den europäischen Archiven.

»Serbische Schreckgespenster«

Doch nicht in der weiten Welt des Imperialismus der Großmächte um 1900 eröffnet Clark seine Darstellung, sondern auf einer weit kleineren Bühne im Balkan. »Serbian Ghosts« ist der Titel des ersten Kapitels im englischen Original. Und der einfühlsame Übersetzer kommt der Intention des Verfassers entgegen, wenn es auf Deutsch verstärkend heißt: »Serbische Schreckgespenster«. »Mord in Belgrad« ist der Aufmacher dieses Kapitels. Detailliert wird der blutige Ablauf eines Offiziersputsches gegen den Serbischen König im Juni 1903 geschildert. Abgehackte Körperteile, ausgenommene Leichen: »Die einzelnen Finger und der Körper des Monarchen fielen zu Boden.« Dann versammeln sich die Attentäter im Garten, »um eine Zigarette zu rauchen« /23-25/.

So werden die Leser schon emotional auf das Serbien der Julikrise eingestimmt. Denn der Putsch schuf »Probleme, die sich massiv auf die Ereignisse von 1914 auswirken sollten. Vor allen Dingen löste sich das konspirative Netzwerk, das sich bis zum Mord an der Königsfamilie gebildet hatte, nicht einfach auf, sondern blieb weiterhin eine wichtige Kraft in der serbischen Politik und im öffentlichen Leben.« /37, s.a. 53/ Zudem ließ die nationale serbische Vision »kaum vermeiden, dass die Verwirklichung serbischer Ziele gewaltsam verlaufen würde« /51/. Bis zur Julikrise reicht dieser Eintritt in die europäische Szene, den folgenden Kapiteln zeitlich vorauseilend. Mit dieser Kontinuitätslogik könnte ein anderer Historiker unter dem Titel »Deutsche Militärgespenster« mit dem Genozid an Hereros und Namas in Deutsch-Südwest eröffnen und so vom Jahr 1904/05 eine mentale Bresche zum Verhalten der durch die Politik gedeckten Militärs im Juli 1914 schlagen. Freilich hatte der getötete König Alexander eine Art »neoabsolutistischer Herrschaft« eingeführt, geheime Wahlen und die Pressefreiheit abgeschafft. Nach dem »Königsmord« (bei Clark ohne Anführungszeichen, siehe z.B. 39 u. noch 119) wurde die demokratische Verfassung von 1888 im Wesentlichen wieder in Kraft gesetzt. Und war nicht der in Folge »dominierende Politiker« an der Spitze einer Reihe von serbischen Kabinetten bis 1918, Nikola Pašić, ein eher gemäßigter Vertreter, der nach den Balkankriegen »erkannte, dass Serbien vor allem Frieden brauchte« /96/? 1906 hatte er eine Reihe hoher Putschoffiziere in den Ruhestand versetzt /44/.

Im Unterschied zu seiner Darstellung der Großmächte-Diplomatie beschreibt Clark relativ detailliert die innenpolitische und sozialökonomische Entwicklung Serbiens seit dem frühen 19. Jahrhundert. Er versucht so, auch Motive der Außenpolitik am Vorabend des Weltkrieges zu bestimmen. Es wird ein »trauriges Bild« /60/ der serbischen Gesellschaft skizziert: ökonomisch darbend, kleinbäuerlich-analphabetisch, kulturell beschränkt, (außen-)politisch aggressiv und chauvinistisch. Die »gefährliche Dynamik dieser politischen Kultur« sollte sich im Juni und Juli 1914 zeigen /66/. Insgesamt darf sich der bildungsbürgerliche Leser des deutschen Feuilletons nach 77 Seiten »Serbischer Schreckgespenster« eine Fiaker-Fahrt durch das pulsierende Wien des Fin de siècle ersehnen. Eine Beteiligung der serbischen zivilen Regierung am Attentat von Sarajewo beweist Clark nicht. Im Gegenteil. Pašić wandte sich noch am 24. Juni gegen die verräterische Tätigkeit von Offizieren, die einen Konflikt mit Österreich-Ungarn heraufbeschwören wollten /92/. Noch vor der Reise des Erzherzogs nach Bosnien warnte die serbische Regierung die Wiener, ein Attentat sei möglich. Doch Clark ist diese »gewisse Warnung« zu ungenau, der Situation nicht angemessen, ja eigentlich sogar »ein Vertuschungsmanöver« /95/.
»Das Vermächtnis der serbischen Geschichte und insbesondere die Entwicklung des Königreichs seit 1903 lasteten im Sommer 1914 schwer auf Belgrad.« /98/ Aber nicht das Vermächtnis der österreichisch-ungarischen auf Wien und das der deutschen seit 1897, Start zur »Weltpolitik«, auf Berlin? Obwohl letztlich die europäischen Großmächte und nicht Serbien im Juli 1914 über Krieg oder Frieden entschieden, ist dem Leser schon ein Hauptübeltäter vorgestellt.

Die Dynamik der Bündnisse und deutsche »Weltpolitik«

Die Außen- und Bündnispolitik der europäischen Großmächte und ihre Eigendynamik stehen danach im Zentrum der Betrachtung. Deutschland erscheint hier immer stärker eingekreist von den Mächten der (werdenden) Triple Entente. Die Unterschiede zwischen militärischer Planung für einen Krieg und deren Bedeutung für die Realpolitik verschwimmen sprachlich in einigen Passagen, obwohl der Autor einmal auf den hypothetischen Charakter von Planspielen hinweist /457/.

Eine der strukturellen, langen Ursachen der Julikrise sieht Clark in der italienischen Invasion in Libyen im September 1911, »ein nicht provozierter Angriff auf eine unverzichtbare Provinz des Osmanischen Reiches«. Sie führte zu »einer Kaskade opportunistischer Angriffe auf osmanisch kontrollierte Gebiete auf dem Balkan« und damit letztlich zur (Balkan-)Konstellation von 1914/ 72 u. 322ff., v.a. 327/. Andererseits erscheint die Außenpolitik der Mächte in Richtung 1914 immer stärker von individuellen Charaktereigenschaften der Akteure bestimmt. Zu plakativ wird den Handelnden dabei die Eigenschaft »aggressiv« oder »friedliebend« verliehen.

Den Übergang des Reichs zur »Weltpolitik« Mitte der 1890er Jahre sieht Clark »im Streben nach Autonomie« begründet, »nach freier Hand in der Weltpolitik«. Das gelte auch für die berechtigte Entscheidung, eine große Flotte zu bauen. »Die Deutschen hatten allen Grund zu der Annahme, dass man sie nicht ernst nehmen würde, wenn sie sich nicht eine starke Seestreitkraft verschafften.« Den deutschen Flottenbau sieht Clark als nicht bedrohlich für das britische Empire an. Die Angst vor einem Seekrieg in der britischen Öffentlichkeit sei der Propaganda einer Marine-Lobby geschuldet. Großbritannien sei locker in der Lage gewesen, den deutschen Kampfschiffbau zu toppen /202ff./. Das stimmt, wenn man die Werftkapazitäten beider Länder vergleicht. Was Clark hier nicht erwähnt, sind die Kosten, die das Marine-Wettrüsten dem britischen Staatshaushalt zusätzlich aufbürdete. In einem anderen Zusammenhang nennt er dies aber doch. So gewannen die britischen Liberalen die Parlamentswahlen 1906 u.a. mit dem Versprechen, die Rüstungsausgaben zu kürzen /297 u. 626/.

Die empirisch fundierten Darstellungen des frühen Sterns der modernen deutschen Sozialgeschichtsschreibung, Eckart Kehr (1930), zum Thema deutscher Schlachtflottenbau und innenpolitische Interessen sind hier vergessen. Der Einfluss von Rüstungsinteressen und Rüstungskosten auf die Außenpolitik der Mächte wird nicht erörtert. Den Primat der Innenpolitik (Kehr 1965) dreht Clark zum Primat der Außenpolitik und im Kern zum Primat der Diplomatie. Seine Analyse kennt auch nicht die schon durch ihren Quellenfundus herausragende Untersuchung von Dirk Stegmann, Bismarcks Erben (1970). Dort steht zu lesen, dass der Großadmiral und spätere Staatssekretär des Reichsmarineamts, Alfred von Tirpitz, 1895 zum geplanten großen Flottenbau erklärte: Der sei »ein starkes Palliativ gegen gebildete und ungebildete Sozialdemokraten«. Ein Sprachrohr der am Bau von Schlachtschiffen auch ökonomisch interessierten Schwerindustrie sah hier einen Weg, um »aus den inneren Wirren herauszukommen«. Und unabhängig von der Frage, ob mit oder ohne Flotte, wurde die Bedeutung einer aktiven Außenpolitik auch generell gesehen. Rudolf Martin schrieb 1896 in den regierungsnahen Preußischen Jahrbüchern unter dem Titel »Mehr Lohn und mehr Geschütze«: Eine erfolgreiche Weltpolitik könne die »nationale« und die »soziale« Frage gleichermaßen lösen. »Die Gesamtheit aller Verhältnisse weist das deutsche Volk auf den Krieg, den großen Vater aller Dinge.« (Stegmann 1970: 109) Martin wurde ein halbes Jahr später im Reichsamt des Inneren tätig, dort mit Zolltarifen und Handelsverträgen beschäftigt und 1901 zum Regierungs-Rat ernannt.

»Anfang und Mitte der neunziger Jahre war es Holstein, nicht der Kanzler oder Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, der die deutsche Außenpolitik gestaltete.« So Clark /263/. Was aber nicht bei ihm steht: Friedrich von Holstein, Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, schrieb im April 1897 an den Diplomaten und späteren Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Kiderlen-Waechter, die Regierung Wilhelms II. brauche »einen greifbaren Erfolg nach außen, der dann wieder nach innen zurückwirken würde. Dieser Erfolg ist nur zu erwarten entweder als Ergebnis eines europäischen Krieges, eines weltgeschichtlichen Hazardspiels oder aber einer außereuropäischen Erwerbung.« (Stegmann 1970: 109)

Das nennt Clark »Autonomie« und »freie Hand«. Den möglichen Zusammenhang zwischen innenpolitischer Herrschaft und Weltpolitik, wie »manche Historiker« meinten, erwähnt er nur in einem einzigen, längeren Satz. Nach deren Meinung sei es auch darum gegangen, »abweichenden politischen Meinungen wie denen der Sozialdemokratie den Reiz zu nehmen« /208/. So werden die scharfen sozialen Konflikte in der Wilhelminischen Klassengesellschaft und die Repression der sozialdemokratischen Arbeiter bis hin zur ausgeprägten Klassenjustiz noch am Vorabend des Ersten Weltkrieges mit dem Etikett »abweichende politische Meinungen« überklebt (zur Klassenjustiz s. Saul 1974). Die scharfe Kritik an der durch innenpolitische, auch ökonomische Interessen der herrschenden Klassen bestimmten deutschen Außenpolitik in der Sozialdemokratie und an der Kolonialpolitik durch Teile der Linksliberalen und des Zentrums findet nicht statt. Der Name August Bebel kommt im Buch nicht vor.

Bebel, Mitglied des SPD-Parteivorstandes, warnte schon 1910 den britischen Generalkonsul in Zürich – und damit bewusst die britische Regierung – vor einer wachsenden militärischen Aggressivität Preußen-Deutschlands. Er halte »Preußen für einen schrecklichen Staat, von dem nichts als Schreckliches erwartet werden kann. ... Ich bin davon überzeugt, dass wir uns am Vorabend des schrecklichsten Krieges befinden, den Europa je gesehen hat.« Und im März 1913, als die große »Wehrvorlage« in der deutschen Presse debattiert wurde, urteilte er über die »Militärkaste, d.h. die preußischen Junker«: »Solange das Rückgrat dieser preußischen Kaste nicht gebrochen ist, wird es keinen Frieden in Europa geben.« (Bley 1975: 143 und 225). Bebel war Mitglied des Haushaltsausschusses des Deutschen Reichstages und kannte so finanzielle Details der deutschen Aufrüstung. Er starb im August 1913.

Die Taktik des Reichskanzlers Bethmann Hollweg zielte in der Julikrise auch auf die Integration der deutschen Sozialdemokraten in den nationalen Kriegswillen. Schon deshalb musste eine Bedrohung durch Russland aufgebaut, ein Verteidigungscharakter des kommenden Krieges konstruiert werden. Bei führenden SPD-Parlamentariern war der repressive Zarismus ein verhasstes Feindbild (siehe Fischer 1969: 699 u. 711; bei Clark nur kurz, 673). Das neue internationale System, das sich seit 1907 durch die Triple Entente herauskristallisierte, benachteilig­te, so Clark, »hauptsächlich das Deutsche Reich«. Das bedeute aber nicht, dass dies von allen anderen Mächten planmäßig herbeigeführt wurde /216/. »Die Zukunft war noch offen – wenn auch nur knapp«, resümiert der Autor die Lage am Vorabend des Krieges /470/.

Insgesamt sind die inneren sozialen, ökonomischen und politischen Einflüsse auf die Außenpolitik der Großmächte stark unterbelichtet. Das gilt vor allem für Deutschland, dann auch für Frankreich, Russland, Österreich und etwas weniger für Großbritannien. Eine Ausnahme macht nur, wie schon erwähnt, Serbien.

Deutsche Aufrüstung: Die Militärs und der Präventivkrieg

Die seit 1911 zunehmenden »Präventiv«-Kriegsforderungen des preußischen Generalstabschefs Helmuth von Moltke (d.J.) und seiner militärischen Entourage hatten, so Clark, keinen Erfolg bei den entscheidenden zivilen und monarchischen Spitzen des Reiches. Weil es kein gemeinsames deutsches Entscheidungsgremium wie etwa den Ministerrat in Petersburg gab, »erschwerte« das den deutschen Militärs, »eine politische Lobbygruppe für ihre Ideen zu bilden« /432/. Doch die große Denkschrift Moltkes vom Dezember 1912 forderte ein »beispielloses Wachstum der deutschen militärischen Friedensstärke«, wie Clark selbst zugesteht. Und weiter steht bei ihm zu lesen, dass die Generäle »bei Vorträgen in geheimen Sitzungen des Haushaltsausschusses des Reichstages« die »Umzingelung Deutschlands« in den »düstersten Farben malten« /428f./. Diese Lobbyarbeit war erfolgreich. Der Reichstag finanzierte die Milliarden-Wehrvorlage von 1913. Schon 1912 hatte es eine Steigerung der deutschen Rüstung zu Wasser und zu Lande gegeben. Solche Widersprüche durchziehen die »Schlafwandler« auf unterschiedlichen Ebenen, im Kleinen wie im Großen.

Die Bedeutung der großen Wehrvorlage für die wachsende Furcht der Entente-Mächte vor der deutschen militärischen Offensivstärke im Westen, vor einer neuen Kraft zum Erstschlag – »armée de premier choc« –, spielt bei ihm kaum eine Rolle. Und die exzessive nationalistische Pressekampagne, die, angefacht noch durch die Pressepolitik von Reichsregierung und Kriegsministerium, die Diskussion der Wehrvorlage in der deutschen Öffentlichkeit begleitete, schildert Clark nicht. So schrieb Hans Delbrück, Professor der Geschichte an der Universität Berlin, zur ideologischen Begründung der Hochrüstung in den regierungsnahen Preußischen Jahrbüchern: Die Lasten der Kriegsverfassung als bloße Versicherungsprämie (wie es bei Clark klingt, KW) hinzustellen, sei oberflächlich. »Als ob mit der Erhaltung des Friedens bereits das allerletzte und höchste aller Ziele erreicht wäre. Wir bedürfen der höchsten Kraftanspannung in unserer Kriegsrüstung, um auch den positiven Zielen, die unserem Volke im Wettkampf mit anderen Völkern auf der Erde gestellt sind, gerecht zu werden.« Und der Reichskanzler unterstrich diese beiden Sätze in dem ihm zugesandten Druckabzug zustimmend. Er antwortete Delbrück, dass er seine Ansicht zur Außenpolitik »in sehr vielen Richtungen teile, aber aus naheliegenden Gründen werde ich mich gerade über das slawische Problem nur vorsichtig aussprechen können« (Wernecke 1970: 216f.).

Die besondere verfassungsrechtliche Position des deutschen Militärs, zum Beispiel das Immediatrecht der Offiziere, erscheint bei Clark nicht. Vor allem aber fehlt die herausragende Rolle, die Militär und Militärisches in der bürgerlichen und adeligen deutschen Gesellschaft des Kaiserreiches spielten.

Von der Psychologie in die Psychiatrie

Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf, 1906-1911 und 1912-1917 österreichisch-ungarischer Generalstabschef, forderte schon Ende 1907 die Invasion und Annexion Serbiens. In den folgenden Jahren riet er u.a. zu »Präventiv«-Kriegen gegen Serbien, Russland und Italien. Clark zählt Conrad zu den drei besonders einflussreichen Personen in einem polykratischen Herrschaftssystem der k. u. k. Monarchie /146/. Dann beschreibt der Historiker relativ detailliert eine heftige Liebesaffäre Conrads, die »ein bemerkenswertes Licht auf seinen Charakter« werfe. »Die Bedeutung dieser Beziehung kann man nicht hoch genug veranschlagen; sie stand im Zentrum von Conrad von Hötzendorfs Leben in den Jahren von 1907 bis zum Kriegsausbruch und verdrängte alle anderen Sorgen, selbst die militärischen und politischen Fragen, die auf seinen Schreibtisch gelangten.« Sein Liebeswerben sei »eine triumphale Umsetzung des Kultes der Offensive bei der Brautwerbung« gewesen. Conrad betrachtete »den Krieg sogar als Mittel«, die Geliebte »in seinen Besitz zu bringen. ... als siegreicher Kriegsheld. ... Conrad von Hötzendorf stand exemplarisch für ein morsch gewordenes, geradezu überreiztes Männlichkeitsidol in Europa ... Conrad ging an die geopolitischen Zwänge der Habsburger Monarchie mit der gleichen monomanischen Fixiertheit heran, die er auch in seinem Liebesleben an den Tag legte.« /146-148/ Ist hier die eigentliche Wurzel der Julikrise zu suchen? Ziehen die Militärs auf Brautschau in den Krieg? Wieso haben sich dann, wie Clark selbst beschreibt, andere Politiker und Militärs auch ohne Liebeswerben politisch-militärisch »aggressiv« verhalten?

Kulturgeschichtlich tiefer und in partiellem Widerspruch zu seinen zwar kurzweiligen, aber analytisch allzu schlichten psychologischen Zuschreibungen, stellt Clark dann für Conrad fest: »Dieser zielstrebigen Kriegstreiberei lag eine sozialdarwinistische Philosophie zugrunde, der zufolge das Ringen und der Wettbewerb um die Vorherrschaft als unvermeidliche und notwendige Aspekte des politischen Lebens galten.« So habe es »viele junge Offiziere« gegeben, die, hier über Conrad hinausgehend, von einem Zusammenstoß zwischen slawischen und germanischen Völkern sprachen /149/. Nur junge Offiziere? In solchen Begriffen dachte auch Wilhelm II. am Vorabend des Weltkrieges (s.o.). Und Reichskanzler Bethmann-Hollweg sprach in seiner großen Rede zur Begründung der Wehrvorlage im Reichstag von einer möglichen »europäischen Konflagration ... die Slawen und Germanen einander gegenüberstellt«. Er halte »einen Zusammenstoß zwischen dem Slawentum und dem Germanentum« aber keineswegs für unvermeidlich und warnte vor dieser These. Aber er hatte diese völkische Perspektive in seine Argumentation aufgenommen und ihr dadurch, so die nationalliberale Magdeburgische Zeitung, »eine besondere Weihe verliehen«. Das alles liest man nicht bei Clark. Mit seiner häufig emotionalisierenden Sprache verstellt Clark rationale Analysen und versucht so, seine Thesen durch das Herz zu lancieren. Mit »Paranoia« werden reihenweise kleine und größere Interessen-Fixierungen verschrieen. »Manisch« ist ein den politisch Handelnden und anderen inflationär aufgeklebtes Etikett.

Zahlreich sind auch die von den Quellen nicht gedeckten oder sehr großzügig interpretierten Gemütszuweisungen. Wenn Wilhelm II. einen warnenden Brief Lichnowskys, des deutschen Botschafters in London, erhält, gerät er »in Panik« und beruft den »Kriegsrat« vom 8. Dezember 1912 in Potsdam. Die nicht zitierten Randbemerkungen Wilhelms zum Bericht aus London verdienen jedoch eher das sonst recht großzügig von Clark verliehene Prädikat »aggressiv.« So teilte der britische Kriegsminister Richard Haldane Lichnowsky mit, die Wurzeln der englischen Politik lägen darin, »das Gleichgewicht der Gruppen einigermaßen aufrechtzuerhalten«. Dazu die Anmerkung des Kaisers: »Wird sich ändern.« Und Haldane weiter: »England würde daher unter keinen Umständen eine Niederwerfung der Franzosen dulden können.« Anmerkung Wilhelms: »Sie [die Engländer, KW] werden es doch müssen.« Sein Schluss­kommentar lautete: »Das nennt es Friedenspolitik! Balance of Power! Der Endkampf der Slaven und Germanen findet die Angelsachsen auf Seiten der Slaven und Gallier.« (zit. in Tirpitz 1924: 361f.)

In der Julikrise wird Clark zoologisch: »Die Österreicher glichen Igeln, die ohne nach links oder rechts zu schauen, über eine Autobahn trippeln.« Man hört schon den russischen Schwerlaster mit seinem serbischen Anhänger nahen, der die armen Stacheltiere – Symbole der Defensive – platt fährt. Wenige Zeilen zuvor hatte es noch geheißen: Der k. u. k. Außenminister Berchtold »übernahm nach dem 28. Juni in recht beeindruckender Weise die Kontrolle über die politische Diskussion« /550/. Was denn nun? Aktiver politischer Mitgestalter des Kriegsbeginns oder sichtbehinderter Igel?
Zum Abschluss seines Kapitels »Das Ultimatum« zitiert Clark aus einem Brief von Sigmund Freud nach der Kriegserklärung an Serbien: »Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn.« /602/ Das rührt auch Clark. Noch lieber aber libidiniert er mit Preußen-Deutschland.

Presse und öffentliche Meinung

Ein methodisch schwaches und inhaltlich blasses Kapitel heißt »Presse und öffentliche Meinung«. Zu schmal ist auch hier die Literaturbasis. Die Auswirkung der unterschiedlichen europäischen Gesellschaften und ihrer politischen Systeme auf die vor allem bürgerlich bestimmte öffentliche Meinung und einen ihrer Hauptträger, die politischen Tageszeitungen, wird nur oberflächlich analysiert. Es fehlt der tiefere kulturgeschichtliche Kontext im Wandel der Vorstellungen über Krieg und Frieden. Einerseits, so Clark, sei durch die außenpolitischen Krisen am Vorabend des Weltkrieges in der deutschen Presse »eine immer stärker polarisierte Sichtweise der internationalen Beziehungen und ein sinkendes Vertrauen in diplomatische Lösungen« festzustellen. Dann folgt der Satz: »Aber es gab auch Ruhepausen dazwischen«. /311/

Was denn nun? Eine Tendenz zunehmender Polarisierung ist das eine, die Pressefehde bei konkreten Anlässen das andere. Welche Feind- und Freundbilder, welches Bild von Macht und Herrschaft in der Gesellschaft, welche Stereotypen anderer Nationalitäten und ihrer Außenpolitik werden publiziert? Wieweit werden sie fixiert und treten bei außenpolitischen Spannungen bis hin zum Kriegsbeginn 1914 wieder zu Tage? Dazu sollte Clark Pressestimmen vorstellen, die für die verschiedenen politischen Lager repräsentativ sind. Denn hier machte auch der Ton die Musik. Die Deutsche Arbeitgeber-Zeitung, offizielles Publikationsorgan des Vereins deutscher Arbeitgeberverbände und vom Preußischen Innenministerium als »regierungsfreundlich« eingestuft, schreibt zur Diskussion der großen Wehrvorlage im April 1913 mit Blick auf das Schlagwort vom Kampf der Slawen und Germanen: »Nicht Klassenkämpfe, die Marx und seine Anhänger wollen, sondern Rassenkämpfe machen den wichtigsten Inhalt der Geschichte aus.« Und in der Zukunft Maximilian Hardens, einer der bedeutenden politisch-kulturellen deutschen Zeitschriften, konnte ein 1911 erschienenes Buch mit dem Titel »Groß-Deutschland – die Arbeit des 20. Jahrhunderts« ausführlich und positiv besprochen werden. Darin heißt es über den Krieg der Zukunft gegen Frankreich, Russland und Serbien: Der siegreiche deutsche Krieg »darf dem Unterlegenen nichts lassen wie die Augen zum Weinen über sein Unglück«. Moralische Bedenken werden abgewehrt: »Gefühlspolitik ist Dummheit. Humanitätsduselei ist Blödsinn ... Recht und Unrecht sind Begriffe, notwendig im bürgerlichen Leben. Das deutsche Volk hat immer Recht, weil es das deutsche ist und 87 Millionen Volksgenossen zählt.« (Wernecke 1970: 215 u. 99)

Nicht zuletzt sollten jenseits der Betrachtung des wachsenden Nationalismus auch die kritischen, antibellizistischen Stimmen in den europäischen Gesellschaften und ihr jeweiliges innenpolitisches Gewicht zur Sprache kommen. So kam es z.B. in der Marokkokrise 1911 keineswegs zu »extremen Schwankungen der öffentlichen Meinung« /301/. Clark wirft hier Sozialdemokraten und bürgerliche Presse in einen Topf.

Julikrise und Kriegsbeginn 1914

Ein Schlüsseldokument der Julikrise 1914 ist das Protokoll des gemeinsamen Ministerrates der k. u. k. Monarchie vom 7. Juli 1914. Es ist schon bei Geiss abgedruckt, was Clark nicht erwähnt. Er zitiert es, unterschlägt dem Leser aber einige zentrale Passagen.

So betont der k. u. k. Ministerpräsident Graf Stürgkh, die deutsche Reichsleitung habe »rückhaltlose Bündnistreue zugesagt« und nahegelegt, »sofort zu handeln«. Eine Politik des »Zauderns und der Schwäche« laufe Gefahr, »dieser rückhaltlosen Unterstützung des deutschen Reiches zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr sicher zu sein« (fehlt bei Clark). Und Stürghk führt aus: »Wenn daher der Weg einer vorhergehenden diplomatischen Aktion gegen Serbien aus internationalen Gründen betreten werde, so müsste dies mit der festen Absicht geschehen, dass diese Aktion nur mit einem Krieg enden dürfe.« Diese Position fasst Clark sprachlich abgeschwächt zusammen. Nur der ungarische Ministerpräsident Tisza trat für eine weichere Fassung des Ultimatums ein, gab aber in den folgenden Tagen seinen Widerstand auf. Er sah die Vorherrschaft der ungarischen Magnaten durch eine weitere Einverleibung slawischer Bevölkerung bedroht. Am Nachmittag erscheint Generalstabschef Conrad in der Sitzung. Er wird von den Anwesenden u.a. gefragt, wo man (eventuell) den Kampf gegen Russ­land aufnehmen würde. »Es entspinnt sich auf Grund dieser Aufklärungen eine längere Debatte über die Kräfteverhältnisse und den wahrscheinlichen Verlauf eines europäischen Krieges«. Dieser Satz fehlt bei Clark, ebenso das Resümee des Protokolls, nachdem auch die Vorschläge Tiszas »aller Wahrscheinlichkeit nach zu der von ihm und den übrigen Mitgliedern der Konferenz für notwendig gehaltenen kriegerischen Auseinandersetzung mit Serbien führen werden«. Die Kriegs-Linie des k. u. k. Außenministers Berchtold setzte sich in den folgenden Tagen endgültig gegen Tisza durch. Clark nennt Berchtold einen »unerschütterlich standhaften Führer« /510/, der nun die Fäden der k. u. k.-Politik in der Hand hielt. Andererseits schreibt Clark über Conrad: nach dem Attentat in Sarajewo seien »jegliche Einschränkungen seines politischen Einflusses aufgehoben« gewesen /505/. Was denn nun, Berchtold oder Conrad?

Eine Reihe informierter Entscheidungsträger sah, dass ein Krieg gegen Serbien wahrscheinlich zum Großen Krieg führen würde. Im Berliner Auswärtigen Amt stellte man schon Anfang Juli fest, wenn es zum Krieg gegen Serbien käme, dann würde Russland mobilisieren »und der Weltkrieg [sic!, KW] würde nicht mehr aufzuhalten sein« (Geiss 1963, Bd. 1: 72). Diese Passage fehlt bei Clark, der den zugrundeliegenden Bericht zitiert /534/. Der Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, Zimmermann, soll nach einer späteren Erinnerung zum österreichischen Legationsrat Graf Hoyos schon am 5. Juli gesagt haben: »90% Wahrscheinlichkeit für einen europäischen Krieg, wenn Sie etwas gegen Serbien unternehmen.« Das zitiert auch Clark /531/. In Berlin lag der Schlüssel zum Großen Krieg. Ohne deutsche Rückendeckung hätte Österreich-Ungarn den Krieg gegen Serbien und damit das volle Risiko des europäischen Krieges nicht gewagt.

Ein Krieg gegen Serbien allein aber würde schließlich zur Besetzung des Landes durch die Truppen Österreich-Ungarns führen. Schon in seinem Schreiben an Kaiser Wilhelm vom 2. Juli 1914 hatte Kaiser Franz Joseph unmissverständlich formuliert: »Das Bestreben meiner Regierung muss in Zukunft auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens gerichtet sein.« (Geiss 1963, Bd. 1: 65, von Clark nicht zitiert) Serbien müsse »als politischer Machtfaktor am Balkan ausgeschaltet« werden (von Clark zitiert, 533). Es ist also nicht anzunehmen, dass Wien wegen der Bedenken Tiszas auf Dauer eine Annexion serbischer Gebiete abgelehnt hätte.

Aus dem Tagebuch von Kurt Riezler, enger Mitarbeiter des deutschen Reichskanzlers, zitiert Clark zwar vom 7.7.1914 einen Absatz zur Balkanpolitik /542/, doch es fehlt der Satz des Reichskanzlers: »Eine Aktion gegen Serbien kann zum Weltkrieg führen.« (Riezler 1910-1919: 182) Und vom folgenden 8. Juli 1914, die Anfrage Österreichs nach Unterstützung zum Vorgehen gegen Serbien ist in Berlin angekommen, zitiert Clark: »Kommt der Krieg aus dem Osten, so dass wir also für Oesterreich-Ungarn und nicht Oest[erreich]-Ungarn für uns zu Felde zieht, so haben wir Aussicht, ihn zu gewinnen.« Was Clark unterschlägt, ist der folgende Satz: »Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht oder rät das bestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch Aussicht, die Entente über diese Aktion [Krieg gegen Serbien, KW] auseinanderzumanoevrieren.« (ebd. 184) Dass »die maßgeblichen [deutschen, KW] Entscheidungsträger eine russische Intervention für nicht sehr wahrscheinlich hielten und auch keine provozieren wollten« /534/, ist also falsch.

Es kam wie vorhergesehen. Serbien hat das Ultimatum nicht voll erfüllt, ihm wurde von Österreich-Ungarn der Krieg erklärt und der Weltkrieg nahm Fahrt auf. Clarks Fahrt zur Entlastung der deutschen politischen Führung ist hier schon auf Grund gelaufen. Alle folgenden apologetischen Windungen hätte er sich sparen können. So macht er das Entgegenkommen der Serbischen Regierung als verlogen nieder. Immerhin war selbst Wilhelm II. von der serbischen Antwort überrascht und erklärte: »durch sie entfällt jeder Grund zum Kriege [im Orig. gesperrt]« (Geiss 1964, Bd. 2: 184). Allerdings hatte die Serbische Regierung nicht akzeptiert, dass »in Serbien Organe der k. und k. Regierung« die Fahndung nach den Attentätern mitleiten sollten.

Ob die deutschen und österreichischen Entscheidungsträger eine Lokalisierung des Konfliktes auf dem Balkan überhaupt an erster Stelle wollten und bis wann sie ihn noch für möglich hielten, bleibt in der Geschichtsschreibung ein weiter zu führender Disput zum Thema Kriegsauslöser. Nimmt man die von Clark präsentierten harten »Fakten« und ihre Bewertungen, dann war die Politik Frankreichs und Russlands besonders »aggressiv« /z.B. 622f./. Es folgen Großbritannien, Österreich und zum Schluss die sich bedroht fühlende deutsche Reichsleitung, die den Krieg mit Serbien gerne lokalisiert hätte. Auf der weichen psycho-kulturellen Ebene sind alle Mächte hineingetaumelt. Das legt sein »Schluss« nahe /715-718/. Dieser zentrale Widerspruch wird in der öffentlichen Rezeption kaum beachtet. Hier gefällt vor allem das Bild der »Schlafwandler«.

Mit seinen gezielten Auslassungen, vielen Widersprüchen und sprachlichen Umpolungen kann Clark an der besonderen deutschen Verantwortung für den Weltkrieg des Jahres 1914 nicht einmal kratzen. Was er in einer neuen, verbesserten Auflage nachtragen könnte: Legationsrat Kurt Riezler, enger Mitarbeiter des Reichskanzlers auch in der Julikrise, hatte im Frühjahr 1914 pseudonym ein Buch über »Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart« publiziert und formuliert: »Der Idee nach steht ein jeder Staat letzten Endes jedem anderen in absoluter Feindseligkeit gegenüber.« Und in einer anderen Schrift schon 1912: »Der Idee nach will jedes Volk wachsen, sich ausdehnen, herrschen und unterwerfen ohne Ende ... bis das All unter seiner Herrschaft ein Organisches geworden.«

Im Kriegsziel-Programm der Deutschen Regierung vom September 1914, das Riezler entwarf, konnte der »Philosoph«, wie Clark ihn nennt /541/, seine Ideen in die politische Praxis umsetzen: die elastische Stabilisierung der deutschen Hegemonie in Politik und Wirtschaft auf dem europäischen Kontinent.

Was war das letzte Ziel der deutschen Politik? Riezler notierte es Ende August 1914 in sein Tagebuch: »Die Schwierigkeit, die der Deutsche hat, sich an das Gesicht der Weltherrschaft zu gewöhnen, das er nach einem Siege zeigen muss [im Orig. gesperrt]. Wie uns seit Jahrhunderten die Bescheidenheit im Blute liegt.« (Riezler 1910-1919: 200)

Rezeption in der bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit

Warum sind die »Schlafwandler« im bildungsbürgerlich geprägten deutschen Feuilleton in Druck, Ton und Bild so warm begrüßt, ja sogar bejubelt worden? Warum zeigt sich in einer Talkshow, in der Clark mal mitreden darf, Begeisterung von Frank Schirrmacher (FAZ) bis zu Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlamentes, der gerne Chef der EU-Kommission werden möchte? Warum dieser angestrengte (An-)Griff auf Fritz Fischer? Wenn man die Dokumentenkenntnisse der Lobenden betrachtet – sie sind in der Regel gleich Null –, hätte genauso gut das Gegenteil der Fall sein können. Also ist es sinnvoll, nach ihren gesellschaftlichen und politischen Motiven zu fragen. Manchem Leser und Feuilletonisten mag die partielle Courths-Mahlerisierung von Geschichte gefallen: »Lesbar«. Eines aber verbindet wohl viele enthusiastische Rezipienten: Die Entsorgung der kritischen Betrachtung von Macht und Herrschaft in preußisch-deutscher Vergangenheit. Denn diese gern mal »vorurteilsfrei« genannte Begradigung spielt in einer Zeit, in der ein europäischer Führungsanspruch deutscher Politik, verbunden auch mit Militäreinsätzen bis zum Hindukusch, legitimiert werden soll. Da schaden Schatten der Vergangenheit, deutsche Schreckgespenster.

Literatur
Bley, Helmut (1975): Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904-1913, Göttingen.
Fischer, Fritz (1961): Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf.
Fischer, Fritz (1969): Krieg der Illusionen, Düsseldorf.
Geiss, Imanuel (Hrsg.) (1963f.): Julikrise und Kriegsausbruch 1914. Mit einem Vorwort von Fritz Fischer, 2 Bde., Hannover.
Hallgarten, George W.F. (1963): Imperialismus vor 1914. Die soziologischen Grundlagen der Außenpolitik europäischer Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg, 2 Bde., 2. durchgearbeitete und stark erweiterte Aufl., München.
Kehr, Eckart (1930): Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin.
Kehr, Eckart (1965): Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, mit einem Vorwort v. Hans Herzfeld, Berlin.
Riezler, Kurt (1972): Tagebücher, Aufsätze und Dokumente (1910-1919), hrsg. v. Karl Dietrich Erdmann, Göttingen.
Saul, Klaus (1974): Staat, Industrie und Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Zur Innen- und Sozialpolitik des Wilhelminischen Deutschland 1903-1914, Düsseldorf.
Stegmann, Dirk (1970): Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln/Berlin.
Tirpitz, Alfred von (1924): Der Aufbau der deutschen Weltmacht, Stuttgart/Berlin.
Wernecke, Klaus (1970): Der Wille zur Weltgeltung. Außenpolitik und Öffentlichkeit im Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf.
Witt, Peter-Christian (1970): Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913. Eine Studie zur Innenpolitik des Wilhelminischen Deutschland, Hamburg. – Clark zitiert diese Untersuchung kurz. Seine These von der fiskalen Beschränkung der deutschen Rüstung durch den dezentralen Aufbau des Deutschen Reiches wird aber gerade von Witt widerlegt.

Klaus Wernecke, Historiker in Hamburg, war Professor für Sozial- und Kulturgeschichte an der Universität Lüneburg.

[1] Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, 895 Seiten (Engl. Orig. London 2012). Im folgenden Seitenangaben in Schrägstrichen.

Zurück