1. Februar 2003 Michael Wendl

Balanceakt

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Nach der Ablehnung des Schlichterspruches durch die öffentlichen Arbeitgeber war eine Verhandlungslösung nach der Schlichtung von beiden Seiten zunächst nicht erwartet worden. Dass es dann zu einem Kompromiss in den Verhandlungen am 8./9. Januar gekommen ist, liegt im Wesentlichen an dem Angebot von ver.di, die Laufzeit zu verlängern.

Den Arbeitgebern ermöglicht eine längere Laufzeit ein höheres Maß an Planungssicherheit für die öffentlichen Haushalte. Für eine Gewerkschaft ist eine lange Laufzeit mit Risiken verbunden. Die Entwicklung der Verbraucherpreise und der Einnahmen der öffentlichen Haushalte kann zumindest theoretisch so verlaufen, dass bei kürzerer Laufzeit höhere Lohnsteigerungen möglich gewesen wären. Diese Chance wird sich mit Sicherheit für 2004 nicht einstellen. Denn heute steht schon fest, dass der Rückgang der Steuereinnahmen sich fortsetzen wird und die Defizite der öffentlichen Haushalte im kommenden Jahr noch größer sein werden als 2003. In dieser Perspektive war es sinnvoll, schon im Januar 2003 die Tarifentscheidung für 2004 zu treffen. Dies wird bei vielen Mitgliedern in diesem Tarifbereich zwar anders gesehen, aber das zeigt nur, dass das Ausmaß und die Tiefe der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte bei den Staatsbeschäftigten selbst eher unterschätzt werden.

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Unter den gegenwärtigen politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen ist der Abschluss materiell ausreichend: Wird die Einmalzahlung von 7,5% des Lohnes bzw. der Vergütung als Ausgleich für die "Nullrunde" November und Dezember angerechnet, ergibt sich für 14 Monate Laufzeit bis Dezember 2003 eine durchschnittliche Steigerung von 2,59% für die niedrigen und mittleren Einkommen (bis einschließlich BAT IV a). Für die niedrigen Tarifeinkommen ist sie wegen der nivellierenden Effekte der Einmalzahlung geringfügig höher. Für die höheren Einkommen (ab BAT III) liegt die Erhöhung wegen des um drei Monate verschobenen Erhöhungszeitpunktes einschließlich der Einmalzahlung dagegen knapp unter 2,0%. Für die Laufzeit 2004 plus Januar 2005 beträgt die durchschnittliche Erhöhung 1,7%. Tabellenwirksam wird in den 27 Monaten der gesamten Laufzeit eine rechnerische Erhöhung von 4,46%, auf die in den danach folgenden Tarifverhandlungen aufgebaut wird. Diese Einkommenseffekte werden geschmälert durch das – auf ein Jahr befristete – Halbieren einer Altersstufenaufrückung. Das ist ein Verfahren, das die höheren Einkommen stärker trifft als die niedrigeren, weil dort die Altersstufensprünge relativ größer ausfallen. Aber auch dieser Effekt tritt nur abgeschwächt ein, weil die meisten Beschäftigten in diesem Einkommenssegment bereits in der Endstufe sind, d. h. von Kürzungen verschont bleiben.

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Die öffentlichen Arbeitgeber selbst haben die Einspareffekte dieser Maßnahme mit 0,2% pro Jahr beziffert. In den Verhandlungen stand diese Kostenentlastung der Arbeitgeberseite alternativ zu dem Schlichtervorschlag, die Vergütungen der Neueingestellten für ein Jahr um je eine Lohn- oder Vergütungsgruppe abzusenken. Diese Möglichkeit hätte zwar die aktuell Beschäftigten nicht negativ getroffen, wäre aber als Signal für eine stärkere Lohnspreizung nach unten verstanden worden. Aus tarifpolitischer Sicht ist die Absenkung der Neueingestellten kritischer zu sehen als ein zeitlich begrenztes "Sonderopfer" der Beschäftigten beim Altersstufenaufstieg. Der noch verbliebene arbeitsfreie Tag wird gestrichen. Die rechnerische Kostenentlastung kann mit 0,4% beziffert werden.

Werden Tariferhöhungen und "Kompensationen" saldiert, so bleibt in der Bilanz, dass für den öffentlichen Dienst West für 2003 und 2004 mindestens der Inflationsausgleich durchgesetzt werden konnte. In den neuen Bundesländern konnte – wenn auch zeitlich gestaffelt – die Angleichung an das Westniveau bis 2007 bzw. 2009 festgeschrieben werden. Dies ist ohne Arbeitskampf durchgesetzt worden, weil ver.di weiß, dass diese Frage nicht arbeitskampffähig ist – im Osten, weil es an der Fähigkeit zum Arbeitskampf mangelt, im Westen, weil es an der Bereitschaft zum Arbeitskampf ausschließlich für diese Frage fehlt. Trotz der aktuellen Misere der Kommunalfinanzen, die Angleichung Ost, die die ostdeutschen Kommunen und Länder zusätzlich belastet, durchgesetzt zu haben, markiert den zentralen politischen Erfolg dieser Tarifbewegung.

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Mit Sicherheit wird der Abschluss in den eigenen Reihen hart kritisiert werden. Vielen Mitgliedern fehlt für "Kompensationen" jedes Verständnis. Zugleich wird die tatsächliche Finanzkrise der Gebietskörperschaften eher unterschätzt: Das Gerede von den "leeren Kassen" der öffentlichen Haushalte ist notorisch bekannt. Es wird in einer Situation, in der dies – im Unterschied zu früher – nahe an der Realität ist, nicht mehr ernst genommen. Andererseits muss und wird auch in ver.di zur Kenntnis genommen werden, dass die öffentlichen Haushalte begrenzt werden: durch die Einnahmen und den Umfang der notwendigen Sachausgaben. Hinzu kommen die Verschuldungskriterien der Maastrichter Verträge. Das wiederum heißt, dass sich die Tarifmisere des öffentlichen Dienstes mit tarifpolitischen Mitteln allein – auch nicht durch einen harten Arbeitskampf – nicht auflösen lässt. Auch ein politisch erfolgreicher Streik ändert nichts an der Begrenztheit der staatlichen Steuereinnahmen. Der strategische Blick der Gewerkschaften wird sich daher noch stärker auf die Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik des Staates und der Geldpolitik der Zentralbank zu richten haben. Hier werden die Gegensätze zur rot-grünen Bundesregierung dann offenkundig.

Jetzt gab es noch eine Übereinstimmung zwischen den Spitzen der öffentlichen Arbeitgeber und ver.di: ohne einen unkalkulierbaren Arbeitskampf zu einer Verhandlungslösung zu kommen. Dahinter verbergen sich bereits andere Konstellationen: Wichtige Vertreter der Verbandsfunktionäre der öffentlichen Arbeitgeber hatten aus Kostengründen einen Streik mit einer möglichen Niederlage von ver.di durchaus ins Kalkül gezogen. Die Differenzen zwischen den Arbeitgebern Bund, Länder und Gemeinden sind weniger parteipolitischer als finanzieller Art. Dadurch, dass sich das Lohnsteueraufkommen in den Verhältnissen 42,5%, 42,5% und 15% auf Bund, Länder und Gemeinden verteilen, finanzieren die Einkommen der Gemeindebeschäftigten1 über die Steuereffekte die Lohnerhöhungen beim Bund komplett und bei den Ländern teilweise.[2] Die Ungleichverteilung des Steueraufkommens gefährdet die Tarifeinheit der öffentlichen Arbeitgeber, solange nicht im Rahmen der Gemeindefinanzreform den Kommunen dafür ein Finanzausgleich gewährt wird.

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Bestandteil des Tarifabschlusses sind schwache Tendenzen zu einer "egalitären" Tarifpolitik. Die Anhebungen höherer Tarifeinkommen verzögern sich 2003 und im Prozess der Angleich der Osteinkommen. Die hälftige Reduzierung der Altersstufenanhebung für ein Jahr führt bei höheren Einkommen zu stärkeren Einkommensverlusten. Im Extremfall: bei der letzten Altersstufe BAT I kommt es zu einem Minus von 80 EUR pro Monat, was die absolute Einkommenserhöhung hier um rund 80% verringert. In der Tendenz ist es unter den aktuellen Bedingungen sinnvoll, die Bezieher höherer Einkommen stärker an den relativen Einkommensverlusten zu beteiligen. Ein Paradigmenwechsel zu einer "egalitären" Lohnpolitik darf darin nicht gesehen werden. Die Arbeitgeber haben das gegen ihre ideologischen Überzeugungen akzeptiert, um überhaupt "Erfolge" an der Kostenfront in dieser Tarifauseinandersetzung präsentieren zu können. Das zeigt, dass es den Arbeitgebern bei der angestrebten Streikvermeidung auch um politische "Gesichtswahrung" ging. Unter dem Strich bleibt, dass dies die erste Tarifrunde des öffentlichen Dienstes seit den 70er Jahren gewesen ist, in der die Gewerkschaft in der Initiative lag und die Arbeitgeber auf diese Initiative reagieren mussten. Dieser relative Erfolg überdeckt die Probleme von ver.di: Eine ausgeprägt unterschiedliche Streikbereitschaft und Streikfähigkeit innerhalb der Organisation. Ver.di muss in diesen Fragen "nacharbeiten".

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Ein Teil der Kostenentlastung der öffentlichen Arbeitgeber geht zu Lasten der Sozialversicherung. Die Verschiebung des Zeitpunktes für die Auszahlung der Gehälter vom 15. eines Monats auf das Monatsende, die ab Dezember 2003 möglich wird, führt dazu, dass die Sozialversicherungsbeiträge für das Dezembereinkommen erst im Januar an die Träger der Sozialversicherung entrichtet werden. Buchungstechnisch werden die öffentlichen Haushalte dadurch 2003 um rund ein Drittel eines knappen Dreizehntels der Jahreslohnkosten entlastet. Diese Option war von Anfang an von ver.di in die Verhandlungen eingebracht worden. In der Konsequenz wird dadurch die angespannte Finanzlage der Sozialversicherungsträger verschärft. Vermutlich war diese Konsequenz den tarifpolitischen Akteuren nicht einmal bewusst.

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In der Öffentlichkeit wird das Ergebnis als Niederlage der Arbeitgeber und als Erfolg von ver.di, insbesondere als Erfolg des Verhandlungsführers Bsirske gewertet. Dazu steht in Kontrast eine innergewerkschaftliche Diskussion, die das Ergebnis als faktische Nullrunde bilanziert und von einem Arbeitskampf einen spürbar besseren Abschluss erwartet hatte. Diese Einschätzung verkennt, dass für die Durchsetzung eines besseren Ergebnisses bei dem überwiegenden Teil der Kommunen und bei rund der Hälfte der Länder die finanziellen Ressourcen fehlen. Ein Streik wäre notwendig und angemessen gewesen, wenn die Arbeitgeber eine Nullrunde diktiert hätten. Aus Angst vor dem Streik haben sie dies ernsthaft nie versucht. So gesehen, haben die Warnstreiks Mitte Dezember ausgereicht, um ein – angesichts der politischen und ökonomischen Risiken, die mit einem Erzwingungsstreik für ver.di verbunden sind – akzeptables Verhandlungsergebnis durchzusetzen.

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Teil des Tarifkompromisses ist eine Prozessvereinbarung zur Reform des Tarifrechts des öffentlichen Dienstes. Bis zum Ende der Laufzeit, also bis 31.1.2005 soll das öffentliche Tarifrecht wettbewerbs- und leistungsorientiert umgebaut werden. Im Kern ist es ein gemeinsames Projekt von Arbeitgebern und ver.di, um der zunehmenden Erosion der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes entgegenzuwirken.[3] Zugleich versprechen sich die Arbeitgeber davon Personalkostenreduzierungen, eine Erwartung, die bei den betroffenen ver.di-Mitgliedern auf Misstrauen stößt. Ähnlich wie die aktuelle Tarifrunde werden diese Tarifverhandlungen für die ver.di-Führung ein ausgesprochen schwieriger Balanceakt.

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