1. Juni 2009 Elisabeth Gauthier

''Beunruhigtes Volk'' ohne Alternativen

Der französische Präsident ist nach wie vor überzeugend bei der Ankündigung von Großprojekten: Mit Investitionen in Höhe von 35 Mrd. Euro will er den Ausbau des Pariser Nahverkehrs voranbringen. In den kommenden zwölf Jahren soll damit unter anderem eine U-Bahn rund um Paris geschaffen werden. Auch der Kampf gegen die Haushaltsdefizite ist immer noch ein Thema mit Nachrichtenwert. Deshalb will Sarkozy weitere Stellen im öffentlichen Dienst streichen.

Der Präsident sei nach zwei Jahren Arbeit immer noch "dynamisch", urteilen denn auch 85% der FranzösInnen in einer aktuellen Umfrage. Aber nur 30% glauben, dass er auch zur Lösung ihrer Probleme beitragen kann. Als charismatischen Politiker, der Frankreich aus der Lähmung unter seinem Vorgänger Jacques Chirac holen sollte, hatten 53% der WählerInnen Sarkozy gewählt. Seine Wahl war auch ein Protest gegen die politische Klasse der Republik. Doch in der Finanz- und Wirtschaftskrise muss der Präsident, der Vollbeschäftigung und eine Stärkung der Kaufkraft zugesichert hatte, zusehen, wie eine Rezession historischen Ausmaßes und galoppierend steigende Arbeitslosenzahlen seine Versprechen zunichte machen. Er, der den Rückzug des Staates angekündigt hatte, aktiviert ihn nun als Schutzmacht gegen die Krise mit Konjunkturprogrammen und mit öffentlichen Geldern geförderten Arbeitsplätzen. Dennoch sind viele FranzösInnen unzufrieden und machen den Präsidenten und seine Regierung persönlich für die Folgen der Krise verantwortlich.

Man kann heute von einer Vertrauenskrise sprechen, ohne dass allerdings eine Alternative zu Sarkozy sichtbar wäre. Im März waren 53% seiner WählerInnen enttäuscht. Bei den milieux populaires, die zur Hälfte für Sarkozy gestimmt hatten, haben 62% der Arbeiter und 58% der Angestellten eine schlechte Meinung. Im Nord-Osten und im Rhônetal – traditionelle Industriegebiete – fällt der Absturz besonders spektakulär aus.[1]

Sarkozys Kampagne 2007 basierte auf dem Versprechen eines Bruchs mit der traditionellen Politik der Rechten unter Chirac.[2] Wenn aber der Energiekonzern Total trotz Rekordprofiten Arbeitsplätze vernichtet, wenn bei Continental nach der Rückkehr zur 40-Stundenwoche, um Arbeitsplätze zu retten, doch gekündigt wird, wenn Sony einen ganzen Betrieb stilllegt – dann wachsen neben der Angst um die Zukunft auch Entrüstung und das Gefühl, von Sarkozy mit seinen Versprechen und Sprüchen ("Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen" – "Ich werde der Präsident der Kaufkraft sein" – "Ich werde jene unterstützen, die früh aufstehen und hart arbeiten" etc.) betrogen worden zu sein.

Bei seinen Betriebsbesuchen vor Ort werden inzwischen massive Sicherheitskräfte mobilisiert und die GewerkschafterInnen auf Distanz gehalten. Die von Sarkozy im Wahlkampf aufgebaute Spaltung zwischen denen, "die früh aufstehen und hart arbeiten", und den "Nichtstuern" funktioniert bei einer täglichen Zunahme der Arbeitslosen um 3.000 immer weniger. Seine Vorstöße in Richtung Klassenspaltung und klassen­übergreifendem Populismus werden durch Bewusstwerdungsprozesse in der Krise behindert, was allerdings nicht heißt, dass sich automatisch ein solidarisches Verhalten durchsetzt.

Die gesamten Kernbotschaften – weniger Staat, weniger Steuern, mehr Arbeit, mehr Einkommen –, mit denen Sarkozy seinen Wahlkampf geführt hatte, wurden von der Krise in Mitleidenschaft gezogen.[3] Allerdings ermöglicht ihm die dramatische Finanz- und Wirtschaftskrise und die aus ihr resultierenden staatlichen Interventionen, seinen politischen Aktionismus fortzusetzen und medienwirksam zu inszenieren. Auch in der Krise sucht Sarkozy den Eindruck zu vermitteln, dass es mit dem "Laisser-faire" zu Ende sei.[4] Allerdings verlagert sich die Debatte auch innerhalb der Rechten mehr und mehr auf die Frage, welche politischen Eingriffe in den Krisenprozess vonnöten sind.

Obwohl die Krise Sarkozy einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, ist er nicht zur Aufgabe seiner "Reform"-Agenda bereit. Krisenmanagement und Deregulierungsmaßnahmen sollen gleichzeitig stattfinden, womit die vielfältigen Proteste angeheizt werden. So soll z.B. die Durchlöcherung des Arbeitsrechts weiter verfolgt werden, "um die Einstellung von Arbeitskräften zu erleichtern". Am Abbau von 30.000 Stellen im öffentlichen Dienst wird festgehalten, während gleichzeitig durch öffentliche Mittel 30.000 Jugendarbeitskräfte im privaten Sektor fast ausschließlich vom Staat finanziert werden.

Die Durchsetzung eines "neuen Sozialvertrages", der aufbaut auf "Arbeit, Leistung und Chancengleichheit" und jeden "Egalitarismus" verweigert, ist seine Antwort auf die Großdemonstrationen vom 19. März. Sogar ein Ultraliberaler wie Alain Minc fordert in einem offenen Brief im "Figaro" die Eliten inzwischen dazu auf, in der derzeitigen Lage ihren Autismus aufzugeben, um nicht das System insgesamt in Gefahr zu bringen.

Die Wirtschaftskrise spitzt sich derweil dramatisch zu. So sind die Steuereinnahmen schon 2008 nur mehr um 1,6% gestiegen und für 2009 droht ein drastischer Rückgang von 265 Mrd. Euro auf 245 Mrd. Euro. Die OECD schätzt, dass die französische Wirtschaft 2009 um 3,3% schrumpfen wird, 2010 um 0,1%. Schon im 3. Quartal 2008 sank die französische Wirtschaftsleistung um 0,2%. Im ersten Quartal hat es den stärksten Wirtschaftseinbruch seit 1949 gegeben[5] – mit einem Rückgang der betrieblichen Investitionen um 3,2% und einer Vernichtung von 138.000 Arbeitsplätzen. Statistiker erwarten für 2009 bis zu eine Million zusätzliche Arbeitslose, was ursprünglich erst für Ende 2010 prognostiziert worden war. "Wir haben noch nie ein so rasches Anwachsen der Arbeitslosigkeit gesehen seit Kriegsende und der Krise von 1929".[6]

Um den Forderungen nach Verringerung der Einkommen der "patrons" und Aktionäre entgegenzuwirken, verlangte Sarkozy im Februar eine Einigung zwischen den Sozialpartnern auf eine Verteilung der Profite zu je einem Drittel für Betriebsinvestitionen, Aktionäre und die Beschäftigten. Inzwischen liegt der in seinem Auftrag verfasste Bericht des Generaldirektors der INSEE, Jean-Philippe Cotis, vor. 2007 gehen danach 36% der Profite an das Kapital, 57% wurden für Investitionen verwendet und 7% kamen den Beschäftigten in Form einer Gewinnbeteiligung zu. Die Absurdität von Sarkozys Vorschlags wird allein daran deutlich, dass die Investitionen von 57% auf 33% gesenkt werden sollen. 2007 lag der Anteil der Löhne an der "valeur ajoutée" (Wertschöpfung) der "sociétés non financières" (nichtfinanziellen Unternehmen) bei 65%, und damit genauso hoch wie 1950.

Das von Sarkozy 2007 bei der Wahl präsentierte Programm beruhte auf einer Fehleinschätzung der Lage und ist völlig realitätsfremd.[7] Deshalb wird von vielen sozialen Bewegungen und von Links die Aufhebung des TEPA-Gesetzes vom Sommer 2007 gefordert, das jährlich an die 15 Mrd. Euro kostet (Steuerfreiheit für Überstunden, Herabsetzen der Erbschaftssteuer, Steuersenkungen für die Reichsten) und das nachweisbar zu zwei Dritteln den Reichen zu Gute kommt. Demgegenüber werden für die durch die Januardemonstrationen erreichten Sozialmaßnahmen nur 2,6 Mrd. Euro aufgebracht. Statt des "bouclier fiscal" (Steuerschutzschild) für Reiche, wird ein "bouclier social" zum Schutz vor den Krisenfolgen gefordert.

Sarkozys mit Pomp verkündetes Konjunkturprogramm von 26 Mrd. Euro enthält zudem bereits geplante Ausgaben (erhöhte Sozialausgaben und Steuererleichterungen zwecks Liquiditätsbeschaffung von Unternehmen), die lediglich zeitlich vorgezogen wurden. Statt Qualifizierung und Ausbildung zu fördern, wird vom Staat Kurzarbeit mitfinanziert. Statt die Eigentums- und Machtstrukturen sowie die wirtschaftlichen Ziele dort, wo der Staat rettend eingreift, zu verändern, wird mit Hilfe öffentlicher Mittel die Stabilisierung der Machtverhältnisse betrieben.

Sarkozy interpretiert die sozialen Bewegungen als Ausdrucksweise eines "beunruhigten Volkes", aber nicht als Protest und Forderung nach einem Politikwechsel. Er sucht ständig an allen Fronten Gräben aufzureißen und Schuldige auszumachen. Immer wieder werden Fragen der "inneren Sicherheit" hochgespielt. Rechtspopulistische Forderungen und Maßnahmen wie "Bürgernähe" und ein plebiszitärer Präsidentialismus werden Hand in Hand mit einer zunehmenden Machtkonzentration (Verfassungsreformen, Freiheitsbeschränkungen zu Gunsten der "inneren Sicherheit", Reformen des Staatsapparates und der Territorien, Beherrschung des Medienapparates) weiterentwickelt.

Demokratische Grundsätze, das Prinzip der Gewaltentrennung, das Selbstverständnis im öffentlichen Dienst werden so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass sich in vielen Berufsgruppen (Justiz, Schulwesen, Sozialdienste, Psychiatrie, Medien) zunehmend Widerstand gegen ihre Einbeziehung in die autoritäre Sicherheitspolitik und Entdemokratisierung entwickelt. Ein anderer Aspekt ist die verstärkte Solidarität mit den "sans papiers" und deren Kindern[8] durch LehrerInnen und Eltern, die sich bisher sonst nicht engagiert haben.

Innovative soziale Bewegung

Neue Formen von Aktivismus bilden sich heraus, oft weit entfernt von traditionellen Gewerkschaften und politischen Parteien. In Supermärkten werden Picknicks gegen das teure Leben organisiert. "Le clan des néons" löscht nachts die Beleuchtungen der Banken. "Les déboulonneurs" bemalen Werbeplakate. "La Brigade activiste des clowns" belebt Demonstrationen. Jeden Dienstag wird in Lille eine Minute lang von allen Anwesenden ein "kritischer Schrei" ausgestoßen. Als "ungehorsam" (désobéissants) erklärten sich Hunderte LehrerInnen, die die Umsetzung von für die SchülerInnen negativen Reformen verweigern. Schon seit längerer Zeit organisiert "Jeudi noir" Besetzungen von zum Mieten zu teuren Wohnungen; "Génération précaire" verlangt bessere Rechte für Praktikanten. "Eher Bakunin und Internet, als Lenin und Barrikaden, lieber 'flash mob' statt traditionelle Aufmärsche", fasst einer der Initiatoren die­se Bewegungsformen zusammen. Die vielfach prekär Beschäftigten dieser Generation argumentieren auch damit, dass bei dem ständigen Wechsel der Arbeitsstätten die üblichen gewerkschaftlichen Arbeitsweisen nicht funktionieren können, und neue Formen von Vernetzung gefunden werden müssen. Das Verhältnis zur institutionellen Politik ist oft äußerst distanziert, sodass hier wohl ein Potential für Besancenots "Nouveau parti anticapitaliste" (NPA) liegt.

Gegenüber der globalen Krise entwickelt sich verstärkt ein gemeinsames Bewusstsein, weil niemand von den Folgen ausgespart bleibt. Verschiedene Kollektive wie "Sauvons la recherche" ("Retten wir die Forschung"), "Sauvons la clinique" und "Sauvons l’université" schlossen sich in einem "Appell der Appelle" zusammen, um wirksamer gegen "Reformen" aufzutreten, die Inhalte und Formen ihrer Arbeit sowie ihre Berufs­ethik in Frage stellen.

Sarkozys Reformen werden in vielen Berufen als direkte Bedrohung erlebt. Die Instrumentalisierung ihrer Arbeit im Interesse des Sicherheitsstaates und die Mobilisierung ihrer Kompetenzen im Sinne des Finanzmarktkapitalismus werden zurückgewiesen. "Die Wertvorstellungen, die von uns inkorporiert werden sollen – Mobilität, Flexibilität, Kontingenz, unmittelbare Reaktivität – gehören zur Kultur des total ín die Krise geratenen Finanzkapitalismus. Warum sollte man Reformen mitmachen, die uns entsprechend einem Modell formatieren würden, das sich als toxisch herausgestellt hat?"[9]

So wird in vielen Universitäten seit Monaten gegen die Einführung des "Autonomiegesetzes" vom Sommer 2007, das die Universitäten und Forschungsinstitute in den Konkurrenzkampf stürzt, heftig protestiert. In den letzten Monaten sind so Formen kollektiver Mobilisierung und Vernetzung von Gruppen entstanden, die vor einigen Monaten niemand für möglich gehalten hätte. Es geht auch darum, die Isolierung der Einpunktbewegungen der letzten zehn Jahre sowie die Trennung nach sektoralen Forderungen zu überwinden.

Das hohe Niveau, die Vielfalt und gleichzeitig die steigende Gemeinsamkeit der Kämpfe im Bildungswesen – vom Kindergarten (Maternelle) bis zur Universität – hat gute Gründe. Der Prozentsatz einer Generation, der zu höheren Studien zugelassen wird, stieg in Frankreich von 5% im Jahr 1950 auf 33% im Jahr 1995. Seither stagniert er fast. Der Zweifel, dass es Chancengleichheit gibt, verstärkt sich deshalb erneut. Außerdem profitiert nur 1% der Bevölkerung vom steigenden Reichtum, "weshalb wir eine gewisse Wiedervereinigung von Leuten mit Primär-, Sekundar- oder Tertiärschulabschluss gegenüber einer sehr reichen Minderheit feststellen."[10]

Basis für die außergewöhnliche Massenmobilisierung der letzten Monate ist unbestritten die am 5. Januar beschlossene Einheitsplattform aller acht Gewerkschaften – eine Konstellation, die es zuletzt 1966 gab. Diesmal geht es nicht um eine spezifische Forderung, sondern um das Verlangen nach einer Änderung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Themenfelder, die in der von allen Gewerkschaften getragenen Plattform in ihrer Vielfalt und Kohärenz aufgelistet werden, sind mehr als bloßer Ausdruck des Protestes: Sie zeigen eine alternative Logik zur Bekämpfung der Krise auf. Insofern ist es Ziel der Gewerkschaften, die­se Fragen tiefer in den Betrieben, in der Gesellschaft zu verankern, Prozesse zu gestalten, die Bewusstsein und Kräfteverhältnisse auf eine neue Ebene heben. Es ist ein schwierigeres Unterfangen, auf Dauer eine gemeinsame Bewegung zu bilden, deren Formen und Inhalte komplexer sind als beim inhaltlich und zeitlich begrenzten Kampf für die Aufhebung des Ersteinstellungsvertrages (CPE) im Jahr 2006.

Die drei großen Demonstrationen dieses Frühjahrs (29. Januar, 19. März, 1. Mai) hatten Massencharakter. Dabei markierte der 29. Januar nach Einschätzung der Gewerkschaften mit 2,5 Mio. DemonstrantInnen einen Wendepunkt. Tatsächlich machte ihre Einheit eine sehr breite Mobilisierung – aus öffentlichem und privatem Sektor, Klein- und Großbetrieben, allen Generationen, AutomobilarbeiterInnen und HochschulprofessorInnen, prekär Beschäftigten und Krankenhauspersonal, Arbeitslosen und SchülerInnen – möglich. Auch der 19. März war ein klarer Erfolg: 75% Unterstützung in der Bevölkerung, 20% mehr TeilnehmerInnen – insbesondere aus der Privatwirtschaft, 219 Demonstrationen, auch in zahlreichen Mittel- und Kleinstädten, mit insgesamt drei Mio. TeilnehmerInnen.

Jetzt besteht für die Gewerkschaften die Schwierigkeit darin, in einem Land mit einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 8% (3% im privaten Sektor) gemeinsam weitere Schritte zu planen. Ein unbefristeter Generalstreik, wie von linksradikalen Strömungen gefordert, kann nicht die Antwort sein. Andererseits muss darauf geachtet werden, dass die Wahrung der Einheit nicht zur Nivellierung der Forderungen nach unten führt. Die nächsten Schritte nach dem 1. Mai (zum ersten Mal seit den 1960er Jahren in Aktionseinheit organisiert) – an dem drei bis vier Mal so viel DemonstrantInnen teilnahmen wie sonst – sind weitere Aktionstage am 26. Mai und 13. Juni.

Sarkozy ist es nicht gelungen, einen Teil der Gewerkschaften in sein "Reform- und Krisenmanagement" bzw. eine nationale oder sektoral organisierte Allianz einzubeziehen. Für Regierung und Unternehmer werden die Zeiten schwieriger. Sarkozys "mesurettes" (Mini-Maßnahmen) nach dem 29. Januar haben keine Beruhigung gebracht. Auch das auf Spaltung zielende Aufgreifen einzelner Konflikte schafft keine Beruhigung. Am 29. Januar trugen viele Demonstranten Brillen mit der Aufschrift "Sarkozy, siehst Du jetzt unseren Streik? Brauchst Du Brillen?" als Antwort auf eine Äußerung des Präsidenten, wenn heutzutage jemand in Frankreich streike, würde das von niemandem mehr bemerkt. Auf dem ideologischen Feld werden Entwicklungen sichtbar, wie das Hinterfragen der Ziele der Betriebe, der Ökonomie, des Platzes der Beschäftigten, der Kriterien der Wirtschaftsführung, der Rolle der Finanzmärkte, der Verantwortung der Regierungen, die die Linke nicht ausreichend zu unterstützen versteht.

In Frankreich "sind die Sozialbewegungen ... häufig weiter, als nur die Forderungen jener 'Einheitsgesellschaft' auszudrücken, die nicht auf ihre tiefverankerten Vorstellungen verzichten will. Die derzeitige große Unterstützung, die sie in der öffentlichen Meinung bekommen, geht darauf zurück, dass die derzeitige Politik weder als kohärent, noch als gerecht oder effizient betrachtet wird. Die Sozialbewegungen sind also eine Art von symbolischem Ausdruck ... (und) werden als Zeichen dessen verstanden, was das Land zusammenhält... Wenn wir dann in der 'harten' Phase der Krise sein werden, werden die Einzelnen nicht so sehr eine absolute Verringerung ihrer Existenzmittel befürchten, ... sondern die Möglichkeit, von dem, was national und sozial gemeinsam ist, abgehängt zu werden. Die derzeitigen sichtbaren Formen der Radikalität sind Ausdruck für diese Befürchtung und nicht Zeichen einer Alternative."[11]

Teilzugeständnisse und Repression

In Forschung und Universitäten musste die Regierung als Folge der monatelangen heftigen Auseinandersetzungen in Teilfragen Zugeständnisse machen. Bei Betriebesbesetzungen wurden soziale Begleitmaßnahmen bei Kündigungen verbessert. Ein Dekret untersagt Stock-options und Gratisaktien für zwei Jahre in öffentlich subventionierten Unternehmen. Auch im rechten Lager werden Stimmen laut, die mehr Gegenleistungen für öffentliche Subventionen verlangen sowie die Rücknahme der ungerechtesten Bestimmungen des "bouclier fiscal".

Aber insgesamt werden die von Sarkozy nach dem "Sozialgipfel" am 18. Februar angekündigten Maßnahmen – Steuererleichterung für die unterste Kategorie der Lohnsteuerzahler, eine Prämie von 150 Euro für arme Familien mit schulpflichtigen Kindern, eine Prämie für ab April neu registrierte Arbeitslose, Maßnahmen zur beruflichen Integration der Jugend – mit einem Volumen von 2,6 Mrd. Euro als völlig unzureichend angesehen. In Umfragen meinten 70% der Befragten, dass diese Maßnahmen keine ausreichende Antwort auf die Probleme darstellen, 60% wünschten Verhandlungen auf Basis der gewerkschaftlichen Vorschläge, aber nur 22% hielten die von der Linken vorgebrachten Vorschläge für glaubwürdiger.

Linkes Defizit

Immer massiver wird in den Bewegungen das Fehlen eines starken politischen Partners diskutiert. "Die politischen Kräfte, die die Mobilisierung der Intelektuellen[12] verstärken müssten, tun derzeit nicht viel. Sie machen nur ein Minimum… Sie geben moralische Solidarität, obwohl ein großes Problem darin besteht, dass es an politischem Ausdruck fehlt."[13] Die linken Parteien haben vor jeder der Massendemonstrationen einen gemeinsamen Unterstützungstext unterzeichnet, wobei sich die PS allerdings erst nach dem Erfolg des 29. Januar dazu bereit zeigte. Damit wird aber bisher kein Weg zu einer politischen Alternative deutlich.

Nur mehr 38% der Franzosen halten Sarkozy für den fähigsten Politiker, der "die Dinge ändern kann", und gleich danach kommt Besancenot mit 35%. Diese Sympathiewelle für den Leader der aus der LCR hervorgegangenen NPA[14] ist Ausdruck von Entrüstung, Protest gegenüber der Regierung und den für die Krise Verantwortlichen, ist aber gleichzeitig auch Ausdruck politischer Verwirrung, ohne Perspektive eines konkreten Politikwechsels und einer linken Alternative. Es ist ein Zeichen für das Defizit der Linken, der Schwäche der SP-Politik und der noch zögerlichen Versuche, links davon Kräfte unterschiedlicher Herkunft zu sammeln, wie das die aus PCF, Parti de gauche[15] und der Gauche unitaire[16] gebildete "Front de gauche" seit ein paar Monaten in Hinblick auf die Europawahlen versucht.

Europawahlen

Der Wahlkampf zum Europäischen Parlament wird von den beiden Hauptparteien nur halbherzig geführt. Allerdings steht die UMP in den Umfragen deutlich vor den Sozialisten an erster Stelle. Gleichzeitig profiliert sich François Bayrou, der Gründer der "Mouvement démocrate" (Demokratische Bewegung), als Ersatz, wobei seine Strategie offensichtlich darin besteht, Teile der Basis der Sozialistischen Partei für seine Präsidentschaftspläne zu gewinnen.

Die Umfragen sind für die PS ungünstig und zeigen Mobilisierungsschwächen sowie Stimmenverluste in Richtung Bayrou und nach links. Drei Wochen vor der Wahl gaben Meinungsumfragen der UMP 27% (2004: 16%), der PS 21,5% (28,9%), dem MoDem 13,5% (5% in der Präsidentschaftswahl 2008), den hinter Cohn-Bendit aufgestellten Grünen 7%, NPA 7% (sinkende Tendenz) und der "Front de Gauche" 6,5% (steigende Tendenz), dem Front National 5,5% und LO 2%.

Der "Antisarkozysmus", mit dem sich die PS kleidet, reicht nicht aus für eine glaubhafte Opposition. Sie sucht sich ohne eine ausreichende inhaltliche Konfrontation mit Sarkozys Politik und der eigenen Vergangenheit als Vertreterin einer politischen Alternative zu präsentieren. Seit 2005 beim Referendum zum EU-Verfassungsvertrag – trotz eines höchst aktiven Engagements des Parteiapparates für das "Ja" – 60% der PS-WählerInnen und 70% der Lohnabhängen mit "Nein" gestimmt haben, stellt der Europawahlkampf für die PS ein schwer lösbares Dilemma dar. Dies insbesondere in einer Zeit, in der die manifeste Krise der EU noch deutlicher die Berechtigung des linken "Nein" unterstreicht. Auch für die Akteure des "linken Nein" ist der Wahlkampf nicht einfach, u.a. weil die Folgenlosigkeit der 55%-Mehrheit für das "Nein" das Gefühl politischer Ohnmacht erneut verstärkt hat. Besancenot's NPA vertritt die Ansicht, dass eine Präsenz im Europäischen Parlament nichts verändert und dieser Wahltag als ein weiterer Protesttag zu sehen ist, womit wohl mehr protestgestimmte jüngere Leute angesprochen werden als die Akteure der vielfältigen sozialen Bewegungen, die in ihrem Stellungskampf durchaus auch institutionell Terrain zu gewinnen suchen.

Front de gauche

Viele WählerInnen votieren für die politischen Angebote links von der SP, um gegenüber der "Regierungslinken" ihren Protest gegen das Abgehen vom sozialen Kompromiss deutlich zu machen. "Es gibt eine Linke dazwischen, die einen Fuß in den sozialen Bewegungen und den anderen in den Institutionen hat."[17] Diese Konzeption, für die die "Front de gauche" steht, scheint in den letzten Wochen verstärkt Anklang insbesondere im Bereich der sozialen Bewegungen zu finden. "Die Vorgangsweise der Front de gauche ist die einer Einheit zwischen politischen Formationen, PCF, Parti de gauche, Gauche unitaire, anderen politischen Gruppen und Gewerkschaftern, Persönlichkeiten, Bürgern, die unsere Appelle unterschreiben. Es ist eine politische Allianz und eine 'construction citoyenne', die danach trachtet, durch ihre Sammlung die Dinge auf der linken Seite in Bewegung zu bringen."[18] Ein Schritt, um diese Beziehung zwischen Bewegung und Institutionen zu verdeutlichen, wurde Ende Mai gemacht. ParlamentarierInnen aus PCF und PG brachten drei Gesetzesentwürfen ins Parlament ein – zum Verbot von Kündigungen in profitmachenden oder Standort verlagernden Betrieben, zur Erhöhung des SMIC auf 1600 Euro und ein Paket von dringenden Maßnahmen (z.B. Außerkraftsetzen des "bouclier social", der "franchise médicale" etc.).

Die Europawahlen werden voraussichtlich – die hohe Stimmenthaltung lässt allerdings nur vorsichtige Interpretationen zu – bestätigen, dass die PS deutlich an Zustimmung verloren hat und die anderen Stimmen für linke Parteien sich auf mehrere Kandidaturen verteilen, womit die Frage der Rekomposition links von der PS zu einer Schlüsselfrage für die nahe Zukunft wird.

Elisabeth Gauthier ist Direktorin von Espaces Marx; Mitglied des Leitungsorgans von Transform! – Europa; Mitglied des Conseil national der PCF.

[1] Jérôme Sainte-Marie, Institut Isama, Express 19/3/09.
[2] Siehe J. Bischoff/E. Gauthier, Sarkozy und die Hegemonie des Neoliberalismus, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 12/2007.
[3] Brice Teinturier, TNS – Sofres, voir Politis 5.3.2009.
[4] Toulon 24.9.2008.
[5] Fabrice Lenglart, INSEE, zitiert in Humanité, 16.5.2009.
[6] Jean Pierre Revoil, Chef der UNEDIC Statistik 1992-2007, zitiert in: Humanité, 16.5.2009.
[7] Siehe J. Bischoff/E. Gauthier, Gescheiterte Überwindung der Krise des Neoliberalismus. Die Desillusionierung über das Projekt Sarkozy, in: Sozialismus 6/2008.
[8] Zur Repression wurde ein "Solidaritätsdelikt" eingeführt, das die Unterstützung, Beherbergung etc. von "sans papiers" strafbar macht.
[9] Roland Gori, Psychoanalytiker und Universitätsprofessor, Mitbegründer des "Appells der Appelle", in: Humanité, 11.4.2009.
[10] Emmanuel Todd in: Revue "Sciences humaines", 1.5.2009.
[11] Stephan Rozès, Crise, imaginaire politique et reconstruction des représentations. Im Gespräch mit Michel Vakaloulis 2.2.2009, Fondation Gabriel Péri, www.gabrielperi.fr.
[12] Gemeint sind die Kämpfe in den Universitäten.
[13] Serge Wolikow, Historiker, Universität Dijon; Humanité, 11.4.2009.
[14] Sie hat derzeit an die 10.000 Mitglieder, gegenüber 3.000 der LCR.
[15] Dabei handelt sich um eine neue, um Mélenchon und anderen aus der PS ausgetretenen linken Persönlichkeiten gebildete Partei.
[16] Gauche unitaire ist eine Abspaltung von LCR/NPA.
[17] Siehe Stephan Rozès, Crise, imaginaire politique et reconstruction des représentations. Gespräch mit Michel Vakaloulis vom 2.2.2009, Fondation Gabriel Péri, www.gabrielperi.fr.
[18] Pierre Laurent, Coordinateur National du PCF, L'Humanité 15.5.2009.

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