25. Oktober 2023 Hinrich Kuhls: Das Vereinigte Königreich vor einem langen Wahljahr

Britannia, quo vadis?

Überschattet vom erneuten Kriegs­ausbruch im ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina stellte die Labour Party auf ihrem diesjährigen Parteitag Anfang Oktober die Weichen für die nächsten Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich (UK), die laut Wahlrecht im Laufe des Jahres 2024 oder spätestens im Januar 2025 stattfinden müssen.

Eine Woche zuvor hatte die Führung der Tories, deren politische Formation sich im Laufe ihrer Regierungstätigkeit seit 2010 von einer konservativ-neoliberalen Partei zu einer rechtspopulistisch-nationalistischen Vereinigung lokaler Wahlvereine gewandelt hat, auf ihrer Jahreskonferenz versucht, die Scherben ihrer 13-jährigen Regierungszeit zu einem Kaleidoskop bunter Perspektiven zusammenzufügen.

Bei den Parlamentswahlen im Dezember 2019 hatten die Konservativen mit einer nationalistischen Kampagne für einen harten Brexit einen großen Wahlsieg errungen. Vier Jahre später hat sich die Stimmung komplett gedreht. Seit Monaten liegt die Labour Party in den Meinungsumfragen konstant vor den Tories. Bei den insgesamt negativen Zustimmungswerten für das Spitzenpersonal schneidet Keir Starmer, der gewählte Vorsitzende der Labour Party und Oppositionsführer, etwas besser ab als Premierminister Rishi Sunak, der ohne Mitgliederentscheid, sondern per Akklamation der Tory-Fraktion zum fünften Parteivorsitzenden und Regierungschef seit 2010 gekürt wurde.

Der Vorsprung der Labour Party beruht vor allem auf der Wut über die Krise der Lebenshaltungskosten und dem weit verbreiteten Gefühl, dass die Zeit für einen Wechsel gekommen sei. Ob diese beiden Faktoren auch in einem Jahr noch ausschlaggebend sein werden, bleibt abzuwarten. Die wirtschaftliche und soziale Unsicherheit hat sich in eine politische Volatilität verwandelt, die trotz der derzeit klaren Verhältnisse in den Meinungsumfragen keine Aussage über den Ausgang der Parlamentswahlen 2024 zulässt. Diese Unsicherheit überwiegt in jenen Fokusgruppen der Meinungsforschungsinstitute, in denen nur Wähler*innen aus der Gruppe der Unentschlossenen – derzeit die relativ größte Gruppe des Elektorats – befragt werden.

Bilanz konservativer Regierungstätigkeit

Die Bilanz der in schneller Folge wechselnden Kabinette seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 ist rundum negativ. Das Narrativ der Rechtspopulisten und Nationalkonservativen lautete: Mit dem Austritt des UK aus der EU würde nicht nur die Kontrolle über Grenzen, Staatshaushalt und Gesetzgebung zurückgewonnen, sondern auch die Perspektive eröffnet, in wiedergewonnener Freiheit Handelsverträge zu günstigeren Konditionen mit Nationen außerhalb der EU abzuschließen. Diese Neupositionierung des UK auf dem Weltmarkt sollte die Grundlage für eine neue Prosperitätsentwicklung in allen Teilen der britischen Union bilden.

Der Austritt des UK aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion wurde am 1. Januar 2021 wirksam. Die in den Folgenabschätzungen ausgewiesenen negativen Auswirkungen der neuen Handelshemmnisse zwischen EU und UK auf Wirtschaftswachstum, Handels- und Zahlungsbilanz, Steuereinnahmen und Investitionen machen sich zunehmend geltend.

Hinrich Kuhls ist Mitarbeiter der Sozialistischen Studiengruppe (SOST). Zuletzt erschien von ihm in Sozialismus.de 4/2023: »25 Jahre Friedensprozess in Nordirland. Vom Belfaster Vertrag zum Windsor-Rahmenabkommen.«

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