23. Mai 2014 Gerhard Dilger: Die Regionalmacht Brasilien vor der Fußball-WM

Brot und Spiele sind nicht genug

Nichts schien lange Zeit den jüngsten Aufstieg Brasiliens zum Global Player symbolträchtiger zu belegen als die Gastgeberrolle für die Fußball-WM der Männer 2014 und für die Olympischen Spiele 2016 in Rio. »Wir nehmen die Verantwortung auf uns, der Welt zu beweisen, dass wir eine wachsende, stabile Volkswirtschaft sind«, sagte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003–2010) 2007 nach dem Zuschlag für die WM 2014.

Zwei Jahre später verwies der charismatische Ex-Gewerkschafter in seiner Olympia-Bewerbungsrede auf die großen Erfolge seiner Regierung bei der Armutsbekämpfung: »In den letzten Jahren haben 30 Millionen Brasilianer die Armut hinter sich gelassen, 21 Millionen sind in die neue Mittelschicht aufgestiegen«, auf einer »neuen Wirtschaftsweltkarte« werde die Bedeutung Brasiliens offensichtlich.

Nach dem Sieg über die Konkurrenten aus den Industriestaaten brach Lula in Tränen aus und erklärte: »Da wir ein koloniales Land waren, hatten wir uns angewöhnt, uns nichts zuzutrauen. Wir dachten, manche Dinge könnten nur andere Länder schaffen.« Brasiliens oft beschworener »Straßenköterkomplex«[1] schien definitiv überwunden, unter der Regie des Globo-Medienkonzerns fand am Copacabana-Strand erneut ein Volksfest statt. Dazu passte, dass die große Mehrheit der BrasilianerInnen in der zweiten Amtsperiode Lulas voller Optimismus in die Zukunft blickte. Doch selbst damals, Brasilien hatte die Auswirkungen der Weltfinanzkrise gut bewältigt und galt dem Wirtschaftsmagazin The Economist als Musterschüler, stimmten bei Weitem nicht alle in den Jubel ein.[2]

Wochen vor dem Beginn der Fußball-WM ist von der positiven Grundstimmung von 2009 nur noch wenig zu spüren. Die Wirtschaft schwächelt, die Energiepolitik steckt in der Krise. Von der 2006 bejubelten Energieautarkie ist keine Rede mehr, die Ölimporte steigen rapide. Der halbstaatliche Multi Petrobras steht zudem wegen Korruptionsaffären in der Kritik. Vor allem aber ist der Unmut über die anhaltende soziale Schieflage und die weitgehend als korrupt wahrgenommene Politikerkaste gestiegen, der sich bereits im Juni 2013 in den größten Straßenprotesten seit dem Ende der Diktatur 1985 entladen hatte. Wie ein Katalysator wirkte dabei die WM-Generalprobe, der Confederations Cup – zu krass war der Kontrast zwischen den hochmodernen Fifa-Stadien und den oft verheerenden Verhältnissen im Gesundheits-, Bildungs- oder Transportwesen.[3] Auch die Kriminalität und eine brutale, korrupte Polizei machen Millionen Brasilianern, und da vor allem den ärmeren, schwer zu schaffen, und eine schnelle Lösung dafür ist ebenfalls nicht in Sicht.
Einiges spricht dafür, dass während der WM erneut und vielfach gegen den Fußballweltverband und das heimische Polit-Establishment demonstriert werden wird. Umfragen zufolge erwarteten 55% der Brasilianer durch die WM mehr Nach- als Vorteile für ihr Land, nur noch 36% sehen das umgekehrt.

Zusätzliche Brisanz erhält die WM dadurch, dass im Oktober Präsidentschafts-, Gouverneurs- und Parlamentswahlen stattfinden. Ob Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff, ebenfalls von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT und seit 2011 im Amt, ihrer Favoritenrolle gerecht werden und die Wiederwahl schaffen kann, ist noch nicht ausgemacht. »Das Duo Lula/Dilma ist verantwortlich für eine WM in Brasilien, die nicht annäherungsweise eine WM für Brasilien sein wird«, bringt der prominente Fußballjournalist Juca Kfouri das Dilemma der Präsidentin auf den Punkt.[4]


Neues Selbstbewusstsein

Medial wird die derzeitige Katerstimmung noch verstärkt, einzelne Regierungsmitglieder sehen gar eine internationale Medienkampagne gegen Brasilien im Gange. Ähnlich wie 2002 machen die Finanzmärkte und ihre Fürsprecher wieder unverhohlen Stimmung gegen Dilma Rousseff, die Rechte wird zudem versuchen, die Proteste während der WM auf ihre Mühlen zu lenken.

Durch den Linksruck der letzten Jahre in Südamerika,[5] dessen heroische Aufbruchsphase mit dem Abtritt Lulas, dem Tod des Argentiniers Néstor Kirchner 2010 und dem des Venezolaners Hugo Chávez 2013 definitiv zu Ende gegangen ist, hatte sich an der Rolle Brasiliens in der Weltpolitik und im Lande mehr verändert als weithin angenommen. Das neue Selbstbewusstsein der Regionalmacht schlug sich in der Geopolitik nieder, einer Führungsrolle bei der – vor allem wirtschaftlichen – Integration Lateinamerikas, in der Stärkung von weiteren Süd-Süd-Allianzen und in der Konsolidierung der BRICS, also der Mittel- oder Großmächte Brasilien, Russ­land, Indien, China und Südafrika, die bei der allmählichen Neuordnung des internationalen Machtgefüges ein Gegengewicht zur Hegemonie des Westens bilden wollen.

In Afrika etwa zeigt Brasilien ebenso wie China und Indien mehr Präsenz und drängt in die Einflusssphären der USA und Europas. In Bezug auf die koloniale Vergangenheit können die BRICS dort unbelasteter agieren als der Westen, der diplomatische Austausch zwischen afrikanischen Ländern und Brasilien ist so rege wie noch nie. Freilich stehen auch hier wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund – der Bergbauriese Vale oder brasilianische Ethanol- und Sojafirmen gehen bei der Ausbeutung mineralischer oder agrarischer Ressourcen kaum zimperlicher vor als ihre Konkurrenten, an Megaprojekten verdienen Baumultis wie Odebrecht kräftig mit.

Der Pragmatiker Lula brachte das Kunststück fertig, zusammen mit Kirchner und Chávez beim historischen Amerika-Gipfel im argentinischen Mar del Plata 2005 die von Washington geplante kontinentale Freihandelszone zu begraben und kurz darauf mit George W. Bush eine Ethanol-Partnerschaft einzuleiten. Dilma Rousseff organisiert ihre Außenpolitik diskreter, bleibt aber auf Kurs. Ihr Verhältnis zu US-Präsident Barack Obama ist mehr als unterkühlt, seit bekannt wurde, dass nicht nur sie selbst, sondern auch der strategisch wichtige Petrobras-Konzern von den USA ausspioniert worden war. In einer entschiedenen Rede vor der UN-Vollversammlung im September 2013 kritisierte sie den NSA-Abhörskandal als Bruch des Völkerrechts und warnte: »Wird der Multilateralismus aufgegeben, stehen uns Kriege bevor.« Das Vorgehen der westlichen Mächte bei Krisen in Afrika, im Nahen Osten oder in der Ukraine wird in Brasília kritisch verfolgt.

Aus dem Bewusstsein heraus, dass der Ressourcenreichtum des Subkontinents in Zukunft militärisch geschützt werden muss, war innerhalb der Süd­amerika-Union Unasur auf Betreiben Lulas 2008 der Südamerikanische Verteidigungsrat gegründet worden. Selbst die Option auf den Bau von Atomwaffen soll sich Brasilien hierfür offenhalten, fordert der Linksnationalist Samuel Pinheiro Guimarães, die langjährige Nummer zwei im Außenministerium.
Doch noch immer ist die soft power das Sympathischste an der Friedens- und künftigen Großmacht Brasilien, gerade auch im Vergleich zu anderen Regionalmächten. Seit Januar 2012 leitet der Lula-Vertraute José Graziano da Silva die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO. Im September 2013 trat der brasilianische Diplomat Roberto Carvalho de Azevêdo sein Amt als Chef der Welthandelsorganisation WTO an.

Selbst im Internationalen Währungs­fonds und in der Weltbank geht es voran, wobei dort der Widerstand von USA und EU besonders hartnäckig ist. Brasiliens Ziel allerdings, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen, scheint noch in weiter Ferne.

Im April 2014 war Brasilien Gastgeber der Internetkonferenz NETmundial, konnte allerdings das Prinzip der Netzneutralität nicht in der Abschlusserklärung verankern.

Die deutlichen Fortschritte bei der Armutsbekämpfung machten Lula zu einer Lichtgestalt nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern auch für die Finanzmärkte: Bei gleichzeitiger Beibehaltung einer konservativen Finanzpolitik und eines vom Rohstoffexport getriebenen Wirtschaftswachstums war ausgerechnet der frühere radikale Gewerkschaftsführer zum idealen Garanten des kapitalistischen Systems geworden. Linke in aller Welt schätzen dagegen vor allem die außenpolitische Eigenständigkeit Brasiliens gegenüber den USA und die stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik.

Doch das bleibt bei Weitem nicht das einzige brasilianische Paradox: Die letzten Jahre zeigen, das der soziale Aufstieg von Millionen mit einem kulturellen Konservativismus Hand in Hand geht, wofür der Politologe André Singer den Begriff Lulismo geprägt hat.[6] Die kulturelle Hegemonie der Linken habe sich just während der Diktatur (1964-1985) entwickelt, sei aber bereits Ende der 1980er Jahre zu Ende gegangen: Die »Werte des Marktes, des individuellen Aufstiegs und des Wettbewerbs, jene, die mit einer intensiven Merkantilisierung des öffentlichen Raums zusammenhängen«, seien bald gang und gäbe geworden. In den letzten Jahren nimmt der Einfluss rechter Evangelikaler inner- und außerhalb des Parlaments zu; Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Rassismus sind wieder auf dem Vormarsch. »Der Lulismo ist eine neue Synthese konservativer und nicht konservativer Elemente«, meint Singer, »deswegen ist er so widersprüchlich und schwer zu verstehen. […] Er setzt auf Reformen, aber ohne eine extreme Konfrontation mit dem Kapital, daher hält er die Ordnung aufrecht.«[7]


Mythos »neue Mittelschicht«

Wo Lula oder Marcelo Neri, derzeit Minister für Strategische Angelegenheiten, eine »neue Mittelschicht« beschwören, in die im letzten Jahrzehnt bis zu 40 Millionen BrasilianerInnen aufgestiegen seien, sehen Singer und andere eher ein »neues Proletariat«.[8] Dieses wiederum tritt nicht als ein politisches Subjekt auf wie in den 1980er Jahren die Allianz aus organisierter Arbeiterschaft und linker Mittelschichtsintelligenz, die damals den Kern der Arbeiterpartei bildete.

Neri rechnete auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos 121 Millionen BrasilianerInnen der Mittelschicht zu, das wären knapp zwei Drittel der Gesamtbevölkerung. Ein wichtiger Banker sagte gar voraus, bis 2016 werde dieser Anteil auf drei Viertel steigen. Zur »neuen Mittelschicht« gehören nach der Definition Neris derzeit jene Familien, die über ein Pro-Kopf-Einkommen von umgerechnet 100 bis 350 Euro im Monat verfügen.

Andere warnten vor einer »Falle des mittleren Einkommens«, aus der wegen der schlechten Bildungs- und Ausbildungssysteme in Südamerika nur schwer ein Ausweg zu finden sei. Für Brasilien trifft dies in besonderem Maße zu: So wurden in den letzten Jahren zwar viele Technische Hochschulen eröffnet, doch ebenso wie im Primar- und Sekundarbereich gilt hier häufig das Motto »Quantität statt Qualität«. Echter sozialer Aufstieg bleibt bei solchen Rahmenbedingungen nach wie vor ein individuelles Phänomen.

Die vom medialen Mainstream gern bemühte Erzählung von der »neuen Mittelschicht«, die in Brasilien oder auch in anderen Regionen des Globalen Südens entstehe, hat also in erster Linie die Funktion, die Überlegenheit des Kapitalismus und der westlichen Lebensweise zu suggerieren: Wer sich nun ein neues Auto, ein Plasma-TV oder ein Smartphone leisten kann – wenn auch, wie in Brasilien so häufig, nur auf Pump – gehört angeblich schon zur Mittelschicht. Aus einer solchen Perspektive werden materieller Wohlstand und das »Recht auf Konsum« absolut gesetzt.

Dass sich in Brasilien trotz der beeindruckenden Wachstumsraten im letzten Jahrzehnt an den prekären Lebens­chancen der meisten wenig geändert hat, gerät dabei leicht aus dem Blick: Das Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung, auf den Zugang zu erschwinglichen und guten Bildungseinrichtungen, auf eine Wohnung mit sauberem Trinkwasser und funktionierender Abwasserversorgung, auf Sicherheit im Alltag und einen verlässlichen Transport zum Arbeitsplatz, auf Teilhabe an politischen Entscheidungen und am kulturellen Leben – all das ist für das Gros der BrasilianerInnen noch lange nicht selbstverständlich.[9] Skandalös bleibt die hohe Kriminalität, die durch oft extreme Polizeigewalt, ein ineffizientes Justizsystem und unmenschliche Haftbedingungen für Hunderttausende noch befeuert wird.[10] Betroffen davon sind in erster Linie die BewohnerInnen der Armenviertel. Endgültig erweist sich das Gerede von der »neuen Mittelschicht« als Mythos, wenn man die Selbstwahrnehmung der Betroffenen zugrunde legt.

So rechneten sich laut einer Studie des renommierten Meinungsforschungsinstituts Latinobarómetro 21013 nur 26% der BrasilianerInnen der Mittelschicht und stolze 62% der Unterschicht zu. Letztere bildet 2014 mit gutem Grund das Gros von Rousseffs Wählerbasis, der Lulismo bleibt lebendig. Gerade die weniger verdienenden Fußballfans aber werden schon länger aus den Stadien verdrängt – ein Trend, der sich durch die Fifa-Arenen noch beschleunigen dürfte. Allerdings stellte der oft als »Opium fürs Volk« verhöhnte Fußball im Juni 2013 einen Auslöser für die unerhörten Massenproteste und für das erste Aufblitzen gesellschaftlicher Utopien seit vielen Jahren dar. Die Rechte versuchte erfolglos, die Proteste zu instrumentalisieren – jene Rechte, die maßgeblich von der Oberschicht und, nach einer kurzen Aufbruchsphase zwischen Lulas Wahlsieg 2002 und der ersten großen Korruptionsaffäre 2005, nun auch wieder von der großen Mehrheit der »alten«, »oberen« Mittelschicht unterstützt wird. Aber auch von der Bundesregierung, die von einer breiten Koalition bis weit ins konservative Lager hinein getragen wird, kamen seither kaum neue Impulse; die im Juni 2013 geäußerten Hoffnungen auf eine Linkswende wurden bald enttäuscht.
Optimistisch stimmt, dass der autokratisch geführte und korrupte Weltfußballverband Fifa gerade im »Land des Fußballs« den stärksten Gegenwind seit vielen Jahren erfährt. Wütende Proteste, Ansätze zu einem zivilgesellschaftlichen Aufbruch und zugleich ein Fest mit hinreißenden Spielen der Gastgeber – all dies ist auch bei der bevorstehenden WM möglich. Dass darauf mittelfristig ein neuer »Linksruck« folgen wird, ist dagegen noch nicht abzusehen.[11]

Gerhard Dilger leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo. Zuvor war er Südamerikakorrespondent diverser deutschsprachiger Medien. Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung des Beitrags »Brasilien vor der WM – Geburtswehen einer Großmacht« in dem vom Autor gemeinsam mit Thomas Fatheuer, Christian Russau und Stefan Thimmel herausgegebenen Band Fußball in Brasilien: Utopie und Widerstand, der soeben im VSA: Verlag erschienen ist.

[1] Der Literat Nelson Rodrigues prägte diesen Begriff, den er als »freiwilliges Minderwertigkeitsgefühl« der Brasilianer »in allen Bereichen, vor allem im Fußball« definierte, nach spektakulären Niederlagen der Nationalelf in den 1950er Jahren.
[2] Straßenköter beißt sich durch, taz vom 5.10.2009 (www.taz.de/!41669/).
[3] Kein Wunder in Brasilien, Le Monde diplomatique vom 12.7.2013 (www.monde-diplomatique.de/pm/2013/07/12.mondeText.artikel,a0006.idx,1).
[4] Größenwahn und Ahnungslosigkeit, taz vom 6.4.2014 (www.taz.de/!136174/).
[5] Unser Kompass zeigt gen Süden, Le Monde diplomatique vom 8.4.2011, (www.monde-diplomatique.de/pm/2011/04/08.mondeText.artikel,a0051.idx,15).
[6] André Singer, Os sentidos do lulismo – Reforma gradual e pacto conservador, São Paulo 2012.
[7] Luís Brasilino, Novas expressões do conservadorismo brasileiro, Le Monde diplomatique (Brasil) Oktober 2012, (www.diplomatique.org.br/artigo.php?id=1268#).
[8] Fundação Perseu Abramo/Fundação Friedrich Ebert (Hrsg.), Classes? Que classes? São Paulo o. J. [2014] (http://library.fes.de/pdf-files/bueros/brasilien/10597.pdf).
[9] Im Human Development Index belegt Brasilien den Rang 85. Zugleich werden im Human Development Report 2013 mit dem Titel »The Rise of the South« gerade die Erfolge des Landes bei der Armutsbekämpfung hervorgehoben.
[10] Vgl. den aktuellen Jahresbericht von Human Rights Watch (www.hrw.org/world-report/2014/country-chapters/brazil).
[11] Mehr dazu in G. Dilger / T. Fatheuer / C. Russau / S. Thimmel (Hrsg.), Fußball in Brasilien: Utopie und Widerstand, Hamburg: VSA 2014.

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