1. April 2001 Helmut Arnold / Theodor Bergmann
BSE ist Folge, nicht Ursache
Seit dem 18. Jahrhundert ist die Traberkrankheit (Scrapie) bei Schafen bekannt. Prionen – Eiweiße mit teilweise veränderter Aminosäuresequenz und Struktur – sind die Erreger dieser Krankheit, die unter TSE (Transmissible Spongioform Encophalopathie) zusammengefasst wird. Auch Ziegen, Haus- (Katzen und Hunde) und Zootiere sowie wild lebende Tiere können infiziert werden. Bei Schweinen, Geflügel und Fischen konnte TSE noch nicht nachgewiesen, aber auch nicht ausgeschlossen werden. BSE (Bovine Spongioforme Encephalopathie) – eine schwammartige Hirnveränderung – ist die Spezialform dieser Krankheit bei Rindern.
1978 wurden auf Druck der Futtermittelindustrie die Qualitätsanforderungen an Tiermehl gesenkt. Infektiöses Schaffleisch im Tiermehl soll Auslöser der BSE-Krankheit bei Rindern gewesen sein, die erstmals 1984 in Großbritannien (GB) beobachtet wurde. BSE entwickelt sich ab 1984 in GB zunächst epidemieartig. Inzwischen ist dort die Gesamtzahl der Erkrankungen stark rückläufig. Stattdessen tritt sie in weiteren europäischen Ländern auf. In jüngster Zeit wird sogar infektiöses Material aus Deutschland in GB nachgewiesen – nicht nur zum Entsetzen von Frau Künast!
1987 formulierte Prusiner die Theorie der Prionenkrankheiten, wozu auch die Creuzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD) bei Menschen gehört. 1995 starb in GB der erste Patient an der neuen Variante, der nvCJD; bis jetzt sind insgesamt rund 100 Menschen – vor allem in GB – betroffen. Prognosen gehen in den kommenden Jahren alleine in GB von einigen Tausend nvCJD-Toten aus.
Übertragungswege, Verhalten in der Umwelt und spezielle Wirkungsweise im Körper sowie Resistenzen sind noch weitgehend unbekannt. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist anzunehmen, dass vor allem durch die Verfütterung von kontaminiertem Tiermehl bzw. Verzehr von infektiösem Risikomaterial TSE/BSE-Infektionen verursacht werden; andere Wege (z.B. Kuh zu Kalb; Parasiten) sind nicht auszuschließen. Die Erreger sind hoch persistent, d.h. insbesondere durch küchenübliche Methoden nicht zu beseitigen. Auch bei Ökoprodukten können keine Garantien auf infektionsfreie Waren gegeben werden, doch ist hier die Wahrscheinlichkeit am geringsten.
Die Kombination von Überproduktion, Rinderwahn, Verbraucherängsten sowie bemerkenswerten wissenschaftlichen Unsicherheiten ließen den Rindfleischmarkt in Deutschland und teilweise in Europa zeitweise weitgehend zusammenbrechen. Erstmals ist Rindfleisch vom Erzeuger billiger zu erwerben als Schweinefleisch. Rund 50 Tsd. Rindermastbetriebe, 12% aller Betriebe, sind in der Bundesrepublik besonders von der Krise betroffen. Doch seit Anfang dieses Jahre wird die BSE-Problematik um die Maul- und Klauenseuche, ebenso von GB ausgehend, und den Antibiotika-Skandal in der deutschen Schweinemast ergänzt.
BSE offenbart tiefe Agrarkrise
Der BSE-Skandal ist ein besonders gravierender Beleg für teilweise erhebliche kriminelle, zumindest fahrlässige, umwelt- und gesundheitsschädliche Produktions- und Vermarktungsverfahren in der Landwirtschaft. [1] Die in letzter Konsequenz tödlichen Machenschaften sind nicht den Landwirten allein, sondern vor allem der gesamten mit ihr »verbundenen« Wirtschaft anzulasten, insbesondere der Arzneimittel-, Abfall- bzw. Futtermittel-, Lebensmittel- und Vermarktungsbranche. Der Gewerkschaft NGG zufolge zählen mindestens 10.000 Arbeitsplätze in der Futtermittel- und Fleischwirtschaft zu den Krisenopfern.
Es zeigt sich die enorme – nicht nur qualitative – Anfälligkeit der international arbeitsteiligen, intensiven und spezialisierten agrarisch-industriellen Produktionsweise. Der unbedingte Zwang zur einzelbetrieblichen Profitmaximierung – hauptsächlich vermittelt über sinkende Erzeugerpreise und zunehmende Schulden – stellt auch in den landwirtschaftlichen Betrieben mitunter eine Bereitschaft her, fahrlässige Machenschaften – häufig wider besseres Wissen – zu praktizieren. Selbst weit überdurchschnittlich große Betriebe sind z.T. nicht mehr in der Lage, aus eigener Kraft rentabel zu wirtschaften und beziehen bis zu 50% ihres Einkommens aus staatlichen Subventionen.
Die Agrar- und Wirtschaftspolitik unterstützt oder erzeugt diese Trends durch die massive Subventionierung der Überschussproduktion und die ebenso massive Exportförderung; hinzu kommt die teilweise sehr teure Beseitigung der Überschüsse. Agrarpolitik hieß in der Vergangenheit auch Rücknahme von Kontrollen und vorsorgeorientierter behördlicher Beratung. Vor allem fehlt es an energischer Hilfe für eine umwelt-, sozial- und gesundheitsverträgliche Landwirtschaft. Die Vorherrschaft preis- und marktpolitischer Instrumente ist seit den 50er Jahren und der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik in der 60er Jahren gegenüber struktur-, sozial- und umweltpolitischen Ansätzen ungebrochen. Doch der Preis richtet es nicht, sondern richtet!
Kennzeichen- und Registrierungssysteme sowie ergänzende Kontrollen – gläserne Produktion – können diese Mängel grundsätzlich nicht beheben, allenfalls transparenter machen. Der bisherige Weg, Land- und Ernährungswirtschaft durch eine zunehmende Exportorientierung und rasche Steigerung der Betriebsgrößen rentabler zu gestalten, ist für die meisten Betriebe grundsätzlich als gescheitert anzusehen. Die Bindung der Subventionen an Flächen- und Bestandsgrößen begünstigt nicht nur die ohnehin profitablen Betriebe, sondern schädigt auch die Agrarproduktion der Empfängerländer. Die beschlossene Tötung von rund 400 Tsd. in der Regel gesunden Rindern in Deutschland – ca. zwei Mio. in der EU – ist in mehrfacher Hinsicht problematisch und abzulehnen, nicht nur weil sie über zwei Mrd. DM kostet. Ihnen stehen etliche Millionen Rinder in der EU gegenüber, die ebenso potenziell infiziert sein können; die Abschlachtung löst mithin das BSE-Infektionsrisiko nicht, zumal den Bauern freigestellt sein soll, ob sie ihre älteren Rinder abschlachten lassen wollen oder nicht; außerdem können Schafe, Ziegen und andere Tiere ebenso infiziert sein. Zu akzeptieren sind allerdings die Tötung und Verbrennung risikobehafteter Tiere und Nahrungsmittel im weitesten Sinne. Aber allzu offensichtlich versteckt sich brutale kapitalistische »Marktentlastung« hinter seuchenhygienischen Problemen und tiefer Konsumentenangst. Die Vernichtung von Nahrungsmitteln ist Bestandteil der krisenhaften Agrarpolitik und nicht deren Korrektiv!
Mittlerweile zeichnet sich eine Stabilisierung des Rindfleischmarkts durch enorme staatliche Aufkäufe und verbilligte Exporte nach Griechenland, Italien und Frankreich – auch nach Russland und Nahost – ab. Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung hat auf ihre Ausschreibung am 10. Februar – ca. 4 DM pro kg – nur noch ca. 3 Tsd. t gegenüber 15 Tsd. t im Dezember 2000 angeboten bekommen; 1996 und 1997 waren EU-weit 180 Tsd. t aufgekauft worden.
Die bisherige Umweltdebatte zeigt auch, dass vor allem der konsumierende Mensch im Mittelpunkt des Interesses steht, während die Arbeits- und Lebensbedingungen in der Landwirtschaft und in der ihr verbundenen Industrie – z.B. der Fleischindustrie – keinerlei Beachtung finden. Keine neue Erfahrung! 1905 verdingte sich Upton Sinclair wochenlang als Arbeiter in den Schlachthöfen Chicagos und verarbeitete seine Eindrücke in »Der Dschungel«, seinem berühmtesten Roman. Damit löste er eine weltweite Entrüstung und einen kurzfristigen Rückgang des Fleischkonsums aus. Die Qualität der Fleischprodukte – vor allem die der Konserven – wurde daraufhin verbessert, nicht aber die Arbeitsbedingungen. Er folgerte daraus: »Ich zielte auf die Herzen der Menschen, aber ich traf sie nur in den Bauch.« Das könnte auch heute geschrieben sein.
Elemente einer agrarpolitischen Wende
Die BSE / TSE-Forschung ist erheblich zu intensivieren. Vor allem Bestimmungsverfahren, Übertragungswege und Therapien sind dabei von übergeordnetem Interesse. Schafe, Ziegen und andere potenziell infizierbare Tiere sind in das Testsystem einzubeziehen. Es ist bezeichnend, dass sich die Krise vor allem am Rind festmachte – hier gibt es eine ausgesprochene Marktordnung auf der Großhandelsstufe – und nicht bei der seit langem bekannten Traber-Krankheit bei Schafen, für die keine EU-Marktordnung existiert!
Tiermehlherstellung und -verfütterung sind komplett zu verbieten, ebenso die systematische wachstumsfördernde medikamentöse Behandlung in der Tierproduktion – nicht nur in der Schweinemast. Eine Beibehaltung der offenen Deklaration und eine Positivliste der eingesetzten Rohstoffe ist ebenso zu fordern wie eine eindeutige Produkthaftung der Futtermittelhersteller. Beratung und Kontrolle sind in der Landwirtschaft sowie dem vor- und nachgelagerten Gewerbe und der Tiermedizin erheblich zu verstärken. Die erforderlichen Personalkosten zur Vorsorge sind bestimmt geringer als die für die Krisenbewältigung.
Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass die Qualität von Produktion und Produkten auch sehr stark von der Ausbildung, der Bezahlung und der Motivation der Beschäftigten abhängt; wie sollen diese in diesem ausgesprochenen Niedriglohnbereich erzielt werden?
Die Viehbestände sind grundsätzlich an die verfügbare Fläche zur Futterversorgung und Gülleentsorgung zu binden. In diesem Zusammenhang sollte auch der Anbau von Feldfutterpflanzen stärker unterstützt werden (max. 2 Rinder pro ha). Eine mechanische Grenze von Fördergrößen – z.B. 100 ha oder 90 Tiere – ist eher problematisch, da damit wenig über die Produktionsweise ausgesagt ist. Schon eher wäre eine Fördergrenze auf eine bestimmte Einkommens- oder Gewinnsituation bzw. Arbeitsintensität zu beziehen. Der Hinweis, mit den o.g. Fördergrenzen würden insbesondere ostdeutsche genossenschaftliche Betriebe gefährdet, bedarf einer genauen Analyse, denn auch hier haben die Betriebe überwiegend Bestände deutlich unter hundert Tieren. Die EU-Agrarförderung ist völlig neu auszurichten. Die Orientierung auf den Weltmarkt und damit den agrarkapitalistischen Großbetrieb nützt nur wenigen, ist für die Allgemeinheit aber am kostspieligsten. Bereits Karl Kautsky mahnte 1899 in seiner berühmten »Agrarfrage«, dass mit der Industrialisierung der Landwirtschaft zwar grundsätzlich die Produktionskosten sinken sollten, sich aber durch das Wachsen der Pacht- und Schuldzinsen, das Erbrecht, Steuern und »Ausraubung des Bodens, steigende Empfindlichkeit der Kulturtiere und -pflanzen...« etc. die Produktionskosten immer weiter erhöhen. Die Überproduktion in Kombination mit dem BSE-Skandal ist ein Ergebnis dieser Strategie.
Die meisten Maßnahmen werden jedoch wirkungslos bleiben, wenn nicht der massive Existenzdruck von den meisten landwirtschaftlichen Betrieben genommen wird, der Konkurrenzkampf um Flächen und Quoten verringert, und der Zwang zur Profitmaximierung abgemildert wird. Der Druck auf die Betriebe könnte mit den vorhandenen Finanzmitteln deutlich zurückgenommen werden. Rund 80% der Agrarsubventionen gelangen bisher nicht oder nicht unmittelbar in den bäuerlichen Hof, sondern erreichen in der Regel den Großhandel. Die Finanzmittel sind nicht aber auf die Großhandelsstufe, sondern grundsätzlich auf den einzel- oder überbetrieblichen Bedarf sowie soziale, ökologische und regionalpolitische Kriterien auszurichten. Sie sind um sozial- und strukturpolitische Förderungen, wie überbetrieblicher Arbeits-, Maschinen- und Stalleinsatz sowie die Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte zu ergänzen.
Verstärkte Prämien für den Öko-Landbau sind ein Element der agrarpolitischen Wende, aber alleine unzureichend, da nur ein geringer Teil der Betriebe erreicht wird (max. 20%) und der Öko-Markt begrenzt ist. Außerdem sind die konventionellen Betriebe ebenso voll auf soziale und ökologische Ziele auszurichten, die nicht identisch mit Öko-Richtlinien sein müssen. Die Spaltung der Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau zeigt außerdem, dass die Beziehung von ökologischer Produktion und Gewinnmaximierung unterschiedlich gesehen wird. Die derzeit diskutierten Konzepte sind noch zu stark auf die Produktionsmethodik – Öko-Landbau/ökoähnlicher Landbau/gewerblicher Landbau – orientiert. Die Gefahr besteht darin, dass der bisherige markt- und preispolitische Ansatz bleibt und um ökologische Fördertatbestände ergänzt wird. Konsequenz: Die Masse bezahlt noch mehr für die gehobene Klasse.
Zur Wende der Agrarpolitik gehört auch die Erkenntnis, dass nur ein gut ausgebildeter, motivierter und ordentlich bezahlter Landwirt oder Landarbeiter bzw. Melker die erforderlichen ökologischen Standards nachhaltig sichern kann. Die qualitative Krise der Agrarwirtschaft verweist auf die unzureichenden bzw. falsch ausgerichteten Arbeitsstrukturen.
Es gibt weder die Landwirtschaft noch den Verbraucher. Klein- und mittelbäuerliche Betriebe sind durch Beratung und Förderung zu unterstützen. Über 50% der Landwirte müssen, um ihren Betrieb zu halten, einem Nebenerwerb nachgehen; d.h. viele Bauern oder Familienangehörige sind zuglech Kollegen/Kolleginnen! Mit ihnen ist das Gespräch zu suchen. Rentable Betriebe bedürfen nicht der staatlichen finanziellen Produktionsunterstützung; ebenso wenig die vor- und nachgelagerte Wirtschaft.
Agrarproduktion und -märkte sollten wieder stärker auf ihre regionalen, wirtschaftlichen und ökologischen sowie sozialen Möglichkeiten bezogen werden. Dieser Ansatz klingt gut und ist zu unterstützen, ist aber angesichts der bestehenden sektoralen wie internationalen Verflechtungen nur eingeschränkt wirksam. So wurden inzwischen aus Gründen der Flächenwertsteigerung in fast allen Großstädten die Schlachthöfe geschlossen – in Frankfurt sogar der modernste in Europa. Mithin fehlt häufig die konkrete regionale/lokale Bereitschaft, die Agrarwende mitzutragen, wenn die Superprofite anders erzielt werden können.
Die Überproduktionskrise wird sich letztlich nur auf internationaler, insbesondere EU-Ebene grundsätzlich angehen lassen. Sie ist auch eine weitere grundsätzliche europäische Herausforderung, gerade auch im Zusammenhang mit der angestrebten Osterweiterung. Es ist insbesondere darauf zu achten, dass mit der nun hoffentlich einsetzenden Krisenbewältigung keinen reaktionären Politikansätzen (Autarkie, verstärkter Druck auf die Kleinbetriebe zum Aufgeben, weitere Reduktion der Arbeitskosten) Vorschub geleistet wird; insbesondere, dass keine konservative staatliche Reglementierung beginnt, ohne die Ursachen wie verschärfte Konkurrenz, Verschuldung und Zwang zur Profitmaximierung anzugehen.
Wie gesagt: Es gibt auch nicht den Verbraucher! Die Mehrzahl der Verbraucher sind abhängig Beschäftigte und sind durch ein gutes Einkommen in die Lage zu versetzen, qualitativ hochwertige Produkte zu kaufen. Hier ist das gemeinsame Interesse mit den Gewerkschaften zu suchen. Im Beratungs- und Kontrollbereich sind mehr Stellen zu schaffen – eine originäre gewerkschaftliche Forderung! Die Arbeitsplätze in der Landwirtschaft sowie in dem vor- und nachgelagerten Bereich – vor allem Fleischindustrie und Metzgereien – sind hygienisch zu verbessern und besser zu entlohnen.
Helmut Arnold ist promovierter Agrarbiologe, lebt in Wiesbaden; Theodor Bergmann ist pensionierter Hochschullehrer, lebt in Stuttgart.