18. Dezember 2014 Joachim Bischoff / Björn Radke: Thüringen, der Rechtspopulismus und DIE LINKE

Bürger zu Beteiligten machen

Kategorie: Linksparteien

Das Bundesland Thüringen wurde 24 Jahre lang von der CDU regiert. Die neue Dreier-Koalition aus Linkspartei, Sozialdemokraten und Grünen hat keine große Veränderung ausgerufen. Der Koalitionsvertrag steht unter der Überschrift »Thüringen gemeinsam voranbringen – demokratisch, sozial, ökologisch«.

Einige Vorschläge der neuen Regierung basieren auf »dem guten Fundament« der Vorgängerregierung. »Andere unserer Konzepte werden sowohl auf Widerspruch als auch auf Zustimmung stoßen, der sich gegebenenfalls regional sehr unterschiedlich darstellen wird.« (aus der Regierungserklärung)

Ministerpräsident Bodo Ramelow hat zur breiten Beteiligung an diesem Arbeitsprogramm eingeladen. Dies basiert auf der Einschätzung, dass viele BürgerInnen die Auffassung vertreten, es würde über ihre Köpfe hinweg entschieden. Viele haben daher schon auf die Ausübung ihres Wahlrechts verzichtet. Soll diese gefährliche Passivität und Ablehnung aufgebrochen werden, müssen Räume geschaffen werden, um Argumente auszutauschen. Die neue Regierung will Betroffene zu Beteiligten machen. »Wir wollen zuhören. Wir sehen es nicht als Schwäche, sondern als Respekt vor dem Souverän, unsere Gestaltungskonzepte für das Land auch zu modifizieren, wenn es nötig ist.« Allein diese Haltung und Herangehensweise zeigt eine Umwälzung in der Methode der politischen Arbeit.

Dass dies keine leichte Aufgabe ist und die Rahmenbedingungen über die Umsetzungsmöglichkeiten mit entscheiden, kann am Beispiel der schleswig-holsteinischen »Ampel-Koalition« aus SPD, Grünen und SSW gesehen werden. Dort hatte die SPD-geführte Koalition in ihrem Vertrag festgehalten: »Die Politik in Schleswig-Holstein hat in der Vergangenheit viel Vertrauen verspielt. Nur noch 60% der Menschen in unserem Land sind überhaupt noch zur Wahl gegangen, obwohl unser Handeln sie direkt betrifft und obwohl viele demokratische Parteien zur Auswahl standen. Wir können deshalb nicht zur Tagesordnung übergehen, ohne nach den Ursachen dafür zu suchen und neue Wege zu beschreiten.« Die Koalition proklamierte eine »Neugründung eines Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühls im Norden«. Sie wollte keine »Politik des Durchregierens« betreiben, sondern »die historisch gewachsenen Gräben zwischen Regierungsmehrheit und Opposition, zwischen Politik und Gesellschaft überwinden«.[1] Seit zweieinhalb Jahren ist diese Landesregierung nun im Amt. Die günstige Konjunktur und höhere Steuereinnahmen erlaubten ihr zwar bisher einen »sanften« Kurs zur Einhaltung der Schuldenbremse. Dennoch wurden die formulierten Ansprüche der Beteiligung nicht umgesetzt. Deshalb hat die Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung zugenommen – und die politische Elite fährt den »alten« Kurs weiter, ist sozusagen zur Tagesordnung übergegangen.

Die Einladung zur breiten Beteiligung ist also kein Selbstgänger und kein Kuschelkurs. Der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow hat deshalb die Einladungen zur Zusammenarbeit präzisiert: Vor der Verbesserung der Finanzen für Gemeinden, Städte und Kreise soll es intensive Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden geben, vor der Errichtung weiterer Windparks und Pumpspeicheranlagen eine breite Debatte mit BürgerInnen und Verwaltungen schon weit im Vorfeld. Der Landtag soll ein »Transparenzregister« erstellen, um mögliche Einflussnahmen von Personen und Organisationen auf parlamentarische Arbeit sichtbar zu machen. Und die weitere Entwicklung der Schularten werde selbstverständlich mit allen Beteiligten – Pädagogen, Eltern, Schülern – diskutiert. Rot-Rot-Grün will »die Menschen vor Ort mitnehmen«, das Gespräch mit ihnen suchen, zusammen gute Lösungen finden – zum Beispiel ein tragfähiges Konzept für die Flüchtlingsaufnahme in den Landkreisen und kreisfreien Städten. Dazu werde man einen »Flüchtlingsgipfel durchführen«. Diese Räume der Beteiligung können ein Neuanfang sein.

Und die neue Regierung geht Themen an, die sich deutlich von dem unterscheiden, was bisherige Koalitionen praktizierten. So bestand eine der ersten Amtshandlungen darin, das Abschieben von Flüchtlingen in den Wintermonaten zu untersagen. Zudem wird der Kampf gegen den Rechtsextremismus mit mehr Geld ausgestattet. Die Abschaltung der V-Leute verdient als einziges Vorhaben das Etikett grundlegende Veränderung – eine Schlussfolgerung aus der Tatsache, dass der Thüringer Verfassungsschutz wegen seines Versagens bei der Beobachtung und Verfolgung des NSU-Terrorismus besonders in Verruf geraten ist.

In der Debatte zur Regierungserklärung brachte der AfD-Fraktionsvorsitzende die Kritik von rechts am neuen Regierungskurs auf den Punkt: Aus dem Koalitionsvertrag spreche ideologischer Machbarkeitswahn, und die Wahl eines »kommunistischen Ministerpräsidenten werde in eine Erziehungsdiktatur münden«. Die »auf Hysterie gegründete« Energiewende füge Thüringens Natur und Kulturlandschaft schweren Schaden zu, das Vorhaben des Ausländerwahlrechts sowieso: »Ich weiß, dass Sie das ideologische Ziel haben, Deutschland abzuschaffen.« Die AfD wirft der Koalition vor, mit dem Winterabschiebestopp die Enge in den Aufnahmeeinrichtungen und Unterkünften noch verschärft zu haben.

Bei anderen Themen, die für einen Großteil der 2,2 Mio. ThüringerInnen Bedeutung haben, setzt die neue Regierung auf Kontinuität oder Verbesserungen, die auch die neue Oppositionspartei CDU unterstützen kann. So sollen keine neuen Schulden gemacht werden. Rot-Rot-Grün will jedes Jahr 500 neue LehrerInnen einstellen, eine Verwaltungs- und Gebietsreform durchführen und die Energiewende vorantreiben. Bereits bis zum Jahr 2020 soll Thüringen seinen Energieverbrauch zu 35% aus Erneuerbaren Energien decken.

Das Projekt einer von einem linken Ministerpräsidenten geführten Regierungskoalition wird nicht nur von der AfD abgelehnt und von der CDU in großen Teilen verworfen. Auch die Mehrheit der BundesbürgerInnen steht diesem Novum mit gemischten Gefühlen gegenüber. 55% der Befragten widersprechen der Aussage, es sei an der Zeit, dass auch DIE LINKE mal einen Regierungschef stelle. 40% finden dagegen, die Zeit sei reif – im Osten (56%) gibt es dafür sogar eine Mehrheit, im Westen (36%) nicht.

In Thüringen wurde keine Revolution ausgerufen. Hinter Bodo Ramelow steht ein Landesverband der Linkspartei mit realpolitischen Zielsetzungen und einer strategischen Konzeption. Die Partei hatte längst vor dem Wahlsieg für ein breites gesellschaftliches Bündnis gearbeitet. Es gab regelmäßige Gesprächsrunden mit den Grünen und der SPD, man suchte Schnittmengen.

Die LINKEN-Parteiführung in Berlin schaut voller Hoffnung nach Thüringen. »Das ist ein äußerst positives Signal«, betonte Parteichef Bernd Riexinger. Er hofft, dass auch die Bundespartei dadurch Auftrieb erhält. Diese allerdings ist zerstritten wie selten zuvor. Die verschiedenen Gruppierungen kämpfen erbittert gegeneinander, der Ton wird rauer, die gegenseitigen Anfeindungen nehmen zu. Im Sommer verordnete die Parteiführung ihren Mitgliedern einen »Ehrenkodex« zum respektvollen Umgang. Geholfen hat das kaum. Zu Recht spricht nicht nur Bodo Ramelow mit Blick auf Bundestagsfraktion und Parteiführung von einem Tiefpunkt der politischen und parlamentarischen Kultur.


Thüringen als Impuls für eine Transformationsstrategie

Die Regierungsbeteiligung in Thüringen und der Einzug in die Staatskanzlei in Erfurt markieren eine politische Zäsur. »Meine Wahl besiegelt das Ende der DDR. Jetzt können wir in meiner Partei über die Verantwortung und die Fehler in der DDR viel deutlicher reden«, sagte der neue Ministerpräsident nach seiner Wahl. Richtig bleibt auch: Die Regierungsbildung in Thüringen ist ein »Meilenstein« für die Linkspartei. Bodo Ramelow vertritt zu Recht die These, dass eine rot-rot-grüne Koalition unter seiner Führung die Linkspartei verändern wird, gar ein Wendepunkt sein könnte: »Vorher galt bei uns Regierungsbildung immer als Betriebsunfall. Jetzt begreift man, dass es so nicht mehr geht.«

Im Zentrum der strategischen Auseinandersetzung in der LINKEN steht die Frage nach der Substanz einer Veränderung der kapitalistischen Wirtschaft. Ramelow distanziert sich zu Recht von einer antikapitalistischen Rhetorik, die in aller Regel überwiegend nur verbalradikal ist und substanziell bestenfalls nostalgisch Sehnsüchte nach einer Planwirtschaft mit undemokratischen Kommandostrukturen bedient. Sein Trennungsstrich ist eindeutig: »Der DDR hätte es gut getan, wenn sie sich marktwirtschaftlicher Instrumente bedient hätte.«

DIE LINKE in Thüringen will die reformwilligen Strömungen in der mittelständisch geprägten Wirtschaft in eine gesellschaftliche Reformkoalition einbinden. Das schließt für Bodo Ramelow nicht nur nicht aus, dass er auch in seinem neuen Amt gegen die Arbeitsbedingungen des Internet-Versandhändlers Zalando demonstrieren würde, sondern gehört zur neuen politischen Kultur. »In meiner Eigenschaft als ver.di-Mitglied kann ich mir die Streikweste überziehen und mich vor den Betrieb stellen ..., das ist eine Frage von Haltung.« Eine Landesregierung könne »die Ausbeuter beim Namen nennen«. Zalando betreibt in Erfurt sein größtes Logistikzentrum mit 2.000 MitarbeiterInnen, das auch mit öffentlichen Fördermitteln errichtet wurde.

Die Transformationsstrategie der Thüringer Linken basiert auf der Unterscheidung zwischen sozialistischer Marktwirtschaft und Kapitalismus: »Das Grundsatzprogramm der Partei ist das eine, unser konkretes Thüringer Landtagswahlprogramm das andere.« In Thüringen geht es im Rahmen eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses um Schritte in Richtung einer tiefgreifenden Reform. Die Landesvorsitzende der Linkspartei, Susanne Hennig-Wellsow, sieht in dem bisher zurückgelegten Weg bis hin zum Koalitionsvertrag eine Doppelstrategie: Man müsse immer unterscheiden zwischen dem, was parteipolitische Ziele der Linken seien, und dem, was sich in der politischen Realität des Freistaates umsetzen lasse. Grundsätzlich halte ihre Partei an dem Ziel fest, eine Gesellschaft zu erreichen, in der die Verteilungsverhältnisse grundlegend verändert, eine demokratische Beteiligung in der Wirtschaft verwirklicht und daher die Eigentumsverhältnisse demokratisiert seien. Die radikale Linke innerhalb und außerhalb der Linkspartei geht auf Distanz und klagt stattdessen laut über einen vermeintlichen Verlust an Prinzipientreue gegenüber der sozialistischen Idee.

Auf der anderen Seite stehen die Befürchtungen der Rechtskonservativen: Eine Aufwertung der Lohnarbeit, die Verbesserung der Mindestsicherungen und eine Aktivierung der BürgerInnen seien schon der Weg in eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Die Bild-Zeitung springt ihnen zur Seite: Die Linke wolle die Gesellschaft und das System verändern, das sei ihr »wahres Gesicht«. »Dazu passt die Forderung, die KPD nicht mehr zu verbieten. Immer unverhohlener lässt Bodo Ramelow durchblicken, wofür eine Linke in der Regierung stünde.«

Vor dem Hintergrund knapper parlamentarischer Mehrheiten (eine Stimme) und des rauhen Gegenwinds steht die rot-rot-grüne Koalition vor der Herausforderung, die Zustimmung für ihre Arbeit in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren zu erweitern. Bodo Ramelow sieht seine Wahl zwar als einen Wendepunkt für die Linkspartei, ob es auch einer für Deutschland werde, müsse sich noch zeigen. Er habe immer eine Koalition auch mit den Grünen angestrebt und sei dafür in der Linkspartei kritisiert worden. Wenn diese nur mit der SPD koalieren wolle, müsse die erst einmal wieder »Farbe bekommen«. Die Sozialdemokraten hatten bei der Landtagswahl im September nur 12,4% erreicht.

Von Thüringen geht das Signal aus, dass es eine Möglichkeit gibt, die zersplitterte Linke in Deutschland über alle Gräben hinweg in einem Regierungsbündnis zu sammeln. Und zwar unter verantwortungsvoller Führung der Partei, die bislang auf Bundesebene immer der Hinderungsgrund dafür war. Das ist vor allem für die SPD wichtig und für den Teil der Linkspartei, der gegenüber den radikalen Verweigerern dieser Reformstrategie in die Defensive geraten ist. Diese »pragmatische« Linke aus beiden Parteien hat nun wieder eine realistische Chance, eine eigene Mehrheit gegen CDU und CSU aufzubauen, die auch der SPD endlich wieder zu einer Reformoption verhilft. Eine solche gesellschaftliche Reformkoalition könnte auch auf Bundesebene die ökonomische Stagnation, den politischen Stillstand und die Gefahr einer weiteren Ausbreitung des Rechtspopulismus beenden.[2]

Bedrohung durch den Rechtspopulismus

Unter dem Regime Merkel ist in den letzten Jahren bei eher niedrigen Wachstumsraten und teils schmerzhaften Kürzungen eine deutliche Erhöhung des Arbeitspotenzials der Republik erreicht worden. Eine gesunkene Investitionsquote, ein großer Niedriglohnsektor und eine erhebliche Absenkung beim Niveau der Alterssicherung – diese Resultate der Logik neoliberaler Strukturreformen wurden durch Ausweitung der Beschäftigung kompensiert.

Die Schattenseiten der neoliberalen Modernisierung Deutschlands spielen in der CDU-Agenda und in der großen Koalition nur eine untergeordnete Rolle. Die ökonomische Stagnation und der Anstieg der sozialen Ungleichheit (sie­he zuletzt die OECD-Untersuchungen), durch die auch die mittleren Einkommenslagen zunehmend unter Druck geraten, sowie die Kinder- und Altersarmut oder die Langzeitarbeitslosigkeit sind höchstens indirekt ein Thema.

Unberührt lassen diese Themen die Konservativen allerdings nicht, weil die Folgen der durch die Haushaltskonsolidierungspolitik noch verstärkten ökonomisch-sozialen Problemlagen auf Kommunal- und Landesebene sehr viel deutlicher spürbar sind. Dadurch wird es für das bürgerliche Lager immer schwieriger, politische Mehrheiten zu gewinnen. So stellt die CDU nur noch in vier Bundesländern die/den Ministerpräsidentin/en. Diese immer größer werdenden weißen Flecken in der Hegemonie des bürgerlichen Lagers in den Bundesländern und Kommunen hat mit dem Niedergang der neoliberalen Freidemokraten und einer wachsenden Bewegung der rechtspopulistischen Wutbürger zu tun.

Unter dem Druck der größten Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg und des schleichenden Niedergangs der gesellschaftlichen Mitte wächst rechts von CDU und CSU mit der Alternative für Deutschland ein rechtspopulistischer David heran.[3] Teile der von den bürgerlichen Parteien enttäuschten und von Abstiegsängsten geplagten »gesellschaftlichen Mitte« fordern die Abgrenzung gegenüber Fremden – vor allem gegenüber islamischen MigrantInnen. Sie als »Sammelbecken für Weltverschwörungstheoretiker« abzutun und durch markige Worte verscheuchen zu wollen, wird deren Unruhe nicht auflösen.

Gelingt die Konsolidierung der AfD, hat dies logischerweise Folgen für die Kräfteverhältnisse bei der nächsten Bundestagswahl 2017. Angela Merkels nostalgischer Blick auf die dahinscheidende FDP als »immer noch Wunschpartner« verrät entgegen der Kommunikationslogik doch den romantischen Rückblick in die Vergangenheit. »Die FDP ist und bleibt unser natürlicher Koalitionspartner.« Das galt bis zur Finanzmarktkrise. Dann zerlegten sich die Neoliberalen. Etwas wehmütig ist die Erinnerung der Bundeskanzlerin schon: »Manchmal kann ich mich nur wundern, wie die FDP heute schon von vielen abgeschrieben wird«, sagte sie auf dem CDU-Parteitag in Köln.

Der Sozialdemokratie traut die Führungsspitze der Union offensichtlich nicht zu, einen Modernisierungskurs für das Land mitzuorganisieren (siehe Umbau der Energiewirtschaft). Deshalb die deutliche Klatsche Merkels in Richtung SPD. »Ich halte das Verhalten der SPD in Thüringen für eine Bankrotterklärung.« Diese hätte sich dort als »linke stolze Volkspartei« in die Rolle des Juniorpartners der Linken begeben: »Wie viel kleiner will die SPD sich eigentlich noch machen?« Die Kanzlerin zitierte den ehemaligen thüringischen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, der gesagt hatte, Thüringen sei für die Linke nur eine Etappe. Es sei deshalb die Aufgabe einer starken Union, so Angela Merkel, DIE LINKE 2017 als potenziellen Partner der SPD im Bund zu verhindern.

Bleibt als politischer Joker zur bürgerlichen Herrschaftssicherung die Partei der Grünen. Merkel sagt, dass die Grünen nach der letzten Bundestagswahl ein Bündnis mit CDU/CSU ausgeschlagen haben. Die Union sei zum Wagnis bereit gewesen. Aber wer mit den Grünen regieren will, darf zu Ökologie, Klima und Massentierhaltung nicht schweigen: »Die Zukunft zu thematisieren, ohne den Umwelt- und Klimaschutz zu benennen, ist verantwortungslos gegenüber nachfolgenden Generationen«, kontern die Angesprochenen. »Die CDU betreibt Mythen-Bildung. Die Union blieb bei den entscheidenden Themen stur, gerade im Bereich Öko hat sie sich keinen Zentimeter bewegt. Das geht dann natürlich nicht«, sagte die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckart, der Bild-Zeitung.


Die innerparteiliche Debatte der LINKEN

Damit sind wir bei einem Kern zukünftiger linker Politikgestaltung: Soll die bürgerliche Hegemonie einem Politikwechsel weichen, dann müssen Sozialdemokraten, Grüne und die Linkspartei an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Es ist ja ermutigend, wenn Unionspolitiker der LINKEN eine strategische Operation auf mehrere Jahre zutrauen; aber bei der so gerühmten Partei hat man doch mitunter Zweifel, ob die notwendige Klugheit und Entschlossenheit schon ausgebildet sind.

Aus Teilen der LINKEN, vor allem aus dem Landesverband NRW, kommt Kritik an dem in Thüringen verfolgten Kurs. So kann sich die Bundestagsabgeordnete Inge Höger nicht vorstellen, »wenn Bodo Ramelow den Weg so geht, wie es sich bisher abzeichnet, wie die Unterschrift unter das Papier des Unrechtsstaats, die Stellung möglicher Inhalte unter Finanzierungsvorbehalt und die Akzeptanz der Schuldenbremse, dass dort noch wirklich linke Inhalte umgesetzt werden können«. Hier wird ein grundsätzlich anderes Verständnis von sozialistischer Strategie deutlich: Nach wortreichen Leerstellen soll DIE LINKE im Kern als »tatsächliche Alternative zu den kapitalistischen Altparteien« aufgebaut und dargestellt werden. Die Realitätsferne der radikalen Linken innerhalb der Linkspartei kann größer nicht sein: »Eine linke Partei mit gut einem Viertel der WählerInnenstimmen – selbst bei der niedrigen Wahlbeteiligung – sollte unbedingt selbstbewusst fordern: Wir wollen regieren, her mit dem Ministerpräsidentenamt. Aber doch bitte nicht mit dem politischen Ausverkauf aller Ideen an die SPD und – welch ein kleiner Sonderskandal – sogar an die Grünen, die kriegsgeilste Truppe der gegenwärtigen Politik... Die LINKE und noch mehr die Menschen weltweit brauchen einen Aufbruch zu neuen, sozialistischen Welten.«

Dies ist eine deutliche Absage an eine Politik der Doppelstrategie, mit der zum einen eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der BürgerInnen erreicht und zum anderen eine umfassende Demokratisierung der Gesellschaft ermöglicht werden kann. Erstaunlich ist nicht so sehr der inhaltsleere Romantizismus von einer sozialistischen Idee, sondern die Resonanz dieser realitätsfernen und geschichtsvergessenen Einstellung in Teilen der Gesellschaft.

Bernd Riexinger hofft, dass von Thüringen eine Signalwirkung auf andere Bundesländer ausgehen kann, wenn das politische Konzept des Koalitionsvertrages umgesetzt wird, und tatsächlich sozialere, demokratischere und ökologischere Politik gemacht wird. Allerdings sieht der Parteivorsitzende derzeit noch keine Option für ein rot-rot-grünes Projekt auf Bundesebene: »Ich glaube, dass es 2017 entscheidend sein wird, ob der Wille besteht, bei SPD und Grünen, eine wirkliche Reformpolitik zu machen, soziale Reformpolitik zu machen oder sozial-ökologische Reformpolitik zu machen, die einen grundlegenden Politikwechsel herbeiführt. Ich glaube, ohne ein gemeinsames politisches Projekt wird es sehr, sehr schwer, Rot-Rot-Grün zu verwirklichen. Ein solches Projekt wäre aber dringend notwendig, wenn wir uns nicht mit der falschen Politik der Großen Koalition abfinden wollen.«

Es ist in der Tat eine Herausforderung für DIE LINKE, ein solches Projekt zu entwickeln und offensiv in die SPD und die Grünen hineinzutragen – und dabei herauszufinden, welche Schnittmengen ein gemeinsamer Gestaltungswille braucht. Dieses Werben für einen Politikwechsel gilt nicht nur für die Fragen, wie die gesellschaftliche Entwicklung in der Republik gestaltet werden soll, sondern auch für den Bereich der Europa- und Außenpolitik. DIE LINKE kann derzeit insgesamt mit keinem Konzept aufwarten, das überzeugend darlegt, welchen Weg sie gehen will, um einen zukunftsfähigen Entwicklungspfad einzuschlagen. Umso mehr fallen Auseinandersetzungen ins Gewicht wie das unwürdige »Toilettengate« als Tiefpunkt eines periodisch wiederkehrenden unfruchtbaren Bekennertums im Nahostkonflikt.

In der Öffentlichkeit herrscht erneut das Bild einer zerrissenen Partei vor. Bernd Riexinger hält dies für »übertrieben und entspricht auch nicht der Realität der Partei. Wie gesagt, man kann auch sehen, dass es kein klassischer Flügelkampf ist. Wobei, unsere Partei ist eine linkspluralistische Partei, da gibt es verschiedene Strömungen.« Wir teilen diese Einschätzung nicht. Es geht nicht mehr um das Nebeneinander verschiedener politischer Akzente, sondern um die hinter den Konflikten deutlich hervortretenden grundlegenden Differenzen zur Herausbildung einer sozialistischen Reformalternative mit Anschlussfähigkeit an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Der weitere Verlauf des reformorientierten Politikansatzes in Thüringen wird auf die Frage, in welche Richtung sich die Linkspartei entwickeln wird, Einfluss haben. Aber wenn es der Partei nicht bald gelingt, auch auf Bundes­ebene Vorschläge auf den Tisch zu legen, die als Anregungen zur Überwindung des gegenwärtigen Stillstands angesehen werden können, wird es mit Blick auf weitere gesellschaftliche Einflussnahme schwieriger. Deshalb muss die Linkspartei angesichts der wirtschaftlichen Stagnation, wachsender Probleme mit der Konjunktur und politischer Konflikte in Europa ihre Inhalte eines Politikwechsels verdeutlichen:

  • Die große Koalition hat sich offenkundig in Deutschland und Euro­pa mit der ökonomischen Stagnation und dem Zustand der politischen Ziel- und Hilflosigkeit abgefunden. Die Linkspartei sollte mit Blick auf die grotesken Verteilungsstrukturen offen für einen Politikwechsel eintreten, mit dem eben auch die ökonomische Stagnation zum veränderbaren Problem erhoben wird. Mit der Zielsetzung des europäischen Fiskalpaktes und der Schuldenbremse manövrieren die politischen Eliten die europäischen Gesellschaften immer tiefer in eine Sackgasse. Die politischen Erben dieser miserablen Mängelverwaltung sind die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien unterschiedlicher Couleur.
  • Die von den Notenbanken geschaffene Kreditexpansion fließt vor allem in die Finanz- und Anlagenmärkte und sickert nur geringfügig in die Realwirtschaft durch. Faktisch wird mit dieser Politik die Kluft zwischen der schwächelnden gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung und einem überdehnten Vermögens- und Finanzbereich verfestigt. Die Große Krise der Jahre 2008ff. hat enthüllt, dass die Verschuldung des Privatsektors und die große Asymmetrie in den Einkommensverhältnissen die eigentlichen Gründe der Krise sind. Die offizielle Strategie zur Krisenbekämpfung zielt darauf, die Verschuldung abzubauen und die enorme Ausdehnung des Kredits als Faktor für die Ausweitung der gesellschaftlichen Nachfrage zurückzuführen.
  • Für einen Politikwechsel in Richtung gesellschaftlicher Reformen, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der prekären Beschäftigungsverhältnisse gibt es unter den Bedingungen von niedrigen Zinsen fiskalische Spielräume. Die Linkspartei könnte sich für einen europäischen Investitionsfonds stark machen. Mit einem solchen Investitionsfonds für Deutschland und die Euro-Zone könnte das Wachstumspotenzial mittelfristig erhöht werden. Vor allem – aber nicht nur – in Krisenländern gibt es Unternehmen, die produktive Investitionen nicht realisieren können, weil sie nicht an Geld kommen. Für Abhilfe sorgen könnte ein europäischer Investitionsfonds vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen.
  • Die krisenverschärfende Kürzungspolitik muss beendet werden. Ein sofortiger Stopp der Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen sowie der Massenentlassungen ist dringend nötig. Die von Deutschland ausgehenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte sind wesentliche Faktoren der Krise. Ohne ihre Überwindung können die Probleme der europäischen Wirtschaft nicht grundlegend gelöst werden. Zentrale Richtschnur muss die Stärkung der Binnenwirtschaft in Deutschland sein. Dies beinhaltet vor allem deutlich höhere Lohnsteigerungen und öffentliche Investitionen.

Die Zivilgesellschaft und das realexistierende Parteiensystem sind nicht irgendwann reif für die Überwindung der ökonomisch-politischen Stagnation. Ein dringend erforderlicher Politikwechsel beginnt viel früher, zum Beispiel damit, aktiv die Inhalte eines solchen Projektes herauszuarbeiten, zur Diskussion zu stellen und für ihre Umsetzung zu werben.

Joachim Bischoff und Björn Radke sind Mitglieder der Partei DIE LINKE in Hamburg bzw. Schleswig-Holstein.

[1] Bündnis für den Norden – Neue Horizonte für Schleswig-Holstein, S. 4
[2] Siehe hierzu den Beitrag von Axel Troost »Wie politischen Stillstand und Stagnation überwinden?« in Sozialismus 12-2014.
[3] Deshalb hält die CSU auf Bundesebene eine absolute Mehrheit auch nur bei einer Verdrängung der AfD für möglich.

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