1. März 2002 Joachim Bischoff

Chaos in Argentinien

Argentinien ist Mitglied des südamerikanischen Wirtschaftsverbundes Mercosur. Die Präsidenten der anderem Mitgliedsländer – Brasilien, Bolivien, Chile, Uruguay, Paraguay – trafen sich Mitte Februar zu einem außerordentlichen Gipfel, um dem konkursreifen Land wenigstens moralisch den Rücken zu stärken. Die Spitzenpolitiker von Mercosur riefen den IMF und andere internationale Organisationen auf, das vom Absturz bedrohte Argentinien zu unterstützen.

Das Land benötigt einen weiteren Kreditplafonds von ca 25 Mrd. $ zu zinsgünstigen Konditionen. Damit würden die Reservemittel der argentinischen Zentralbank aufgestockt, so dass das Land in die Lage versetzt würde, sowohl der Abwertungstendenz des Peso zu begegnen, als auch – in begrenztem Umfang – den Kapitalverkehr mit den Gläubigerstaaten wieder aufzunehmen.

Der IMF ist durchaus bereit, Argentinien bei der Stabilisierung der Ökonomie und einer Rückkehr zum Wirtschaftswachstum zu helfen. Dies schon deshalb, weil die Gefahr noch längst nicht beseitigt ist, dass die chaotische Entwicklung auf die anderen Mitgliedsländer des Mercosur durchschlägt. Im Sinne einer Stabilisierung der Weltökonomie wäre also eine internationale Unterstützungsaktion für Argentinien durchaus sinnvoll. Allerdings gibt es in den USA – sowohl in der Bush-Administration als auch in Kongress und Senat – starke Vorbehalte gegen weitere Hilfen. Lateinamerika steht nicht auf den oberen Plätzen der Agenda, die außenpolitisch vom »Kampf gegen den Terrorismus und die Achsenmächte des Bösen« bestimmt ist. Aus der Wirtschaft und vor allem den Finanzinstituten kommen Vorwürfe, Argentiniens wirtschaftliche Elite und politische Klasse habe zinsgünstige Kredite nicht verdient. Angesichts dieser Konstellation müsste Argentinien zunächst eine überzeugende Konzeption zur Krisenüberwindung vorlegen, doch da sieht es trostlos aus.

Nach über drei Jahren wirtschaftlicher Rezession taumelt Argentinien beständig am Rande des Absturzes in ein in Europa nicht vorstellbares Chaos. Der Rückgang der gesellschaftlichen Stufenleiter der Produktion ist zwar bitter, aber der Rückgang der Reichtunsproduktion ist – wie zuletzt die Entwicklung in Osteuropa oder in Südostasien nach der Finanzkrise von 1997/98 gezeigt hat – nicht das Kernproblem. Entscheidend ist vielmehr, ob sich ein Pfad zur Umkehrung dieser Negativspirale abzeichnet und ob im politischen Raum Kräfte erkennbar sind, die sich für den Weg der grundlegenden Gesellschaftsreformen einsetzen. Die Arbeitslosigkeit wird zur Zeit auf ca. 22% taxiert; der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden sozialen Schichten beträgt ca. 40%. Auch die wirtschaftliche Elite und ihrer politischen Wasserträger leiden unter den Krisenbedingungen. Fakt ist aber, dass der wohlhabende Bevölkerungsteil seit Jahren einen Großteil seines Geldvermögens auf den internationalen Finanzmärkten angelegt hat. Die meisten Schätzungen gehen von einem Volumen von über 100 Mrd. Dollar aus, die als Vermögensposition außerhalb Argentiniens gehalten werden.

Infolge der hartnäckigen Rezession ist die Bindung des Peso an den Dollar aufgegeben worden. Für das im Ausland angelegte Geldvermögen stellt die Umstellung auf den Peso kein Problem dar. Alle Bankguthaben und Eigentumstitel im Lande sind per Gesetz zu Beginn des Jahres im Verhältnis 1:1,4 umgeschrieben worden. Der offizielle Wechselkurs wurde auf 1:2 von Dollar zu Peso festgesetzt. Die freien Devisenmärkte haben zwar bislang nur einen moderaten Abwärtskurs eingeschlagen, dennoch stellt dieser Sanierungsschritt drei Kernprobleme:

  Die Umschreibung von in Dollar nominierten Eigentumstiteln auf Peso im Verhältnis von 1:1,4 bringt allein dem Finanzsektor Verluste, die auf bis zu 20 Mrd. Dollar geschätzt werden. Für diese Verluste, die später durch Steuereinnahmen getilgt werden sollen, übernimmt der öffentliche Sektor eine Deckungsgarantie.

  Eine ursprünglich geplante differenzierte Umschreibung, nach der Eigentumstitel von über 100.000 Dollar im Verhältnis von 1:1 umgeschrieben werden sollten, also die Wohlhabenderen bei einem Wechselkurs von 1:2 auch stärkere Verluste zu tragen hätten, wurde fallen gelassen. Die Reichen haben selbst diesen Beitrag zur Umverteilung der Kosten aus der Währungsreform verhindern können.

  Die Umschreibung garantiert keine Verfügung über Guthaben, weil die Regierung aus Furcht vor einer Hyperinflation den Zugriff auf Guthaben stark beschränkt und dabei selbst ein gegenläufiges Urteil des obersten Gerichtshofes ignoriert. Mittlerweile gibt es über 20.000 Klagen gegen die Regierung wegen des beschränkten Verfügungsrechtes.

Immerhin hat die Regierung eine dramatische Entwertung des argentinischen Peso bislang verhindert. Sie hat dabei aber die Rechtsstaatlichkeit missachtet und jede stärkere Belastung der wirtschaftlichen Elite vermieden. Sie hat schließlich keinen gesamtnationalen Haushalt vorlegen können, weil sich die Provinzen weigern, einen Wechsel auf die Zukunft auszustellen. Die Regierung ist gegenwärtig nicht in der Lage, ihre laufenden Verwaltungs- und Personalausgaben zu bezahlen, weil die schwierigen Wirtschaftsbedingungen keinen normalen Steuerfluss zulassen.

Solange die Mindestbedingungen für eine finanzielle Reorganisation der öffentlichen Finanzen nicht gegeben sind, wird Argentinien keine neuen Kredite erhalten. An dieser Kondition kann auch der Appell der Mercosur- Mitgliedsstaaten nichts ändern. Allerdings ist es für Argentinien genau so unmöglich, aus eigener Kraft den Krisensumpf zu verlassen. Ohne eine wirksame Beteiligung der wirtschaftlichen Elite an den Folgekosten der Währungsreform dürfte auf demokratischem Wege keine Aufbruchbewegung zustande kommen. Die Regierung sucht in ihrer Verzweiflung einen Ausweg in Einzeleingriffen in die Ökonomie, etwa eine Sondersteuer auf Erdöl-Exporte von 20%. Mit solchen partiellen Schritten wird aber nur die ausgeprägte Verärgerung über die politische Klasse weiter befördert. Aus diesem Grund will der peronistische Präsident jede Erhöhung der Treibstoffpreise unterbinden. Mit diesen punktuellen Eingriffen lässt sich bestenfalls Zeit gewinnen, aber kein durchgreifende Reform anschieben.

Das entscheidende Problem der argentinischen Krise liegt also auf politischem Terrain. Die gesellschaftlichen Institutionen und der überwiegende Teil der politischen Klasse – inklusive der Gewerkschaften – sind diskreditiert. Die Situation der argentinischen Gesellschaft stellt sich gegenwärtig folgendermaßen dar:

  Der verarmte Teil Bevölkerung lebt faktisch von der Hand in den Mund. Die radikalisierten Teile der Arbeitslosen machen mit Straßensperren, Plünderungen und spektakulären Besetzungen auf ihre Lage aufmerksam. Die Regierung hat keine Konzeption und keine Ressourcen, mit diesem Problem umzugehen. Da auch der informelle Sektor immer stärker austrocknet, werden die Protestaktionen immer entschiedener.

  Die reichen Oberschichten machen sich gesellschaftlich und politisch unsichtbar. Sie haben ihre Rücklagen längst ins Ausland transferiert. Selbstverständlich könnten sie stärker im gesellschaftlichen Sanierungsprozess belastet werden. Allerdings garantiert die Verflechtung mit der politischen Klasse, dass diese ca. 5-10% der Bevölkerung bislang weitgehend ungeschoren davon gekommen sind.

  Entscheidend für das weitere Schicksal der Gesellschaft ist das Verhalten der KleinbürgerInnen und der besser gestellten Lohnabhängigen. Diese 50% der Bevölkerung kämpfen für einen Zugriff auf ihre Konten und Eigentumsrechte. Sie sind bei Straßenprotesten dabei, nutzen aber auch die Möglichkeiten des Justizapparates zur Sicherung ihrer Rechtsansprüche. Letztlich wird der größere Teil dieser sozialen Schicht den Krisenprozess mit einem massiven Eigentumsverlust und Verarmung bezahlen.

Präsident Duhalde hat mehrfach die chaotischen Folgen beschworen, die ein Misslingen des Ausbruchs aus der Krisenspirale hat. Wenn die internationalen Finanzorganisationen nicht bald zu einer wirksamen Unterstützung bereit sind, dürfte der Absturz des Landes in eine Hyper-Inflation nicht aufzuhalten sein. In einem solchen Prozess verlören die mittleren bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten die angefressenen Reste ihrer Geldvermögen und Eigentumstitel. In einem Lande wie Argentinien, wo die juristische Aufarbeitung und Erinnerung an die brutale Militärdiktatur immer noch aktuell ist, mag die Erinnerung an diese Zeit noch eine Zeitlang wirksame Dämme gegen erneute diktatorische Abenteuer bilden. Wenn es aber nicht gelingt, in Absetzung zur korumpierten politischen Klasse eine Erneuerungsbewegung voranzubringen, sind die weiteren Zukunftsperspektiven trostlos. Die wachsenden Menschenschlangen vor den Konsulaten der kapitalistischen Metropolen, wo sich ArgentinierInnen um Papiere für eine Auswanderung bemühen, sind ein deutliches Warnzeichen.

Die Krisenkonstellation wirft zugleich ein bezeichnendes Licht auf die reformpolitische Handlungsunfähigkeit der Internationalen Organisationen. Sicherlich ist nicht zu bestreiten, dass die derzeitige Reformkonzeption des peronistischen Präsidenten für Wirtschaft und Gesellschaft noch unzureichend ist. Andererseits wären zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen für das krisengeschüttelte Land sicherlich auch ein Ansporn für ein realistischeres Reformprogramm. Mit Blick auf die politische Konstellation in Lateinamerika und eine Stabilisierung der Weltkonjunktur sind weitere Kredite für Argentinien keineswegs Zahlungen in ein Fass ohne Boden.

Eine Reihe weiterer Länder wie Indonesien, Philippinen, Pakistan, Türkei etc. sehen sich mit ähnlich schwierigen Krisenkonstellationen konfrontiert. Die Bush-Administration betreibt eine äußerst kurzsichtige Politik, indem sie die disponiblen Kredite der internationalen Finanzorganisationen auf jene Länder konzentriert, die für die »Koalition gegen den Terror« einen herausragenden Stellenwert besitzen. Es bedarf wenig Phantasie zu der Schlussfolgerung, dass am Ende der Amtszeit von Präsident Bush nicht nur die USA, sondern auch die Weltökonomie in einem deutlich schlechteren Zustand dastehen werden.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.

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