1. Mai 2009 Joachim Bischoff, Richard Detje, Christoph Lieber, Bernhard Müller, Bernhard Sander, Gerd Siebecke, Guido Speckmann

''Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen'' (Gramsci)

Die Stunde der Exekutive

"Verstaatlichung" könnte zum Wort des Jahres werden. Ein Wort, das für grundlegende und doch zugleich sehr widersprüchliche politische Veränderungen steht. Der Vorgang sieht, technisch ausgedrückt, folgendermaßen aus: Die Finanzmarktaufsicht BaFin genehmigte Ende April 2009 ein Angebot des staatlichen Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) an die Aktionäre der bankrotten Bank Hypo Real Estate zur Übernahme ihrer Anteile – mit dem Ziel der Verstaatlichung dieser Bank. Die Aktionäre erhalten 1,39 Euro für die Aktie und können ihren Verkauf bis Anfang Mai abwickeln. Nehmen Aktionäre, wie die Gruppe um den Investor Flowers, dieses Angebot nicht an und ist damit die angestrebte Aktienmehrheit von 90% nicht gegeben, kann enteignet werden. Dazu wurde gegen den Widerstand eines veritablen Teils der CDU/CSU-Fraktion ein Gesetz durch den Bundestag gebracht, das nach dem Willen der großen Koalition nur für diesen singulären Fall zur Anwendung gebracht und nach kurzer Zeit wieder auslaufen soll.

Für die politische Exekutive handelt es sich um die logische Konsequenz des Kanzlerin-Wortes vom 5. Oktober 2008: "Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind." Doch darüber, was das in der Konsequenz bedeutet, gehen die Auffassungen in den ökonomischen und politischen Funktionseliten weit auseinander.

Für die Gralshüter der reinen Lehre von der überlegenen Steuerungsfähigkeit der Märkte, die in Medien und via Anzeigen ("Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft") nach einer kurzen Phase des taktischen Rückzugs wieder omnipräsent in Erscheinung treten, ist der neue Staatsinterventionismus politischer Verrat: "Diesen machtvollen Eintritt des Staates als rettender Akteur auf den Märkten konnte sich – noch wenige Monate, ja Wochen zuvor – niemand vorstellen. Es ist eine epochale Wende."[1] Rainer Hank, das neoliberale Sprachorgan der FAZ, weiß auch um die Hintergründe: "Auch der Staat wird häufig schwach, weil er im Bündnis ist mit mächtigen Unternehmen (das ist das Körnchen Wahrheit an der marxistischen Polemik vom staatsmonopolistischen Kapitalismus)."[2]

Zu denen, die Hank dabei im Sinn hat, gehört Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, der den Heißspornen entgegenhält, die Kirche doch im bürgerlichen Dorf zu lassen: "In allen zur Debatte stehenden Fällen verleibt sich der Staat nicht rigoros privates Vermögen ein. Er übernimmt nur, was ohne seine Geldspritzen ganz offensichtlich längst pleite wäre."[3] Dass Wiedeking dabei auch die Finanzbedarfe des von ihm gemanagten Unternehmens im Auge hat, ist selbstredend.

Ordnungspolitischer Paradigmenwechsel

Allerdings: Dass die Strategie der Übernahme spekulativ entstandener Verluste aufgehen kann, bezweifelt ein Teil der akademisch-ökonomischen Zunft – u.a. ihr derzeit prominentester Vertreter, der Nobelpreisträger Paul Krugman, und in Deutschland das keynesianisch inspirierte Aushängeschild des Sachverständigenrats, Peter Bofinger. Ihr Argument: Mit der politischen Garantie der Spareinlagen – siehe das obige Kanzlerin-Wort – hat der Staat de facto eine Garantie für alle Bankeinlagen übernommen, um nach dem Lehman-Schock einen Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern.

Die Folgerung daraus lautet: "Bei den niedrigen Eigenkapitalquoten der Problembanken ist die implizite Staatsgarantie gleichbedeutend damit, dass der Steuerzahler nahezu für sämtliche Verluste aus den toxischen Papieren aufkommen muss. Aus dieser ernüchternden Erkenntnis folgt für Krugman, dass dann aber dem Staat zumindest das vollständige Eigentum an solchen Banken übertragen werden muss. Nur so kann verhindert werden, dass die Steuerzahler die Verluste übernehmen, während die Aktionäre irgendwann doch von einer möglichen Stabilisierung profitieren."[4] Um eine Überforderung des Staates und ein nachfolgendes Staatsversagen zu vermeiden, plädieren Bofinger und Krugman für eine Strategie der Sozialisierung der Vermögen dort, wo die Steuerzahler für die Verluste einstehen sollen.

Doch nach welchen Kriterien wird entschieden, wo das der Fall ist? Tritt der Staat nur als Helfer in höchster Not auch als Neueigentümer auf? Oder verlangt die aktuelle Weltwirtschaftskrise nicht vielmehr grundsätzlich eine neue Rolle des Staates und eine neue Qualität gesellschaftlicher Steuerung der Ökonomie?

Die im Jahr 2007 ausgebrochene Finanzkrise hat sich von dem engen Terrain des Hypothekensektors – also von Krediten auf bebaute Grundstücke – zu einer weltweiten Krise des Finanz- und Kreditsektors entwickelt. Industrie, Dienstleistungen und der weltweite Handels- und Wirtschaftsverkehr schrumpfen in einem zuvor ungeahnten Ausmaß und Tempo. Im Unterschied zur Situation in den 1930er Jahren wird gegenwärtig auf diesen Strukturbruch in der Geld- und Kapitalakkumulation in der Regel nicht mit Einkommenskürzungen und einer restriktiven Finanz- und Fiskalpolitik der öffentlichen Haushalte reagiert. Dennoch sind wir mit einem Paradigmenwechsel konfrontiert. Dieser lässt sich für Deutschland terminieren. Anfang März 2008 fasste Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank und damit qua Amt einer der wichtigsten Verfechter des Kapitalismus hierzulande, zusammen: "Ich glaube nicht mehr an die Selbstheilungskräfte der Märkte." Ob er das wirklich so gemeint habe, fragte ein Genfer Privatbankier vorsichtig nach. Ackermanns Antwort: "Es ist illusorisch zu glauben, dass wir warten können, bis der Markt wieder ins Gleichgewicht findet."

Unbeschadet des neoliberalen Grunddogmas, dass der Staat als Steuerungs- und Regulierungsinstanz obsolet geworden sei, greifen die wirtschaftlichen Eliten und die politischen Klassen der kapitalistischen Länder auf staatsinterventionistische Methoden zurück. Mit diesem Paradigmenwechsel ist – zumindest für einen längeren Zeitraum – Schluss damit, möglichst alle Bereiche des öffentlichen Lebens der Marktsteuerung zu unterwerfen. Dass die Strategie einer umfassenden Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung letztlich an der systemischen Krise des Kapitalismus gescheitert ist, heißt jedoch nicht, dass die Auseinandersetzung um die politisch-gesellschaftliche Hegemonie beendet ist. Im Laufe eines langjährigen Krisenprozesses geht es darum, gegen­über der obsoleten Kapitalherrschaft die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine gesellschaftliche Steuerung und eine solidarische Ökonomie durchzusetzen.

Der Paradigmenwechsel hinsichtlich der Rolle des Staates sagt noch nichts darüber aus, was inhaltlich mit der Formel von der Rückkehr oder Renaissance des Staates gemeint ist. Denn das wird in den politischen Lagern unterschiedlich gesehen. In der Krise kommt der Steuerstaat wieder auf die Tagesordnung. Nur er ist zum Rückgriff auf die gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Einkommen ermächtigt. Nur der Staat ist aufgrund des Steuermonopols in der Lage, Einkommensflüsse an den Finanzsektor umzuleiten. Darin besteht sein einzigartiges Privileg, das nun von den privaten Finanzinstitutionen und anderen Unternehmen genutzt wird. Wenn derzeit versucht wird, die Finanzkrise durch öffentliche Garantien und Kapitaleinschüsse einzuhegen, dann ist dies faktisch eine Sozialisierung der Verluste.

Unter dem Druck der Krise fordert selbst der Mainstream der Finanzwelt Reformen. Alles wird davon abhängen, wessen Interessen die Reformen bestimmen. Wenn Banker nach Staatsinterventionen rufen, meinen sie die Sozialisierung der Verluste, während die Gewinne in privaten Händen bleiben sollen. Wenn Banker über Reformen reden, meinen sie bruchstückhafte (Re)-Regulierung und kurzfristiges Krisenmanagement – letztlich ist dies der Versuch, die neoliberale Grundregeln zu erhalten. Im Interesse der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wird jedoch ein ganz anderer Paradigmenwechsel gebraucht.

Die mögliche Alternative: nach einer umfassenden Verstaatlichung des gesamten Finanzsektors könnte durch politische Entscheidungen ein Vernichtungsprozess von Schulden und Vermögenstiteln organisiert werden, der zum einen den gesamtgesellschaftlichen oder makro-ökonomischen Notwendigkeiten Rechnung trägt und zudem auch die Vermögensbesitzer an der Abschreibung von Verlusten beteiligt. Die Idee, von den Anleihebesitzern und Vermögenden Geld zu holen und so die gebeutelten Steuerzahler zu schonen, hat in der Tat den Hintergrund, dass es um enor­me Summen geht.

Wege aus der Hegemoniekrise?

"Damit steht aber sogleich die Frage im Raum, aus welchen Steuern und von wem die Mittel erhoben werden, die den privaten Unternehmen zugeleitet werden, um ihre Spekulationsverluste auszugleichen. Wie kann die Umverteilung zugunsten des Finanzsektors durch 'die da oben' legitimiert und die Akzeptanz des Umverteilungsmanövers durch 'die da unten' erreicht werden?

Unweigerlich kommt die heute so genannte Frage der 'gouvernementalité' bzw. der 'governance' von globaler Umverteilung auf. Politische Konflikte sind vorgezeichnet – und werden bereits ausgetragen, wie etwa in den Auseinandersetzungen um die im internationalen Vergleich eher schmalbrüstigen Konjunkturpakte der deutschen Bundesregierung. Kurzum: Keynesianer können angesichts der Interventionen in die Wirtschaft einen Sieg vermelden. Oder handelt es sich dabei doch nur um einen Pyrrhussieg?"[5]

Über die Lösungen dieser politischen Spannungen differenziert sich das bürgerliche Lager aus. Vertreter einer nach wie vor neoliberal ausgerichteten Krisenlösung sammeln sich in der FDP oder hinter dem Plädoyer "Mehr Kapitalismus wagen" eines Friedrich Merz. Aber über neoliberalen Marktradikalismus lässt sich eine Mehrheitsfähigkeit des bürgerlichen Lagers nicht erreichen. Deshalb setzen Merkel & Co. auf "vertrauensbildende" Maßnahmen des Staates. "Der Staat muss Ordnungsrahmen setzen. Das ist ja die Idee der Sozialen Marktwirtschaft. Wir brauchen einen Ordnungsrahmen, in dem sich Markt und Wettbewerb entfalten können, ohne die es nicht geht. Das wissen wir in der Union, und das unterscheidet uns von den Sozialisten. Aber Wettbewerb und Markt allein führen nicht zu Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Das wissen wir auch, und das unterscheidet uns von den Liberalen."[6] Zugleich ruft Peter Müller die CDU als "die Partei des dritten Weges zwischen Sozialismus und Kapitalismus" aus und versucht so, die Sozialdemokratie auch in der politischen Symbolik in die Defensive zu drücken.

In der Tat gelingt es der SPD kaum, aus dem beschriebenen Paradigmenwechsel politisches Kapital zu schlagen. Obwohl sie seit Schröder immer wieder versuchte, gerade über eine Neudefinition der Rolle des Staates im Finanzmarktkapitalismus – als "aktivierender", "vorsorgender", "fürsorglicher" und jüngst "Pionierstaat" – politisches Profil zurückzugewinnen, bleibt sie jetzt selbst in ihrem "Regierungsprogrammentwurf" für die Bundestagswahl im Herbst in dem entscheidenden Punkt des Verhältnisses von Staat und Finanzmarktregulierung gegenüber dem Koalitionspartner subaltern: Die Lösung dieser Frage wird unter Punkt 2: "Eigentum verpflichtet. Die Soziale Marktwirtschaft in schwierigen Zeiten erhalten und erneuern" auf die Ergebnisse noch ausstehender Koalitionsgespräche verschoben. Damit sind die weitergehenden Neujustierungen der SPD in puncto sozialer Gerechtigkeit – Reichensteuer, Börsenumsatzsteuer, flächendeckender Mindestlohn – nicht in ein Gesamtkonzept gesellschaftlicher und politischer Reformen eingebettet, sondern bekommen – zumal mit dem "Lohnsteuer-Bonus" für Geringverdiener – den Charakter wahlkampfpolitischer "Gönner-Gesten". Das verwundert nicht, verbleibt doch die Steinmeier/Müntefering-SPD auch in Krisenzeiten in den Schröderschen Gleisen amerikanisierter (Wahlkampf)Politik. Mit "Politik ist Organisation" (Müntefering) allein lässt sich verlorengegangene Hegemonie nicht wiedergewinnen.

Die Schwierigkeiten der Linken mit dem Staat

Aber auch die politische Linke tut sich schwer. Sie hat weder in der Beurteilung der Chancen und Risiken des neuen Staatsinterventionismus Konsens, noch in der Frage, ob und wie daraus weitergehende Transformationsschritte zu gewinnen sind. Unstrittig ist, dass der gegenwärtige Einsatz des Staates sich auch als Versuch der Verteidigung der Machtpositionen der politischen und ökonomischen Funktionseliten erweist. Das macht auch die Schwierigkeit aus, die Tiefe der Hegemoniekrise des Neoliberalismus oder gar sein Ende genauer zu bestimmen, Kursänderungen und Kräfteverschiebungen zu analysieren und die Risse im bestehenden Machtgefüge taktisch zu nutzen.

So befürchtet Joachim Hirsch das "eigentümliche Wiederaufleben der Staatsillusion" und die Ablösung des "neoliberalen Marktkapitalismus von einer neuen Variante des Staatsmonopolkapitalismus... Die Parteien sind faktisch zu Staatsparteien geworden, deren Handeln sich auf taktische Stimmenmobilisierung beschränkt. Sie haben auf diesem Wege praktisch jegliche intellektuelle und konzeptionelle Fähigkeit eingebüßt."[7] Dies wird dann von Teilen der Bewegungs-Linken auch der Partei-Linken attestiert: "Wenn es noch eines Nachweises bedurft hätte, zeigt sich jetzt überdeutlich, dass die parlamentarische Linke nichts erreichen kann (zum Teil auch will) als einen moralischen und national verpflichteten, staatlich regulierten Kapitalismus."[8] Dieses innerlinke Verdikt von "Etatismus und (National-) Keynesianismus" führt dann zu so einer sektiererischen "Positionierung der radikalen Linken" wie: "Nicht nur Ackermänner, Zetsches und Merkels, sondern auch Lafontaines und Opel-Franze weiter in die Krise treiben!"[9]

Dieser Rückfall in innerlinke ideologische Blockaden schreibt in fahrlässiger Weise das staatliche und parlamentarische Feld als Terrain eines komplizierten und mühsamen Stellungskrieges der Linken zur Formierung eines alternativen historischen Blocks ab. Zudem würde durch einen solchen politischen Attentismus von links die "Transformation der Demokratie" nicht aufgehalten. Denn einen politischen Elitenwechsel hat es bislang noch nicht gegeben und die von Colin Crouch beschriebene Entwicklung einer Postdemokratie – die Institutionen bleiben äußerlich intakt, sind aber längst ausgehöhlt – hält an.[10] Dabei gibt es fließende Übergänge zum autoritären Staat, der sich gerade in der Weltwirtschaftskrise mit großer Macht reproduziert. Man denke nur an die Verteilung der Mittel des Bankenrettungsfonds, die doppelt so groß sind wie der Bundeshaushalt, über die aber nicht mehr als ein Dutzend Leute – ohne effektive parlamentarisch-demokratische Kontrolle – entscheiden.

Die politische Linke muss sich dieser paradoxen Situation stellen: Einerseits gilt, dass man aus der gegenwärtigen Krisensituation nur mit und durch den Staat herauskommt. Andererseits ist dieser Staat nicht der demokratische oder besser noch wirtschaftsdemokratische Staat, der der (Zivil)Gesellschaft ein mächtiges Mandat zur Eindämmung der Macht der ökonomischen Eliten, zur Regulation des Kapitals entsprechend den Bedürfnissen der Gesellschaft und zu neuen Ansätzen demokratischer Selbststeuerung überträgt.

Voraussetzung eines solchen komplizierten Stellungskrieges auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen ist also eine differenzierte Sicht auf die "Ereignisse, welche die Bezeichnung Krise tragen… Es wird nötig sein, jeden zu bekämpfen, der eine einzige Definition … oder … eine einzige Ursache oder einen einzigen Ursprung finden will… Vereinfachen heißt entstellen oder verfälschen. Also: komplexer Prozess…"[11]

Herausforderung "Stellungskrieg"

Ausgerechnet in dieser Situation sind Gewerkschaften, soziale Bewegungen, globalisierungskritische Organisationen aus der Zivilgesellschaft und die Partei Die Linke immer noch mit Folgewirkungen der politischen "Passivitätskrise" (Sennett) aus den Zeiten neoliberaler Hegemonie konfrontiert, "andererseits muss man die Ruhe im Land auch als Ausdruck tiefgreifender Rat- und Hilflosigkeit verstehen".[12] Und so tun sich diese Akteure in der Krise mit einer differenzierten Politik des Stellungskrieges schwer: Bei der staatlichen Intervention im Bankensektor geht es um politische Entscheidungen für Entwertungsprozesse, die sowohl makroökonomischen Erfordernissen einer entwicklungsfähigen Reproportionierung des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, als auch den politischen Gesichtspunkten sozialer Gerechtigkeit Rechnung tragen müssen und darüber transformatorische Perspektiven eröffnen können.[13]

Die Linke sollte sich erinnern: Wir sind an einer wichtigen Schnittstelle. Das Kreditsystem hat gerade dokumentiert, dass es die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarktes (Globalisierung) enorm befördern kann; zugleich wird das Ausbeutungssystem zum kolossalsten Spiel- und Schwindelsystem transformiert und die Zahl der den gesellschaftlichen Reichtum ausbeutenden Wenigen weiter reduziert. Gerade in der Krise von Überakkumulation und Spekulation wird sichtbar: Der Kredit kann die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise und Gesellschaftsformation bilden.

In der "Kritik der politischen Ökonomie"[14] ist herausgearbeitet, dass das Finanz- und Bankensystem zum einen die Möglichkeit eröffnet, über die vielfältigen Formen von Gesellschaftskapital eine Verfügung über den akkumulierten Reichtum durchzusetzen, ohne der strikten Kontrolle des Privateigentums zu unterliegen.

Damit wird aber auch die Möglichkeit einer sozialen Steuerung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses eröffnet. Denn das Kreditsystem wurde schon früh dazu genutzt, die kapitalistische Reproduktion nicht allein der Regulation durch den Profitratenausgleich anheim zu stellen, sondern den Kredit als Steuerungsinstrument einzusetzen. Durch z.B. steuerliche Regelungen in diesem Sektor ließe sich der riesige Berg von angehäuften Eigentumstiteln und Besitzansprüchen schrittweise und sozial friedlich reduzieren, um den gesellschaftlichen Fortschritt von zukünftigen strangulierenden "Claims upon Production" (Marx) zu befreien.

So könnten vom Kredit Impulse zur Reorganisation der ökonomischen Struktur der Gesellschaft ausgehen, indem nicht-kapitalistische Unternehmensformen (z.B. Genossenschaften) bevorzugt mit Finanzmitteln ausgestattet und damit Formen solidarischer Ökonomie befördert und implementiert werden.

In diesem gesellschaftlichen Reorganisationsprozess muss sich dann auch der Charakter des bloßen Staatsinterventionismus ändern: "Der Staat wird ... notwendig zum Eingreifen gebracht, um zu kontrollieren, ob die durch seine Vermittlung zustande gekommenen Investitionen gut verwaltet werden... Doch die bloße Kontrolle genügt nicht. Es geht in der Tat nicht nur darum, den Produktionsapparat so zu bewahren, wie er in einem gegebenen Moment beschaffen ist; es geht darum, ihn zu reorganisieren, um ihn parallel zum Wachstum ... der Gemeinschaftsbedürfnisse zu entwickeln."[15]

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Richard Detje, Christoph Lieber, Bernhard Müller, Bernhard Sander, Gerd Siebecke und Guido Speckmann sind Redakteure von Sozialismus.

[1] Rainer Hank, Der amerikanische Virus. Wie verhindern wir den nächsten Crash?, München 2009, S. 163f.
[2] Ebd., S. 187.
[3] Wendelin Wiedeking, Schluss mit dem Götzendienst, www.ftd.de/meinung/kommentare
[4] Peter Bofinger, in: FAZ, 30.1.2009.
[5] Elmar Altvater, Die kapitalistischen Plagen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2009, S. 55.
[6] Peter Müller, "Das Wahlprogramm muss CDU pur sein", in: FAZ, 17.4.2009.
[7] Joachim Hirsch, Die Krise des neoliberalen Kapitalismus: welche Alternativen?, links-netz Februar 2009.
[8] Heinz Steinert, Die Chancen der Krise: Die krisenfreudige Linke und ihre Enttäuschungen, links-netz Januar 2009.
[9] Krise, Protest und die radikale Linke. Interview mit Aktivisten zum Verhältnis von Partei und Bewegung, in: analyse & kritik 17.4.2009.
[10] Vgl. dazu die Beiträge in: Frank Deppe/Horst Schmitthenner/Hans-Jürgen Urban (Hrsg.), Notstand der Demokratie. Auf dem Weg in einen autoritären Kapitalismus?, Hamburg 2008.
[11] Antonio Gramsci, Gefängnishefte, H. 15, §5: Vergangenheit und Gegenwart. Die Krise, Hamburg 1991, Bd. 7, S. 1716.
[12] Eckhard Fuhr, Die Krise im Kopf, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4/2009, S. 39.
[13] Siehe hierzu ausführlicher Joachim Bischoff, Die Jahrhundertkrise des Kapitalismus, Hamburg 2009 (im Erscheinen).
[14] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band, MEW 25, Kapitel 27: Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion, Berlin 1971.
[15] Gramsci, Gefängnishefte, H. 22, §14: Aktien, Anleihen, Staatspapiere, Hamburg 1999, Bd. 9, S. 2096.

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