1. Oktober 2009 Joachim Bischoff und Richard Detje

Das Erbe der großen Koalition

Die große Koalition ist Geschichte – nicht erst seit dem Abend des 27. September. Bereits vorher ortete der SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier für eine Fortsetzung des Bündnisses in seiner Partei nur noch geringe Bereitschaft. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) warnte, dass "Union und SPD weiter an Bindekraft verlieren", da der Vorrat an "gemeinsamen Projekte" aufgebraucht sei. Und der stellvertretende CDU-Vorsitzende Christian Wulff prognostizierte, dass ein solches Bündnis keine vier Jahre mehr halten würde. Sein Argument: "Angela Merkel wäre eine Kanzlerin unter Druck von rot-rot-grüner Perspektive."

In der Tat sprechen gewichtige strategische und inhaltliche Argumente für einen Wechsel der Koalition. Schwarz-Rot hat zwar – im Konzert der G20 – die Wucht der schweren Finanz und Wirtschaftskrise zunächst abgefangen. In der kommenden Legislaturperiode geht es jedoch um die Schlüsselfrage, wie die Aufräumarbeiten organisiert werden. Dazu noch einmal Koch: "Wenn Angela Merkel ihre Möglichkeiten und Kräfte entfalten soll als Kanzlerin, muss sie befreit werden von sozialdemokratischen Hemmnissen. Wir wollen weniger Regulierung, wollen der Eigeninitiative der Menschen Raum geben. In der Steuerpolitik bedeutet das, die Leistungsträger im Mittelstand zu entlasten. In der Gesundheitspolitik heißt das, für mehr Wettbewerb unter den Anbietern zu sorgen, damit sie bessere Leistungen zugunsten der Patienten erbringen."

Auch umwelt- und verkehrspolitisch driften Union und Sozialdemokratie auseinander. Die Union will auf die Atomenergie als "Brückentechnologie" vorerst nicht verzichten. Deshalb plant sie für die bestehenden Kernkraftwerke eine Verlängerung der Laufzeiten. Bis 2020 soll nach ihren Vorstellungen der Anteil erneuerbarer Energie bei 30% liegen. Die Union spricht sich weiter für eine Weiterführung der Bahn"reform" aus, bei der 25% des Unternehmens an die Börse gebracht werden sollen. Schienennetz und Bahnhöfe sollen bei dieser Teilprivatisierung in den Händen des Bundes bleiben.

Die Sozialdemokraten wollen am Atomausstieg bis 2021 festhalten und setzen daher auf den Bau neuer Kohle- und Gaskraftwerke. Ihr Ziel ist es, 50% der Stromerzeugung bis 2030 aus erneuerbaren Energieträgern zu beziehen. Für die Stromnetze soll es eine Deutsche Netz AG mit möglicherweise staatlicher Beteiligung geben. Die Teilprivatisierung der Bahn schließt die SPD bis mindestens 2014 aus. Sowohl einen Börsengang als auch einen Einstieg privater Kapitalgeber bei der Bahn soll es mit den Sozialdemokraten in der nächsten Legislaturperiode nicht geben.

Bei einer erneuten Auflage der großen Koalition würden asymmetrische Steuererhöhungen und -senkungen, Deregulierungsmaßnahmen, Sozialabbau und Privatisierungen die Krise der Sozialdemokratie weiter vertiefen. Der Auszehrungsprozess an der Basis würde voranschreiten und die Partei müsste sich auf absehbare Zeit auf eine Minderheitenposition gegenüber den Christdemokraten einstellen. Diese Perspektive eines Juniorpartners ist mittelfristig selbst dann wenig überzeugend, wenn man meint, kurzfristig auf die Machtressourcen einer Regierungsbeteiligung und des leichteren Zugangs zu den Medien nicht verzichten zu können.

Absturz des Exportweltmeisters

Der Ausgangspunkt für die nächste Regierungsperiode: Mit Blick auf das Wirtschaftswachstum steht Deutschland schlecht da, auch wenn man das Land im internationalen Vergleich betrachtet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dürfte im laufenden Jahr um ca. 6% unter dem Vorjahresniveau liegen. Dieser Einbruch ist prozentual etwa doppelt so hoch wie in den USA (wo die Krise immerhin ihren Ausgang nahm). Frankreichs Regierung geht von einem deutlich geringeren Abschwung im laufenden Jahr von "nur" 2,25% aus. Der etwas bessere Ausblick deckt sich mit den Berechnungen der Europäischen Kommission und der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), die Frankreich eine Schrumpfung des BIP von 2,1% prognostizieren.

Aber Deutschland trägt im ökonomischen Absturz nicht die rote Schlusslaterne. Die türkische Volkswirtschaft musste BIP-Verluste von 14,2% hinnehmen, die russische Wirtschaft brach zwischen dem dritten Quartal 2008 und dem zweiten Quartal 2009 um 11% ein, Singapurs Konjunktur um 9,9%. Die japanische Wirtschaft schrumpfte 2008 mit 8,3% unter den G7-Industriestaaten am stärksten und liegt unter allen Staaten auf Platz fünf. Dass Deutschland und Japan beim Schrumpfen so weit vorne liegen, ist keine Überraschung. Beide Länder sind stark exportabhängig und werden deshalb besonders vom Einbruch der Weltnachfrage getroffen. Demgegenüber verfügen die USA als Zentrum der Immobilien- und Bankenkrise über einen weit größeren Binnenmarkt und Großbritannien über einen nicht nur von den Finanzmärkten abhängigen Dienstleistungssektor, sodass beide Länder von Absturz des Welthandels weniger stark betroffen sind.

Trotz der Erfahrung, dass sich eine exportorientierte "Modernisierungsstrategie" in der Krise als Achillesferse erwiesen hat, stellt die wirtschaftliche und politische Elite in Deutschland den Exportmotor weiterhin ins Zentrum ihrer Strategie für eine wirtschaftliche Erholung. Fakt ist: Im ersten Halbjahr 2009 sackten die Ausfuhren um 23,5% ab. Dabei gingen vor allem die Exporte in die EU-Staaten stark zurück. Aber auch der Handel mit Russland stürzte dramatisch ab (minus 38,9%). Dagegen entwickelte sich das Geschäft mit China verhältnismäßig gut und sank nur um 3,6%. Insgesamt verkauften deutsche Unternehmen Waren im Wert von 391,2 Mrd. Euro ins Ausland – ein weiterhin positiver Saldo angesichts rückläufiger Importe.

Die Erwartung, nach der Krise an den Exportboom der Vorjahre anknüpfen zu können, ist irreal. Die Asymmetrie der Handelsstrukturen auf dem Weltmarkt mit den USA als "consumer of last resort" und Deutschland, China und Japan als profitierende Exportnationen wird nicht zu rekonstruieren sein. China hat das verstanden und mit seinem Antikrisenprogramm auf eine stärker binnenmarktorientierte Entwicklungsstrategie umgeschaltet. Deutschland wird auch in Europa – das insgesamt einen ausgeglichenen Außenhandel aufweist – die Erfahrung machen, dass sich von der Krise gebeutelte Nachbarn nicht auf Dauer zu Opfern einer deutschen "beggar my neighbour policy" machen lassen. Für Deutschland stehen damit langwierige Strukturanpassungen – nicht nur in der Automobilindustrie – ins Haus. Deutschlands langjährige Vorzeigebranchen und Konjunkturmotoren der vergangenen Jahre werden weiter unter dem Krisendruck stehen.

Zu schwache Stabilisierung

Zur Krisenabwehr haben die Notenbanken unkonventionelle Wege eingeschlagen. Die Zinssätze wurden drastisch zurückgenommen und der Wirtschaft reichlich Geldkapital zur Verfügung gestellt. Die Regierungen haben durch Konjunkturprogramme und Staatshilfen für angeschlagene Unternehmen die Nachfrage gestützt und dazu beigetragen, die Löhne stabil zu halten, sodass der Konsum nicht ins Bodenlose fällt.

Ein halbes Jahr nach seiner Verabschiedung hat das staatliche Konjunkturprogramm die Wirtschaft in den USA nach Einschätzung des Weißen Hauses spürbar belebt. Das 787 Mrd. US-Dollar (540 Mrd. Euro) umfassende Investitionsprogramm habe etwa eine Million Arbeitsplätze gesichert oder neu geschaffen. Im dritten Quartal 2009 werde das Konjunkturprogramm die Wirtschaftsleistung der USA um 3% steigern. In den europäischen Metropolen blieben die konjunkturstützenden Maßnahmen hingegen deutlich hinter denen der USA und vor allem der VR China zurück. Dennoch trugen auch sie bislang zu einer Abdämpfung der Kriseneffekte bei.

Allerdings dürften diese Maßnahmen bei weitem nicht ausreichen, um ähnlich wie im Japan der 1990er Jahre eine mehrjährige hartnäckige wirtschaftliche Stagnationsphase mit weiter steigender Arbeitslosigkeit zu verhindern. Zwar wirkt die Wirtschaftspolitik expansiv, angesichts des Nachfrageeinbruchs von historischem Ausmaß aber nicht expansiv genug. Zugleich geht nach wie vor ein hohes Risiko vom internationalen Finanzsystem aus. Es wären zusätzliche fiskalpolitische Maßnahmen im gesamten Euroraum erforderlich, die derzeit angesichts des europaweiten politischen Attentismus nicht absehbar sind. Gerade in Deutschland wäre eine Stärkung der Binnennachfrage unerlässlich. Dennoch ist nicht mit einem eigentlich notwendigen dritten Konjunkturpaket zu rechnen. Man vertraut darauf, dass das Abbremsen des Absturzes zugleich der Beginn einer wirtschaftlichen Erholungsphase ist.

Hoffnungen und Zukunftsängste

Die relative Stabilisierung der Konjunktur spiegelt sich im Alltagsbewusstsein der BürgerInnen. Diese blicken etwas optimistischer in die Zukunft als noch vor ein paar Monaten. Bei einer der letzten Umfragen vor der Bundestagswahl zeigten sich nur noch 28% der Befragten davon überzeugt, dass das Schlimmste der Krise erst noch bevorstehe. Im Frühling waren es noch 42% gewesen. Auch die Zahl der Optimisten stieg: Während im Frühjahr lediglich 6% davon ausgingen, dass das Schlimmste überstanden sei, waren es bei der letzten Befragung schon 15%. BürgerInnen in den neuen Bundesländern und Personen mit Niedrigeinkommen schätzen die Lage deutlich schlechter ein als Westdeutsche und gut Verdienende.

Die Bundestagswahl war stark von Krisenangst überlagert. Das führte zu einem abgedämpften Wahlkampf, in dem niemand verschreckt werden sollte und allgemeine Eintracht beschworen wurde. Die Krise war auch im Wahlkampf für viele Menschen irreal – aber sie hatte gerade deshalb eine traumatische Dimension. Sie ist wie ein schwarzes Loch, in dem plötzlich Sparkonten, Immobilien, Banken, ja ganze Staaten verschwinden können. Diese Vorstellung hat selbst hartgesottene VerdrängerInnen erschüttert, weil sie gleichzeitig der Auffassung sind, Krisen im Grunde ohnmächtig gegen­über zu stehen. So sehr man sich auch müht, den Gürtel enger schnallt, Leistungsreserven mobilisiert und versucht, dem Typus des allseits flexiblen Arbeitnehmers gerecht zu werden: Daraus entsteht keine neue Prosperitätskonstellation. Stattdessen die Gewissheit: Infolge der Krise werden die Leistungs-,Flexibilitäts-, Arbeitszeit- und Lohnschrauben weiter angezogen.

Wie weiter?

Die Krise ist nicht vorüber. Umgekehrt: Nach der Bundestagswahl wird die Quittung für die Bankenrettungs- und Vermögenssicherungsoperationen präsentiert. Öffentliche Ausgaben, die einen noch tieferen Absturz in die Krise verhindert haben, werden wieder zurückgefahren. Sparpolitik droht deflationäre Ausmaße anzunehmen. Die Arbeitslosigkeit steigt innerhalb weniger Monate und wird nachfolgend die Löhne in den Keller ziehen. Und damit beginnt jene Abwärtsspirale aus Beschäftigungsabbau, Steuer- und Sozialversicherungsausfällen und öffentlichen Ausgabenkürzungen, die den Binnenmarkt nachhaltig beschädigt. Doch dieser gerade war es, der sich in den zurückliegenden Krisenmonaten als Stabilitätsanker erwiesen hatte. Kurzum: Eine politische Klasse, die meint, die Jahrhundertkrise bereits hinter sich zu haben, könnte durch falsche politische Weichenstellungen schnell wieder von ihr eingeholt werden. Statt einen Konjunkturaufschwung erwarten zu können – das so genannte V-Szenario – stünde sie nach einer kurzen Stabilisierungsphase vor einem neuen Abschwung – das W-Szenario – oder einer länger anhaltenden Stagnation. Wir haben die haushalts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Herausforderungen der nächsten Legislaturperiode in einer Übersicht zusammen gefasst.

Gleich, ob es nun doch zu einer schwarz-roten Koalition kommt, weil die politische Grundlage für eine schwarz-gelbe Regierung nicht ausreicht, oder in Deutschland doch die Vertreter der Marktwirtschaft eine Chance erhalten, die auflaufenden Krisenbelastungen zu managen: Die entscheidende Frage für die nächsten Monate wird sein, ob ein gesellschaftliches Bündnis von Lohnabhängigen, RentnerInnen und den aus dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozess ausgegrenzten BürgerInnen weiter an Konturen gewinnt. Die "Logik", über Steuersenkungen und Stärkung der privaten Haushaltseinkommen eine Beschleunigung der Kapitalakkumulation und der gesellschaftlichen Wertschöpfung zu generieren, wird versagen. Die Zukunft dieses Landes liegt nicht in Wettbewerbsvorteilen auf dem Weltmarkt. Die Zeiten, in denen man sich durch hohe Produktivität und geringe Lohneinkommen über den Export gesellschaftlichen Wohlstand aneignen konnte, sind vorbei. Im weiteren Verlauf der Krise wird deutlich werden: Die kapitalistischen Hauptländer müssen den Übergang zu einer politischen Ökonomie der Stärkung der Binnenwirtschaft vollziehen.

Öffentliche Verschuldung

Bei den öffentlichen Finanzen wird die aktuelle leichte wirtschaftliche Belebung also keine spürbare Entlastung mit sich bringen. Mitte 2009 sind die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden auf 1,602 Bio. Euro gestiegen. Allein gegenüber dem Jahresende 2008 hat sich die öffentliche Verschuldung am Kreditmarkt um 87 Mrd. Euro (+5,7%) erhöht. Der größte Teil der Neuverschuldung entfiel dabei auf den Bund, der im ersten Halbjahr 71,7 Mrd. Euro aufnahm und nun insgesamt mit 1,028 Bio. Euro in der Kreide steht.

Welche Löcher die Krise in die öffentlichen Kassen gerissen hat, lässt sich zum einen aus einem Vergleich der Steuerschätzungen vom Mai 2009 gegenüber Mai 2008 ablesen. Danach haben Bund, Länder und Gemeinden bis 2012 mit Steuerausfällen von insgesamt 316 Mrd. Euro zu rechnen. Zum anderen gibt die mittelfristige Finanzplanung Auskunft über die von der Regierung erwartete jährliche Neuverschuldung, die für das kommende Jahr auf 133 Mrd. Euro und selbst 2013 noch auf 70 Mrd. Euro geschätzt wird. Insgesamt klafft zwischen den projektierten öffentlichen Ausgaben und Einnahmen in den Jahren 2009-2013 eine Lücke von 511 Mrd. Euro.

Das sind gleichwohl optimistische Zahlen. Nicht nur, weil die große Koalition die Ausgaben durch eine "globale Minderausgabe" noch in diesem Jahr um 20 Mrd. Euro heruntergerechnet hat, ohne zu sagen, in welchen Etats und mit welchen Folgen dies geschehen soll. Wichtiger noch ist die der mittelfristigen Finanzplanung zugrunde liegende heroische Annahme, dass Deutschland ab 2011 auf einen Wachstumspfad des BIP von 2% zurückkehrt. Die Einnahmen werden so hoch- und die weiteren Krisenlasten heruntergerechnet.

Wollte die neue Bundesregierung versuchen, ihren Etat ohne Steuererhöhungen auszugleichen, müsste sie jeden vierten Euro auf der Ausgabenseite "einsparen". Am weitesten hatte sich im Wahlkampf die FDP vorgewagt, die die größten Einschnitte bei den Ausgaben für den Arbeitsmarkt sieht – aber auch nicht entfernt an Kürzungen von 20-25% der Bundesmittel herankommt. Deshalb konzentrierte sich die Debatte gegen den Willen der Regierungsparteien frühzeitig auf das Thema Steuererhöhungen. Diese hatten unmittelbar nach der Bundestagswahl 2005 – entgegen ihren Wahlversprechen – den Mehrwertsteuersatz von 16 auf 19% erhöht. Die fiskalische Erwartung von 8 Mrd. Euro Mehreinnahme pro erhöhtem Mehrwertsteuerpunkt erwies sich als realistisch – aber ebenso realistisch waren die Warnungen der Kritiker, dass dadurch die Binnenkonjunktur im Mitleidenschaft gezogen wird, wie selbst die Bundesbank in ihrer Bilanz feststellte. Dennoch kommt der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium, Clemens Fuest, zu dem Ergebnis: "Insgesamt gibt es zu einer Erhöhung der Mehrwertsteuer in den nächsten Jahren keine überzeugende Alternative." (FAZ, 31.7.2009)

Die Alternativen, die es gibt, lehnt er – wohl in Übereinstimmung mit der neuen Bundesregierung – ab: Eine ergiebige Vermögenssteuer wird gar nicht erst in Betracht gezogen, eine neue Erbschaftssteuerregelung nach dem Gewürge der letzten "Reform" (die nichts anderes als eine Verschenkaktion war) ausgeschlossen und eine Erhöhung der Einkommensteuer für die Besserverdienenden als "leistungsfeindlich" abgelehnt. Bleibt eine Heraufsetzung der in Deutschland im internationalen Vergleich extrem niedrigen Besteuerung des Grundvermögens, eine Erhöhung von Umweltsteuern, ein Anziehen der Schraube bei der Tabak- und Alkoholsteuer – und eben, da die­se Maßnahmen nicht ansatzweise reichen – ein erneutes Drehen an der Schraube der Mehrwertsteuer. Um dabei nicht sogleich der erneuten Wahllüge bezichtigt zu werden, wird – durch die Blume – vorgeschlagen, den zuletzt nicht erhöhten abgesenkten Mehrwertsteuersatz von 7% anzuheben oder "die Liste der Güter, für die der ermäßigte Satz steht, auszudünnen" (Fuest), bzw. die Mehrwertsteuerbefreiung beispielsweise für Gesundheitsleistungen aufzuheben. Betroffen wären davon in erster Linie die unteren Einkommen – die negativen Verteilungswirkungen der Mehrwertsteuer würden in einer Krise noch auf geradezu zynische Weise potenziert. Und wirtschaftspolitische Gegenargumente werden damit gekontert, dass eine höhere Mehrwertsteuer "die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen nicht belastet". Kurzum: Weiter so!

Ohne neues Wirtschaftswachstum können die Schuldenberge nicht abgetragen und die neu angewachsenen Defizite nicht ausgeglichen werden. Es bedarf dazu einer binnenwirtschaftlichen, sozialökologischen Ausrichtung der Ökonomie. Es müssen Konzeptionen gegen das globale Nachfragedefizit entwickelt werden. Die wirtschaftspolitischen Rezepte der Vergangenheit – Löhne flexibilisieren und Sozialleistungen einschränken – werden die Lage nur verschlechtern.

Arbeitsmarkt

Die Krise hatte den Arbeitsmarkt vor der Bundestagswahl erst teilweise erreicht – gemindert durch das Instrument der Kurzarbeit. Ohne die mehr als 1,4 Mio. Personen in Kurzarbeit wäre die Arbeitslosigkeit um rund 450.000 höher und die Zahl von 4 Mio. Arbeitslosen längst erreicht – zumal das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu einem statistischen Rückgang der Arbeitslosigkeit bis Oktober in Höhe von gut 190.000 führt). Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) geht in seiner jüngsten Prognose für das kommende Jahr (BIP 2009: -5,5%, 2010: +0,5%) von einem Rückgang der Beschäftigung gegenüber 2008 um rund eine Million und einer Zunahme der registrierten Arbeitslosen um 764.000 auf über 4,1 Millionen im Jahresdurchschnitt aus (bei einem Rückgang des BIP um 0,5% steigt die Arbeitslosigkeit auf knapp 4,3 Mio., siehe Kurzbericht 20/2009).

Auch wenn damit ein Dammbruch auf dem Arbeitsmarkt mit 5 Mio. Arbeitslosen in der Spitze noch einmal verhindert werden könnte, sind die Folgen doch einschneidend, gerade wenn man die mittlere Perspektive in Betracht zieht. Zum einen, weil bei steigender Produktivität und geringfügigem Wirtschaftswachstum ein Abbau des gestiegenen Arbeitslosensockels ohne umfangreiche arbeitsmarktpolitische Maßnahmen nicht zu erwarten ist. Zum zweiten, weil die Kosten der erzwungenen Erwerbslosigkeit enorm ansteigen. In ihrer mittelfristigen Finanzplanung (die von 4,6 Mio. Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt 2010 ausgeht) veranschlagte die große Koalition zur Deckung der Defizite der Bundesagentur für Arbeit bis 2013 rund 52,4 Mrd. Euro. Bei einem Anstieg der Hartz-IV-BezieherInnen um 450.000 belaufen sich die Mehrausgaben für das Arbeitslosengeld II auf 34,5 Mrd. Euro (2013) und die zusätzlichen Wohnkosten auf über 10 Mrd. Euro. Auf die Kommunen kommen im Hartz-IV-System Mehrausgaben in Höhe von 12 Mrd. Euro zu.

Gleichzeitig sinken die Einnahmen. Den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung hatte die große Koalition seit 2007 – als sich die Krise in den USA bereits abzeichnete – in insgesamt drei Schritten von 6,5 auf 2,8% gesenkt. Dadurch werden die Reserven der BA, die 2007 noch bei 17,9 Mrd. Euro lagen, am Ende dieses Jahres komplett abgeschmolzen sein. 2013 geht die BA in ihrer Haushaltsplanung von einem Defizit von 55 Mrd. Euro aus.

Nach gegenwärtiger Rechtslage ist der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung bis Ende 2010 bei 2,8% festgeschrieben. Und noch etwas engt den Handlungsspielraum der BA nachhaltig ein: Zwar muss der Bund für die Defizite aufkommen, allerdings nur in Form eines Kredits, den er der BA zur Verfügung stellt. In der politischen Debatte der kommenden Monate wird von wachsenden Schulden der BA die Rede sein – um dort wie im Hartz-IV-System Eingriffe in Leistungsgesetze und weitere Streichungen arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zu legitimieren.

Alterssicherung

In Ländern mit einem Alterssicherungssystem, das auf Kapitaldeckung beruht, schlägt die Krise unmittelbar auf die Einkommen der RentnerInnen durch. So schätzt die OECD ("Pensions at a Glance 2009) den Verlust privater Pensionssysteme im Jahr 2008 auf insgesamt 5,4 Bio. US-Dollar oder 23% des Fondsvermögens – in den USA sogar auf 26%. In Euro­pa nimmt Irland die führende Position mit Verlusten in Höhe von 37% ein. Der Weg der schrittweisen Umstellung auf kapitalbasierte Rentensysteme hat sich in der Krise als hochgradig riskant und verlustreich erwiesen. Umgekehrt: Staaten, deren Sozialsystem alle Erwerbsformen gleich behandelt und in die Kernsysteme einbezieht, erweisen sich nicht nur als krisenresistent, sondern weisen im internationalen Vergleich zudem die beste Arbeitsmarktbilanz auf.

Deutschland ist diesem Weg mit der Riester-Rente gefolgt – aber noch nicht so weit wie andere Länder vorangekommen. Hierzulande ist Altersarmut das Hauptproblem, denn Umverteilungsprozesse zugunsten unterer Erwerbs- und Renteneinkommen gibt es kaum. Niedriglohnbezieher – mit 50% des Durchschnittseinkommens – erhalten eine Rente, die bei etwa 55% des früheren Nettoeinkommens liegt – im Durchschnitt der OECD-Länder liegt dieses Rentenniveau bei 82%. Altersarmut ist gerade in Deutschland bei gleichzeitig verfolgter Niedriglohnstrategie ohne gesetzlichen Mindestlohn für große Teile der Bevölkerung vorprogrammiert. Zumal das Rentenniveau nach den diversen Renten"reformen" in diesem Jahrzehnt langfristig auf rund 40% (Eckrentner) absinkt.

In den zurückliegenden Jahren gehörten die RentnerInnen, zu jenen Bevölkerungsgruppen, die vom "Aufschwung" nur in der Zeitung lasen. Von 2004-2008 sind die Altersrenten real um 9,9% gesunken. Dennoch dürften auch in der Rentenversicherung die gesetzlich vorgeschriebenen Rücklagen – gegenwärtig 15 Mrd. Euro – infolge der Krise erheblich abschmelzen. Die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung in Deutschland hat die Krisenwirkungen zunächst abgefangen. Zeitverzögert und abgemildert wird eine höhere Arbeitslosigkeit die Finanzlage der Rentenversicherung verschlechtern.

Mit 80,7 Mrd. Euro machen die Zuschüsse zur Rentenversicherung ein Viertel des Bundeshaushalts (2010: 327,7 Mrd. Euro) aus. Die Begehrlichkeit in den Kreisen der neuen Bundesregierung wird groß sein, hier mittelfristig "Einsparungen" vorzunehmen. Eine forcierte Privatisierungsstrategie könnte der Weg sein – entgegen den Lehren aus der Krise, aber zugunsten der Finanzmärkte, die nach neuen Anlageformen Ausschau halten, um ihre alten und neuen Renditeziele realisieren zu können. Bert Rürup, "Vater" diverser Renten"reformen" und mittlerweise im Dienst des Finanzdienstleistern AWD sieht "die nächste Bundesregierung vor einem rentenpolitischen Scherbenhaufen" und erwartet "für 2011 eine Rentenreform mit einer neuen "Rentenanpassungsformel".

Krankenversicherung

Experten rechnen für 2009 mit einem Defizit von rund 3 Mrd. Euro bei den gesetzlichen Krankenkassen, das im kommenden Jahr auf über 4 Mrd. Euro ansteigen wird. Auch hier ist die schlechtere Situation auf dem Arbeitsmarkt ein wesentlicher Grund. Der Bund hilft mit einem Liquiditätsdarlehen an den Gesundheitsfonds aus, das – so die Regelung im Konjunkturpaket II – erst 2011 zurückbezahlt werden muss. Da die Kassen dazu nicht in der Lage sein werden, droht eine Beitragssatzerhöhung um 0,6 Prozentpunkte oder die flächendeckende Einführung von Zusatzbeiträgen der Versicherten. Bei den Krankenkassen schlägt die Krise also mit einer Verzögerung von zwei Jahren zu Buche.

Der Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds liegt in diesem Jahr bei 7,2 Mrd. Euro und steigt 2010 auf 11,8 Mrd. Euro. Auch hier wird die neue Bundesregierung nach "Einsparungsmöglichkeiten" Ausschau halten: durch Eingriffe in Leistungen, obligatorische Zuzahlungen und weitere Privatisierungsschritte im Zuge des Ausbaus der Kapitaldeckung auch in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. So plädiert der von der privaten Wirtschaft für seine Gutachten entlohnte "Gesundheits- und Rentenexperte" Bernd Raffelhüschen für eine Umstellung der Finanzierung auf ein Prämienmodell a la Schweiz, bei dem jeder Versicherte für Grundleistungen die gleiche Pauschale zahlt und darüber hinaus gehende Leistungen durch private Eigenbeteiligung aufzubringen sind.

In der Krise wirkte das soziale Sicherungssystem als Stoßdämpfer. Allerdings ist dies nur für einen begrenzten Zeitraum möglich, weil die Wucht der Krise die finanziellen Grundlagen der Sozialversicherung belastet. Die Wirkung der Stabilisatoren lässt massiv nach, wenn die Krise länger als ein bis zwei Jahre dauert. Würde dann etwa mit Beitragserhöhungen auf die krisenbedingten Defizite reagiert, könnte das die Konjunktur in einer Phase der beginnenden Erholung sogar deutlich belasten. Der Binnenmarkt würde einbrechen: wegen steigender Arbeitslosigkeit, wachsendem Druck auf die Löhne und erneuten Sozialkürzungen.

Die Lohnabhängigen, RentnerInnen und EmpfängerInnen sozialer Leistungen haben bereits vor der Krise tiefe Einschnitte in ihre Einkommen hinnehmen müssen. Die Nutznießer der letztlich auch politisch verstärkten Umverteilung waren die Konzerne und die Vermögenden. So hat die soziale Ungleichheit innerhalb der kapitalistischen Hauptländer sowie weltweit zugenommen. Im Ergebnis ist Geld von den Armen an die Reichen umverteilt worden, von Leuten, die das Geld ausgeben würden, an Leute, die es nicht nötig haben, das Geld auszugeben. Die USA hielten die Weltwirtschaft mit expansiver Geldpolitik und unkontrollierte, von einem deregulierten Finanzsystem ermöglichte Verschuldung am Laufen. Das funktionierte, bis die Blase platzte. Viele der Maßnahmen, die jetzt auf Seiten der neuen Bundesregierung zur Begrenzung der öffentlichen Verschuldung und der Ausgaben der Sozialversicherung zur Diskussion stehen, lassen befürchten, dass der Weg in eine neue schwere Weltwirtschaftskrise erneut beschritten wird.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Richard Detje Redakteur von Sozialismus.

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