26. Mai 2011 Redaktion Sozialismus

Das Misstrauen ist gewaltig

Aktuelle Umfragen zeigen das Ausmaß der Unzufriedenheit der BürgerInnen in der Berliner Republik. Knapp die Hälfte (49%) der Befragten kann in »der Art und Weise, wie die Demokratie in der Bundesrepublik funktioniert«, nur noch wenig Positives entdecken. Satte 71% attestieren der Bundesregierung eine schlechte Leistung.

Überraschend ist das nicht. Die Koalition mit der Klientelpartei FDP hat der Union nicht gut getan. Deshalb erinnerten einige Parteistrategen nach der Niederlage in Baden-Württemberg ihre Partei daran, dass bereits 2009 nur ein Viertel der WählerInnen eine schwarz-gelbe Koalition bevorzugt hat. Doch die Alternative einer schwarz-grünen Mehrheit zerbrach bereits zu Beginn des Wahljahrs 2011 in Hamburg und neue Atom-Ausstiegsszenarien »nach Fukushima« haben nicht die Qualität der Revitalisierung eines solchen Bündnisses.

Bevor man den Konjunkturen im politischen Geschäft allerdings weiter nachhächelt – bei denen auch bürgerliche »Grundwerte« in der Causa Guttenberg zu Bruch gingen –, wäre etwas tiefer zu graben. Denn so volatil wie die Programme der RepräsentantInnen sind die Grundeinstellungen der Wähler­Innen nicht. Nur noch 48% der BundesbürgerInnen waren Ende letzten Jahres der Auffassung, dass sich die bestehende Wirtschaftsordnung bewährt habe. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der Erhebung im Jahr 1994, als sich noch 73% zur sozialen Marktwirtschaft bekannten.

Daran ändert auch das Gerede von einem »XXL-Aufschwung« wenig. Einerseits schätzen 65% der Bevölkerung die allgemeine Wirtschaftslage als gut oder sehr gut ein – durchaus ein Rekordwert. Andererseits sieht eine Mehrheit (54%) bei den derzeitigen Verhältnissen in Deutschland eher Anlass zur Beunruhigung. Die Unzufriedenheit mit der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung macht sich am weit verbreiteten Gefühl fest, von Wohlstand, sozialer Sicherheit und kalkulierbaren Lebensperspektiven ausgeschlossen zu sein. Mehr als sieben von zehn BundesbürgerInnen sagen, hierzulande gehe es »eher nicht gerecht« zu. Nur gut ein Fünftel glaubt, der Wirtschaftsaufschwung werde ihre persönliche Lage verbessern.

Die Ergebnisse der Bürgerschaftswahl in Bremen vom 22. Mai passen in dieses Bild: Nur noch 56% der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Dass erstmals auch 16- und 17-Jährige wählen durften, hat an der Reserviertheit gegenüber den Parteien nichts geändert. Auch für Bremen – wie für Hamburg – gilt: Die soziale Realität fällt immer weiter auseinander. Die Konzentration von Armut, Prekarität und Ausgrenzung lässt die Wahlbeteiligung ganzer Stadtteile mittlerweile auf Werte von um ein Drittel sinken. In Meinungsumfragen vor der Bürgerschaftswahl gaben fast zwei Drittel der BremerInnen an, sich mit keiner Partei identifizieren zu können.

Dass die Bremer CDU das schlechteste Wahlergebnis seit einem halben Jahrhundert eingefahren hat, ist ein weiterer Schrecken, der ihr in die Glieder gefahren ist. Davor war die Niederlage in Hamburg und im September droht die nächste Niederlage in Berlin. Dies antizipierend fordert der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder eine Debatte über die »Großstadtkompetenz« des bürgerlichen Lagers. Was das angesichts verschärfter »Sparpolitik« unter dem Damoklesschwert der Schuldenbremse heißen könnte, lässt sich ohne viel Phantasie zumindest negativ beantworten: sicherlich nicht mehr sozial-integrative Politik. Die Sorge von Kauder und anderen ist eher, wie die weitere Demotivierung und Fragmentierung eines »Bürgerblocks« gestoppt werden kann.

Was auf der anderen Seite in Bremen als politische Stabilität anmutet – eine Sozialdemokratie, die seit 65 Jahren ununterbrochen Regierungspartei ist, und Grüne, die dort vor 32 Jahren das erste Mal in ein Landesparlament einzogen –,

hat, wenn man den Umfragen trauen darf, politische Ohnmacht als Kehrseite. »Der schlechte Stand der Politik in dem kleinen Bundesland hat viele Gründe. So können nach Meinung vieler Bürger die Parlamentarier – egal welcher politischen Richtung – ohnehin nichts an den gewaltigen Problemen des Landes als Pisa-Schlusslicht und mit Rekordverschuldung ändern … An den Problemen des Landes hat die rot-grüne Regierung indes wenig geändert. Der ehemalige Richter Böhrnsen verwaltet das Land mehr wie ein Notar, als dass er regiert. Immerhin sorgte er dafür, dass Bremen weiterlebt.«[1]

Dennoch lautet die Botschaft des Wahljahres 2011: Rot-Grün ist zurück. In dieser Konstellation sind die GRÜNEN die eindeutigen Gewinner. Sie stehen in aktuellen Umfragen bundesweit bei 23% – vier Punkte besser als zu Jahresbeginn. Und als einzige Partei haben sie bei allen fünf bisherigen Landtagswahlen Gewinne erzielt. Mehr noch: Die Bremen-Wahl ist die 15. Wahl in Folge, bei der das Wahlergebnis für die Partei besser ausfällt als bei der jeweils vorangegangenen Wahl. Die SPD liegt mit 26% nicht mehr sehr weit vor ihnen.

Wie wird es weitergehen?

Lange Jahrzehnte dominierte in den Ländern des Rheinischen Kapitalismus Zukunftsoptimismus. Wirtschaftliches Wachstum und der Ausbau des Sozialstaats gingen Hand in Hand, die Mehrheit der Bevölkerung glaubte an ein besseres Morgen. Das Leben schien für die/den durchschnittlichen Arbeitnehmer/in planbar: Man konnte ohne schlaflose Nächte einen Kredit mit 20 Jahren Laufzeit für eine Eigentumswohnung aufnehmen, weil man ihn durch sein Gehalt schon jetzt abzahlen konnte und die Gewissheit hatte, dass das Einkommen in 20 Jahren noch höher ausfallen dürfte. All dies ist längst verflogen und die Erwartungen an die Politik sind ambivalent.

Einerseits sind die Erwartungen, das zeigen einschlägige Umfragen, enorm hoch. Das gilt vor allem für Fragen der Beschäftigung und Verteilung, der sozialen Gerechtigkeit und der Bildung. Andererseits hat sich bereits eine tief sitzende Enttäuschung und Wut gegenüber dem politischen System ausgebildet.

Der von der globalen wirtschaftlichen Erholung ausgelöste Konjunkturaufschwung in Deutschland hat Auswirkungen auf die europäischen Nachbarländer und hat sich mittlerweile über die unmittelbar betroffenen Branchen auf die gesamte Volkswirtschaft ausgebreitet. Allerdings zeigt sich jetzt, dass die Auslandsnachfrage etwas an Schwung verloren hat.

Daher mahnt selbst die optimistische Bundesbank zur Vorsicht: Nach dem »fulminanten Start« ins Jahr 2011 ist für die nächsten Monate »eine gewisse Beruhigung im Expansionstempo« zu erwarten. Das überraschend starke Wachstum im ersten Quartal sei erheblich von Aufhol- und Nachholeffekten überzeichnet gewesen. Zwar signalisierten die Indikatoren eine Fortsetzung des Aufschwungs in Deutschland; »allerdings dürfte sich das Wachstumstempo gegenüber dem 1. Quartal etwas verlangsamen.«

Die Unternehmerverbände schauen der weiteren Konjunkturentwicklung zuversichtlicher entgegen. Für Dieter Hundt, Vorsitzender der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, spricht vieles dafür, dass Deutschland auch im nächsten Jahr ein Wachstum von erneut um die zweieinhalb Prozent erreichen kann. 2011 dürfte das Wachstum sogar drei Prozent betragen. »Optimistisch« sei er auch für die Beschäftigung. Die Arbeitslosenzahl werde »deutlich« unter drei Millionen sinken. »Ich kann mir vorstellen, dass wir in diesem Jahr vorübergehend in Richtung 2,5 Millionen kommen.«

Die Umsatzsteigerungen der Unternehmen sind allerdings bei vielen ArbeitnehmerInnen nicht angekommen. Inflationsbereinigt sinkt das Einkommen der Beschäftigten in Deutschland seit Jahren kontinuierlich, auch im »Boomjahr« 2011.[2] Der kräftige Aufschwung geht nicht nur an den Arbeitslosen, GeringverdienerInnen, RentnerInnen oder Hartz IV-EmpfängerInnen vorbei, sondern zunehmend auch an den immer weniger werdenden Vollzeitbeschäftigten. Die Tariflöhne steigen in diesem Jahr zwischen 2 und 2,5% – also unterhalb der Inflationsrate. Steigende Benzin-, Gas- und Strompreise, Erhöhung von Sozialabgaben und Zuzahlungen oder auch die schleichenden Preissteigerungen für Lebensmittel können durch die Lohnerhöhungen, die zumindest in einigen tarifgebundenen Bereichen gezahlt werden, nicht ganz ausgeglichen werden.

Von den Früchten seiner Arbeit kann heute vielfach nicht leben, wer Teilzeit oder geringfügig arbeitet, Leiharbeiter, Niedriglohnbeschäftigte oder wer sich mit diversen Minijobs über Wasser hält. Auch wer sich als »Ich-AG« versucht oder mit einem »Mittelklassejob« allein eine Familie ernähren muss, hat oft keine guten Karten. Armut ist heute kein Problem des »unteren Randes« der Gesellschaft mehr, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Diese Entwicklungstendenzen verdichten sich in den Großstädten und den Stadtstaaten wie Bremen. Geringe Einkommen, prekäre Arbeitsverhältnisse, Langzeitarbeitslosigkeit, Abhängigkeit von staatlichen Hilfen, Verschuldung und Armut konzentrieren sich auf bestimmte Stadtteile, in denen auch viele Menschen mit Migrationshintergrund leben. Diese Konzentration führt zu einer Verletzung der Chancengleichheit der BürgerInnen, zu belastenden Lebensbedingungen, sozialer Desintegration und wachsenden Konfliktpotenzialen. Und das Bedrückendste: Es ist keine Trendwende in Sicht und der Spielraum der Politik ist stark eingeschränkt.

Denn Bremen gehört zu den vier Bundesländern mit massiven Budgetproblemen, die sich künftig einer Haushaltskontrolle durch den Bund und die übrigen Länder unterwerfen müssen. Wegen »drohender Haushaltsnotlage« muss das Land – trotz zusätzlicher Umschuldungshilfen – ein mehrjähriges Sanierungsprogramm umsetzen. Dieses Programm ist Teil der Regelungen zur »Schuldenbremse«, durch die der Bund sein strukturelles, also um Konjunktureinflüsse und Einmaleffekte bereinigtes Defizit bis 2016 auf 0,35% des Bruttoinlandsproduktes senken muss und die Länder bis 2020 ausgeglichene Haushalte erreichen sollen.

Berlin, Bremen, Saarland, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt erhalten zur Einhaltung der Schuldengrenze bis 2019 pro Jahr Konsolidierungshilfen von zusammen 800 Mio. Euro, die je zur Hälfte der Bund und die übrigen Länder zahlen. Diese Finanzhilfen werden nur fließen, wenn die Sanierungsprogramme belastbar sind. Zugespitzt formuliert bedeutet das: Die rot-grüne Regierung in Bremen hat wie Griechenland, Irland oder Portugal die Souveränität über ihre Haushaltspolitik verloren und jeder Ausbruch in Richtung einer sozial gerechten Antikrisenpolitik zur Zurückdrängung der sozialen Spaltung ist mit massiven institutionellen Konflikten verbunden.

Und die Bremer Linke? Bremen war das erste westdeutsche Bundesland, in dem DIE LINKE seit 2007 mit einer Fraktion vertreten war. 8,4% holte die Partei vor vier Jahren, um bei der Bundestagswahl 2009 noch einmal deutlich zuzulegen. Doch die Arbeit in der Bremer Bürgerschaft wurde von Streitereien und Intrigen überschattet. Der LINKEN ist zwar der Wiedereinzug gelungen, aber das Wahlergebnis von 2007 wurde deutlich verfehlt. Laut offizieller Hochrechnung kommt sie jetzt auf 5,8%. Erneut wird bestätigt, dass die Krise – hohe Arbeitslosigkeit, leere Kassen und große Armut – nicht zwangsläufig die Stunde der LINKEN ist. Die Linkspartei hat reichlich Anlass, ihren organisatorischen Rahmen sowie ihre programmatisch-strategische Ausrichtung selbstkritisch zu überprüfen.

[1] M. Frölingsdorf, Spiegel-online, 22.5.2011
[2] Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stützt diesen Befund: »Die realen Netto-Stundenlöhne werden, wenn überhaupt, 2011 nur sehr wenig steigen.«

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