1. April 2003 Hilal Onur

Das türkische Dilemma

Seit Monaten war die gesamte Welt auf ein von den USA diktiertes Thema fixiert: den Angriff auf den Irak. Auf der einen Seite stehen die Kriegs- und Angriffsbefürworter, auf der anderen Seite eine Mehrheit der Gegner einer Strategie des Krieges. Was vordergründig als eine Kampfansage an Saddam Hussein ausgegeben wurde, kann den realen Hintergrund dieser Angriffspolitik nicht länger verdecken: Es geht um den Machtanspruch der USA in einer neuen Weltordnung und die Reaktion und Rolle Europas, vornehmlich der EU.

Beim US-amerikanische Angriff auf den Irak, der Bestandteil der Sicherung der längerfristigen Interessen der USA ist, geht es zudem um die Kontrolle der Rohstoffe im Nahen Osten. Dieser offen darliegende Machtanspruch hat in den letzten Monaten eine Welle des Protestes überall auf der Welt hervorgerufen.

Hatten die USA unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen einen Krieg ohne Widersprüche und mit breiter Unterstützung der Staatengemeinschaft geplant, zwangen sie die zunehmenden kritischen Stimmen zu einer Kehrtwende. Die militärische Intervention im Irak musste nun mit jenen Staaten geplant werden, die die US-amerikanische Politik unterstützten.

In dieser neuen Strategie fiel der Türkei, als treuer Verbündeter der USA und insbesondere als direkter Nachbarstaat zum Irak, eine besondere Rolle zu. Zudem sollte die Türkei als NATO-Mitglied gegenüber den Kritikern aus Frankreich und Deutschland als Joker für eine Beteiligung am Krieg eingesetzt werden. Nachdem innerhalb der NATO trotz langwieriger Beratungen zunächst keine Entscheidung hinsichtlich einer militärischen Unterstützung der Türkei bei einem etwaigen Angriff auf das Land zustande kam, wurden die Stimmen der Kriegsgegner und EU-Befürworter in der Türkei schwächer und wuchs die Propaganda der Befürworter US-amerikanischer Politik.

Auch die spätere Zusage aus Berlin und Paris, die NATO Partnerin Türkei bei einem Angriff militärisch zu schützen, konnte an der Entäuschung innerhalb der türkischen Bevölkerung, die sich von der EU im Stich gelassen fühlte, nichts mehr ändern.

Die US-Administration schreibt der Türkei nach Ende des Irak-Krieges eine besondere Rolle und Funktion zum Schutze des neu zu installierenden Regimes zu. Die Türkei bietet als nördlicher Nachbarstaat eine geeignete Front zur Belagerung des Irak. Zudem wird sie von den USA als sichere Schutzbastion eines pro-amerikanischen Regimes gegen oppositionelle Kräfte gehandelt. Zu diesen Planungen der USA gehörte auch die Stärkung der proamerikanischen Kräfte in der Türkei, um den Angriff auf Bagdad nicht zu gefährden. In diesem Zusammenhang musste die national orientierte Koalitionsregierung im Sommer des letzten Jahren zurücktreten. Diese in der türkischen Öffentlichkeit weit verbreitete Sichtweise vertritt Melih Asik, der rennomierte Kolumnist der Tageszeitung Milliyet. Danach wurde der Weltbank-Bürokrat Kemal Dervis auf Druck aus den USA nach der Februar-Krise, in der die Türkei Anfang 2002 die heftigste Wirtschaftskrise ihrer Geschichte erlebte, auf zum Superminister ernannt, der die türkische Wirtschaft sanieren sollte. Im Zuge dieser Ereignisse wurde dann Schritt für Schritt die Basis für vorgezogene Wahlen vorbereitet.

In diesem Zusammenhang stellt Asik die Frage: "Ist es ein Zufall, dass eine Regierung, die den Abenteuern der USA in der Region eine strikte Absage erteilt hatte, abgewählt wurde und dass nach den Wahlen eine von den USA unterstützte Partei an die Macht kam?" (Asik, Milliyet, 2.3.2003)

Zwar ist es problematisch und schwer nachweisbar, dass die heutige AKP (Partei des Rechts und der Entwicklung)-Regierung in Ankara eine direkte Unterstützung aus den USA erhalten hat. Doch ein Blick in die Geschichte der Türkei zeigt in zwei Fällen, wie Regierungen, die sich gegen die USA stellen, aus der politischen Arena verabschiedet wurden. Im ersten Fall wurde 1965 die Inönü Regierung, im zweiten Fall 1974 die Ecevit-Regierung wegen des Zyperneinmarsches abgesetzt.

Was war ausschlaggebend für den Wahlsieg der AKP bei den Wahlen im November 2002? Die zunehmende wirtschaftliche Krise, das abnehmende Vertrauen der BürgerInnen in die Politik, die rekordhohe Arbeitslosigkeit und schließlich die erneute Absage der EU in der Frage einer türkischen Mitgliedschaft, waren für die WählerInnen die wichtigsten Gründe, die neue und nicht verbrauchte Partei zu "auszuprobieren". Nachdem absehbar war, dass die konservative Wählerklientel ihre Parteien bei den Wahlen abstrafen würde, suchte die AKP diese konservativen Kreise zusätzlich zu ihren eigenen islamistischen Basis zu umwerben. Sie wurde zur einzigen Alternative für die rechte und konservative Wählerschaft. Hierzu haben auch die wirtschaftsliberalen Aussagen der AKP beigetragen. Aber noch bevor die Wahlergebnisse vorlagen, die zu den neuen Kräfteverhältnisse führten, wurden Aussagen bestätigt, dass sich die AKP auf eine direkte Unterstützung der USA berufen könne.

Dafür sprachen auch die proamerikanischen Äußerungen des Parteivorsitzenden Erdogan, der versprach, im Falle eines Krieges die USA zu unterstützen, da dies "vor den Wahlen den USA versprochen" worden sei. "Eigentlich ist die Position der AKP nicht verwunderlich. Schon als sie gegründet wurde, hat ihre Führung mit Aussagen wie ›Ein Irak ohne Saddam‹ den USA grünes Licht gegeben. Diese Politik hat sich im politischen Verkehr zwischen Ankara und Washington zu einer unwiderrufbaren Zusage entwickelt." (Sazak, Milliyet 2.3.2003). Auf diese Absprache zwischen der AKP und den US-Amerikanern deutet auch ein anderer Kolumnist hin, der hervorhebt, dass "die AKP von Beginn an eine falsche Politik gefahren hat. Es ist offensichtlich, dass sich die Partei von Anfang an den USA gefügt hat. Dies beweisen Erdogans Aussagen, dass die gesamte Strategie auf ökonomische Lösungen basiert und der Türkei ›wirtschaftlich die Hände gebunden sind‹, so Erdogan." (Kahraman, Raikal 15.3.2003).

"Uns sind die Hände gebunden." Dieser Satz des jetzigen Ministerpräsidenten Erdogan beweist, dass die nur durch IWF Hilfen über Wasser gehaltene Wirtschaft der Türkei auf die in der Vorbereitung des Krieges zugesagten Wirtschaftshilfen der USA angewiesen ist. Darüber hinaus ist die AKP zur Durchsetzung ihrer populistischen Innenpolitik auf wirtschaftliche Finanzhilfen aus dem Ausland angewiesen. Mit längerfristigen ausländischen Krediten sollen Maßnahmen in der Wirtschaft ergriffen und damit ein erneuter Wahlsieg und schließlich die endgültige Institutionalisierung der Partei vorangetrieben werden.

Auch wenn die AKP vornehmlich von islamistisch orientierten Kadern geführt wird, haben die Partei und ihre Abgeordneten keineswegs eine homogene Basis. Dass die Partei aus unterschiedlichen Interessensgruppen zusammengefügt ist, wurde nach den Wahlen in der Tagespolitik deutlich, als insbesondere aus den eigenen Reihen Kritik an der Regierungspolitik laut wurde. So hat Erdogan beispielsweise vor der Abstimmung der ersten Eingabe der Regierung zur militärischen Unterstützung der USA (Stationierung amerikanischer Soldaten in der Türkei und Benutzung des Luftraums) keine geschlossene Fraktionsentscheidung gefordert, um etwaige Austritte zu verhindern. Daher kann die Ablehnung diese Eingabe durch viele AKP-Abgeordnete nicht als Ausdruck innerparteilicher Demokratie, sondern nur als Maßnahme verstanden werden, die Spaltung zu verhindern. Mustafa Balbay, Kolumnist der linksliberalen Tageszeitung Cumhuriyet, stellt fest, dass "die Angst vor den verheerenden Folgen für die Partei ausschlaggebend" war. (Balbay, Cumhuriyet 3.3.2003). Die Abstimmung im Parlament kann auch aus einer weiteren Perspektive nicht als Resultat innerpartlicher Demokratie bewertet werden. Denn insbesondere der islamistische Flügel innerhalb der AKP hat bereits vor der Abstimmung verlauten lassen, dass er mit der proamerikanischen und kriegsunterstützenden Politik der Parteiführung nicht einverstanden ist und einen Krieg gegen einen islamischen Bruderstaat kategorisch ablehnt. In diesem Zusammenhang gilt die Abstimmung im Parlament auch als eine Kraftprobe verschiedener Flügel innerhalb der AKP.

Folge der Absage der Abgeordneten an die erste Regierungseingabe war denn auch ein Machtverlust der AKP in der Gesellschaft. Es wurde wieder der Einfluss jener Kreise sichtbar, die in der Politik des Landes ein Recht auf Mitsprache haben, also vor allem des Militärs, das vor der Eingabe keine Stellungnahme abgegeben hatte. Die Militärs machten der AKP nun deutlich, dass sie ohne eine breite Unterstützung aller Institutionen der türkischen Gesellschaft keinerlei Möglichkeit hat, ihre Politik durchzusetzen und sich der Gefahr der Isolation aussetzt. Die Erklärung der militärischen Führer nach der Abstimmung im Parlament scheint diese Position zu bekräftigen. Nur wenige Tage nach der Ablehnung der im Sinne der US-Forderungen zusammengefassten Eingabe im Parlament, erklärte der Oberbefehlshaber der Armee ihre Unterstützung der AKP.

Diese Unterstützung im Rücken plant die AKP-Regierung nun erneut eine Eingabe im Parlament abstimmen zu lassen. Mit einer veränderten Klausel, wonach allein der Luftraum für militärische Aktionen geöffnet werden soll, versucht die AKP die eigenen Reihen zusammenzuhalten und in den USA wieder Freunde zu gewinnen. Nach der Absage sind aus den USA Stimmen laut geworden, dass die Türkei keinerlei Ansprüche im Nordirak geltend machen könne, wenn sie sich nicht an der Kriegskoalition beteiligen. Angesichts dieser gespannten Situation erklärte der Oberbefehlshaber der türkischen Armee: "Die Türkei muss zwischen zwei Übeln wählen. Entweder für oder gegen den Krieg, wobei die Türkei in beiden Fällen in die Not geraten wird." Es ist offensichtlich, dass die Armee in die Planung für die Zeit nnach der militärischen Niederschlagung des Irak einbezogen werden möchte. Wenn aus Militärkreisen die "Interessen der Türkei" betont werden, bedeutet das indirekt, dass die Türkei einen unabhängigen kurdischen Staat im Nordirak nur mit einer Beteiligung am Krieg verhindern kann. Es wird erwartet, dass diese nicht direkt formulierte Aussage der Militärs das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten bei der zweiten Eingabe beeinflusst.

Die Zwist zwischen der Regierung in Ankara und Washington hat sich nach den Teilwahlen in einer südöstlichen Provinz sichtlich entspannt. Dabei wurde Erdogan ins Parlament gewählt und vom Staatspräsidenten mit der Gründung einer neuen Regierung beauftragt. Nach seiner Wahl bekräftigte Erdogan erneut seine Zusicherung gegenüber der USA.

Die Regierung in Ankara ist in der Zwickmühle. Einerseits befürchtet sie, dass mit einem amerikanischen Embargo zu rechnen ist, wenn sie ihre Zusicherung gegenüber der USA nicht umsetzen kann. Andererseits droht eine gemeinsamen Politik mit den USA die Beziehungen zur EU zu gefährden. Daher spielte die Regierung in Ankara auf Zeit und wartete auf ein UN-Mandat. Nun haben die Angriffe auf Bagdad ohne Legitimation durch die UNO begonnen. Daher sieht sich die Regierung gezwungen, im Eilverfahren die Eingabe abzustimmen, um auf die amerikanischen Zusagen auf wirtschaftliche Unterstützung nach dem Krieg hoffen zu können. Allerdings wurde der Türkei schon nach dem ersten Golfkrieg, als das Land konsequent an der Seite der USA Stellung bezogen hatte, trotz Zusagen keinerlei Unterstützung gewährt. Dies allein – abgesehen von humanitären Folgen – müsste die politische Klasse des Landes zum Nachdenken bewegen.

Darüber hinaus ist folgende Frage unbeantwortet: Spielt die Türkei für amerikanische Interessen allein wegen ihrer strategischen Lage und militärtechnischen Überlegungen eine besondere Rolle? Insistieren die USA allein wegen diesen Überlegungen auf einer unterstützenden Rolle der Türkei? Erinnern wir uns: Während des ersten Golfkrieges "begnügten" sich die USA mit der Bombardierung des Iraks und sahen von einem Einmarsch der Truppen ab. Denn sie befürchteten die inneramerikanische Reaktion auf eigene Verluste bei einem solchen Einmarsch. Ein weiterer Faktor war, dass kein anderes Land bereit war, diese Strategie zu verfolgen.

Jetzt ist ein Einmarsch von Truppen vorgesehen. Den USA scheint das Militär der Türkei genau für diese Rolle geeignet zu sein. Die Rolle und Funktion der Türkei zeichnet sich deshalb deutlich ab: den Einmarsch auf dem Landwege zu vollziehen und das neu zu installierende proamerikanische Regime gegen oppositionelle Kräften zu untersützen. Mit anderen Worten: eine Front zu schaffen. Die US-Politik im Nahen Osten will und muss sich scheinbar auf einen Partner stützen. Dieses US-Interesse geht zusammen mit den Interessen der jetzigen Regierung, die ihre Macht um jeden Preis absichern will. Obwohl nach voneinander unabhängigen Umfragen nahezu 96% der Bevölkerung jegliche Kriegsbeteiligung der Türkei ablehnt, in täglichen Massenprotesten an den Universitäten, Schulen und vor Militärstützpunkten Kriegsgegner demonstrieren, scheint die Regierung jede Weitsicht verloren zu haben. Die Verlierer werden nicht US-Amerikaner oder Europäer, sondern die Iraker und die gesamte Region sein. Eine weitsichtige Politik der Türkei hätte zumindest ein Vertrauensverhältnis in der Region schaffen können. Doch diese Möglichkeit hat die Regierung verspielt. Sie hat sich für die Interessen eines sehr fernen Landes und gegen die eigene Bevölkerung entschieden.

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