21. November 2014 Felix Jaitner: Fragiles Entwicklungsmodell und Grenzen der Modernisierung

Das Verhältnis von Demokratie und herrschender Klasse in Russland

Knapp 25 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Russland keine parlamentarische repräsentative Demokratie nach westlichem Vorbild ist. Zwar finden regelmäßig Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt.

Doch belegen eine Vielzahl von unabhängigen Instituten, dass diese immer wieder gefälscht oder durch Stimmenkauf verzerrt werden.[1] Weitere wichtige Indikatoren einer stabilen Demokratie, neben freien und fairen Wahlen, wären u.a. Versammlungs- und Pressefreiheit, Gewaltenteilung, aber auch soziale Gleichheit – all das wird nur eingeschränkt und höchst selektiv[2] garantiert.

Dabei ist die Wahrnehmung dieses Zeitraums sehr ambivalent, denn die Dekade der 1990er Jahre steht in einem starkem Kontrast zu der Präsidentschaft Wladimir Putins. Während der erste russische Präsident Boris Jelzin (wie übrigens auch Dimitrij Medwedjew) oft als Symbolfigur für einen demokratischen Aufbruch bezeichnet wird, gelten die 2000er Jahre als der Beginn eines neuen russischen Autoritarismus: »Auf die Jelzin-Jahre mit ihrer Experimentierfreudigkeit, Unberechenbarkeit, Offenheit, Streitfreudigkeit, mit ihrem Ausloten der Extreme folgte mit dem Beginn der Präsidentschaft Wladimir Putins eine nüchtern-pragmatische Rückorientierung auf einen ›russischen Weg‹, der unter den Zeichen von Stabilitätssuche und Autoritätsgläubigkeit unverkennbar zu einer umfassenden Rezentralisierung der Macht und Verstaatlichung der Zivilgesellschaft führte.«[3] Diese Debatte hat seit dem Beginn der Krise in der Ukraine an Schärfe gewonnen.

Blickt man auf die Transformation der Sowjetunion zurück, so sind die Hoffnungen, die noch zu Beginn der Perestroika geweckt wurden, offensichtlich enttäuscht worden. Von Offenheit (Glasnost) und einem gesellschaftlichen Umbau hin zu mehr demokratischer Teilhabe, einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus, ist nicht viel übrig geblieben. Im Gegenteil. Bereits in den frühen 1990er Jahren fand ein autoritärer Umschwung statt, der in der gewaltsamen Niederschlagung des parlamentarischen Protests und der Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 1993 seinen Ausdruck fand. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist kein wirklicher Fortschritt festzustellen. Der russische Kapitalismus zeichnet sich durch extreme soziale Ungleichheit und geringe Arbeitnehmerrechte aus. Bei den großen transnationalen Unternehmen handelt es sich fast ausschließlich um privatisierte Rohstoffkonzerne.

Den Bürgerkrieg in der Ostukraine begleiten eine Vielzahl von Analysen zur autoritären Herrschaft Putins und dem Wiedererstarken des russischen Imperialismus. Es mangelt jedoch weiterhin an dem Verständnis darüber, welches Gesellschaftssystem in Russland im Verlauf der letzten Jahrzehnte entstand und worauf es beruht. Bis heute ist die Frage nach den Trägern dieses Systems nur unzureichend beantwortet. Stattdessen dominieren monolithische Staatsvorstellungen, die in dem Begriff »System Putin«[4] ihren Ausdruck finden. Die Rolle des Staates als Akteur, als Stabilisator gesellschaftlicher Verhältnisse wird dabei ebenso vernachlässigt, wie die der Oligarchen. Das führt dazu, dass überwiegend Kategorien wie die Staatsmacht gegen das Volk, die Regierung gegen die Opposition bemüht werden. Der vorliegende Artikel argumentiert gegen diese Sichtweise, da sie den Blick auf innergesellschaftliche Widersprüche und Konflikte erschwert. Im Fokus steht die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren ökonomischen Grundlagen. Dazu ist es notwendig, in einem ersten Schritt auf die Entstehung von Herrschaftsstrukturen im zeitgenössischen Russland einzugehen. Anschließend soll das ökonomische Entwicklungsmodell und seine sozialen Auswirkungen näher analysiert werden. Besondere Aufmerksamkeit kommt hier der Präsidentschaft Wladimir Putins zu. Zum Abschluss wird auf die Entwicklung Russlands seit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 als wichtigem Grund für die Verschärfung gesellschaftlicher Widersprüche eingegangen.


Die Einführung des Kapitalismus in Russland

Die Auflösung der Sowjetunion ging einher mit der Einführung des Kapitalismus in allen 15 Nachfolgestaaten. Innerhalb weniger Jahre wurden die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal umgewälzt. Die Folgen prägen alle Länder bis heute. Die Soziologin Natalija Tichonova stellt fest, dass im Zuge des Transformationsprozesses ein Drittel der russischen Bevölkerung verarmt­e. Das betraf vor allem Rentner/innen, Arbeiter/innen und alleinerziehende Mütter. Diese Transformationsverlierer/innen bilden einen Teil der neuen russischen Unterschicht, die sich durch eine hohe soziale Immobilität, niedriges Ausbildungsniveau und hochgradig prekäre Lebensverhältnisse auszeichnet.[5] Da vor allem Frauen von Armut betroffen sind, kann von einer Feminisierung der Armut in Russland gesprochen werden. Auffällig ist zudem, dass die im Verlaufe der 1990er Jahre herausgebildeten sozialen Verhältnisse bis in die Gegenwart Bestand haben. Der Politikwissenschaftler Hans-Henning Schröder weist in einer Untersuchung aus dem Jahr 2007 nach, dass die soziale Differenzierung seit dem Jahr 1994 im Wesentlichen unverändert ist.[6] Von dem wirtschaftlichen Aufschwung von Anfang bis in die Mitte der 2000er Jahre profitierten überwiegend die auf den Rohstoffexport orientierten transnationalen Unternehmen und ihre Eigentümer, der Einzelhandel und der Immobiliensektor sowie die damit aufs engste verflochtene politische Elite. Zwar lässt sich in dieser Zeit die Konsolidierung einer kleinen, städtischen Mittelschicht feststellen. Diese droht jedoch seit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 zu erodieren.

Den Transformationsverlierern steht eine kleine Gruppe hoher Beamter, Politiker/innen und einiger Wirtschaftsmagnaten (Oligarchen) gegenüber, die über eine unverhältnismäßig hohe wirtschaftliche und politische Macht verfügt. Erstere profitierten von der Ausweitung staatlicher Beteiligungen im Rohstoffsektor seit Putins erster Präsidentschaft. Das Erdgasförderunternehmen Gazprom, der Erdölkonzern Rosneft[7] sowie das staatlich kontrollierte Pipelinenetz garantieren dem Staat hohe Einnahmen (Renten). Die Oligarchen sind Profiteure des Transformationsprozesses und der fortlaufenden Privatisierung unter Putin/Medwedjew. Dabei handelt es sich keinesfalls ausschließlich um ehemalige Mitglieder des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol, wie z.B. Michajl Chodorkowskij oder hohe Beamte (Wagit Alekperov, Vorsitzender des Erdölkonzerns Lukojl), sondern auch um junge Intellektuelle (der Ökonom Pjotr Awen), Finanzspekulanten (Oleg Deripaska) und sogar vorbestrafte Kriminelle (Aleksandr Smolenskij). Charakteristisch für ihre Wirtschaftsimperien sind große Finanzholdings, die verschiedene Industriezweige (üblicherweise Rohstofffirmen oder Telekommunikationsunternehmen) miteinander verbinden.

Die starre Sozialstruktur hängt wesentlich mit der spezifischen Wirtschaftsstruktur Russlands zusammen, die eine einseitige Ausrichtung auf den Rohstoffexport auszeichnet. Als eines der rohstoffreichsten Länder der Erde spielen die Förderung und der Export von Rohstoffen traditionell eine wichtige Rolle.[8] Im Zuge des Transformationsprozesses in den 1990er Jahren hat sich die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft vom Ressourcenexport allerdings stetig erhöht. Im Jahr 2010 betrug der Anteil von Öl, Gas und Kohle nach Angaben des staatlichen Statistikamtes 68,8% der Gesamtexporte. Hinzu kommen Metalle und Edelsteine und daraus gefertigte Produkte (13%).[9] Auch im Jahr 2013 machten Energieträger fast 70% des Exports aus.[10] Für eine verstärkte Konzentration auf den Ressourcenexport sprechen zudem die Erschließung neuer Ölförderstätten im arktischen Meer sowie der Bau von Pipelines nach China (Sibirische Kraft) oder Deutschland (North Stream). Diese Investitionen binden knappes Kapital, das für eine Restrukturierung und Diversifizierung der russischen Industrieproduktion verwendet werden könnte.

Die neue herrschende Klasse garantierte in der Transformationsphase den Übergang zum Kapitalismus. Sie eint, dass ihre Mitglieder alle an das neue auf den Rohstoffexport orientierte Produktionsmodell gebunden sind, sei es durch den Besitz von oder die Mitarbeit in Firmen, durch ihre Rolle als Lobbyist/in oder ihre finanzielle Abhängigkeit von einzelnen Akteuren. Da sie ihr Eigentum überwiegend durch korrupte, sogar illegale Praktiken oder aufgrund ihrer persönlichen Beziehungen erlangten, haben sie kein Interesse an einer gesellschaftlichen Demokratisierung. Dabei kommt dem Staat eine wichtige Funktion zu, indem er die bestehenden Verhältnisse stabilisiert und notfalls gewaltsam absichert.


Ressourcenextraktivismus als Entwicklungsmodell

Unter dem Begriff des (Neo-)Extraktivismus wird ein Entwicklungsmodell verstanden, in dem (unverarbeitete) Rohstoffe und Agrarland für den Export ausgebeutet werden.[11] Die Debatte entstand in Lateinamerika und bemüht sich, die periphere Weltmarktintegration und starke ökonomische Abhängigkeit des Kontinents vom globalen Norden zu erklären. Neue Aktualität erhielt die Diskussion durch die Ansprüche der Linksregierungen in Bolivien und Ecuador, ein Wirtschaftssystem anzustreben, das auf die rücksichtslose Ausbeutung von Rohstoffen verzichtet und stattdessen nachhaltigen und sozialen Zielen, wie einem guten Leben (Buen Vivir), verpflichtet ist.

Während die Ausbeutung von Rohstoffen für den Export vor allem den ökonomisch-prozesshaften Charakter in den Vordergrund rückt, verweist die Soziologin Maristella Svampa auf die Tendenz des Ressourcenextraktivismus, andere Produktionszweige zu verdrängen und einzugliedern. Sie definiert Ressourcenextraktivismus als ein Entwicklungsmodell, »dass auf einer übermäßigen Ausbeutung immer knapper werdender (…) natürlicher Ressourcen beruht, sowie auf der Ausdehnung dieses Prozesses auf Territorien, die bislang als ›unproduktiv‹ galten«.[12] Damit betont sie eine spezifische Dynamik des Kapitalismus, den inhärenten Drang zur Ausdehnung auf nicht-kapitalistische Sphären. Bei der Extraktion von Rohstoffen handelt es sich im doppelten Sinne um keine nachhaltige Wirtschaftsform. Einerseits hat sie kaum Effekte auf andere Branchen, sodass kein breiter, sich selbst tragender Wirtschaftsaufschwung entsteht. Die Rohstoffförderung ist in hohem Maße abhängig von der globalen Nachfrage und damit ein sehr instabiles Entwicklungsmodell. Somit entstehen so genannte Enklavenökonomien, hochgradig spezialisierte, lokal begrenzte Räume, die aufgrund ihrer Exportorientierung üblicherweise direkt mit dem Weltmarkt verbunden sind. Eine Ausweitung der Rohstoffförderung auf Gebiete, die bisher noch nicht in das ressourcenextraktive Entwicklungsmodell integriert, d.h. »unproduktiv« sind, ist deshalb sehr attraktiv. Es verspricht neue Profite und der Bevölkerung Arbeitsplätze. Dies verschärft die ungleiche Entwicklung im eigenen Land umso mehr, da rohstoffarme Gebiete hinter die Enklavenökonomien zurückfallen und häufig von Abwanderung betroffen sind. Andererseits führt die Förderung von Rohstoffen immer wieder zu schweren ökologischen Schäden mit oftmals hoher räumlicher Reichweite. Die Fördergebiete sind nach ihrer Erschöpfung oftmals unbewohnbar, weshalb die lokale Bevölkerung die höchsten Kosten trägt. Die Debatte verweist auf gesellschaftspolitische Implikationen als Folge einer einseitigen Ausrichtung auf den Rohstoffexport. Die Herausbildung spezifischer sozialer Verhältnisse ist demnach auch eine Folge gesellschaftlicher Konflikte um die Aneignung der Profite aus dem Rohstoffabbau und -verkauf.

Während diese Definitionen vor allem die Auswirkungen des ressourcenextraktivistischen Entwicklungsmodells auf die innergesellschaftliche Ebene beschreiben, heben Brand/Dietz (2014) das komplexe Verhältnis zwischen globaler und nationaler Ebene hervor. Ihnen zufolge prägt der durch den Weltmarkt vermittelte Prozess der Inwertsetzung die gesellschaftlichen Verhältnisse. Der Extraktivismus ist der Ausdruck eines internationalen Systems ungleicher Handels- und Machtbeziehungen, in dem rohstoffexportierende Staaten häufig einen peripheren Status einnehmen. Im Inneren fördert es die Herausbildung autoritärer politischer Strukturen zur Absicherung gegen Widerstände. Durch den Weltmarkt vermittelte Zwänge wirken sich damit unmittelbar auf innergesellschaftliche Macht- und Kräfteverhältnisse aus.[13]

Für den russischen Kontext ist die Debatte um den Ressourcenextraktivismus sehr fruchtbar. Die Einführung des Kapitalismus in Russland mittels einer Schocktherapie führte, um mit dem russischen Historiker Boris Kagarlitzkij zu sprechen, zu einer »peripheren Weltmarktintegration«, indem das Land die Funktion eines Rohstofflieferanten für die Industriestaaten übernimmt.[14] Dies ist ein wichtiger Grund für den Niedergang der russischen Industrie und setzt Modernisierungsversuchen enge Grenzen. Gleichzeitig ermöglicht dieser Zugang, die gesellschaftlichen Entwicklungen im Land nachzuvollziehen. Der russische Autoritarismus steht in einem engen Zusammenhang mit der Einführung des Kapitalismus und dem spezifischen, auf Rohstoffexport ausgerichteten Entwicklungsmodell, das sich in den 1990er Jahren herausbildete.


Die Auseinandersetzung um das rohstoffbasierte Entwicklungsmodell in Russland

Die zunehmende Abhängigkeit Russlands vom Ressourcenexport wurde früh erkannt. Hochrangige Politiker/innen, darunter Sergej Stankevitsch, zu diesem Zeitpunkt Vize-Bürgermeister von Moskau und Präsidentenberater, und Wirtschaftsvertreter/innen kritisierten dies bereits im Jahr 1992 und forderten eine Orientierung auf Märkte in Asien, Afrika und Lateinamerika.[15] Sogar die Wirtschaftsbeziehungen zu den post-sowjetischen Staaten, traditionell wichtige Absatzmärkte für russische Industriegüter, sind seit der Auflösung der Sowjetunion von einer Tendenz zur Reprimarisierung, d.h. einer Reduzierung des Austauschs auf Güter des Primären Sektors, geprägt.[16]

Die Ökonomen Alexander Buzgalin und Andrej Kolganow konstatieren, dass Russland im Zuge des Transformationsprozesses und der radikalen »Schocktherapie« »das Modell der industriellen Entwicklung wechselte«.[17] Der Konflikt zwischen der Regierung Jelzin und dem Parlament 1993 verlief genau entlang der Frage, wie die Wirtschaftsreformen umgesetzt werden sollten.[18] Der gewaltsame Sieg der Regierung hatte zwei wichtige Konsequenzen. Erstens läutete er einen autoritären Staatsumbau ein. Durch die Verabschiedung einer neuen Verfassung wurde der Präsident zum zentralen Akteur der russischen Politik. Durch präsidentielle Dekrete, die Gesetzesrang hatten, wurde das Parlament zu einer weitgehend wirkungslosen Instanz im demokratischen Entscheidungsprozess degradiert. Außerparlamentarische Bewegungen wurden marginalisiert. Zweitens trieb die Regierung die Privatisierung noch energischer voran. Der Höhepunkt waren so genannte Pfandauktionen (1995-1997), als die meisten staatlichen Rohstoffkonzerne unter zwielichtigen Methoden und weit unter Wert an Oligarchen verkauft wurden.


Die Konsolidierung der gesellschaftlichen Verhältnisse unter Putin

Die russische Staatspleite im Zuge der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 1998 führte zu einem Umdenken in der neuen Elite, wonach staatliche Eingriffe eine wesentliche Bedingung für eine funktionierende, stabile Wirtschaft sind. Der ehemalige russische Finanzminister, Mihail Zadronov (1997-1999), sprach sogar von einem »für die russische Geschichte einmaligen Konsens«.[19] Personalpolitisch verkörperte Vladimir Putin diese Neuausrichtung. Zugunsten einer dem Ausland gegenüber unabhängigeren Politik wurde eine partielle Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik vollzogen. Dafür steht der staatliche Zugriff auf Teile des Ölgeschäfts. Dies garantierte dem Staat hohe, regelmäßige Einnahmen. Dieser Schritt wurde jedoch nicht von einer weitreichenden Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse begleitet. Die Enteignung Chodorkowskijs war nicht Bestandteil einer sozialen Umverteilung und Aufarbeitung des Transformationsprozesses, sondern zwängte die Oligarchen in einen staatlich regulierten Korporatismus. Dieser bildet den Rahmen für die Entwicklung und Erprobung politischer und ökonomischer Strategien in der Regierungszeit Putins. Im Gegenzug verpflichtete sich die Regierung auf hohe Wachstumsraten und breiten Konsum in den Städten. Zudem unterstützt sie die Oligarchen bei der Internationalisierung ihrer Geschäftsaktivitäten.

Die veränderte Rolle des Staates führte zu einer Neuausrichtung des staatlichen Selbstverständnisses. Der katastrophale Verlauf der Transformation und die selbst ermächtigte Auflösung der UdSSR hatten im gesamten post-sowjetischen Raum Unabhängigkeitsbewegungen gestärkt, so auch in Russland. Wirtschaftliche und politische Stabilität sollten deshalb nicht nur die Dominanz der herrschenden Klasse sichern, sondern auch den Erhalt des russischen Imperiums. Dafür steht die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen in Tschetschenien und die stetige Ausweitung der Gewalt auf den gesamten Nordkaukasus. Die gegenwärtige Dominanz ehemaliger Geheimdienstmit­arbeiter/innen in der Regierung und hohen Staatsämtern liegt nicht nur an den ausführlich diskutierten St. Petersburger Seilschaften Vladimir Putins, sondern an der Militarisierung der russischen Innenpolitik.

Es bleibt festzuhalten, dass die Regierungen Putin und Medwedjew sich vor allem darum bemühten, die Herrschaftsverhältnisse abzusichern und zu stabilisieren. Eine gesellschaftliche Demokratisierung war ebensowenig vorgesehen wie eine soziale Umverteilung. Die bis heute gültige Verpflichtung des russischen Staates auf Wirtschaftswachstum und breiten Konsum verstärkt sogar die Konzentration auf den Ressourcenextraktivismus. Diese Tendenz wird durch die Ausweitung staatlicher Beteiligung im Rohstoffsektor verstärkt. Auf diese Weise bindet sich der Staat an das russische Entwicklungsmodell. Dieses instabile Kräfteverhältnis erweist sich seit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 immer mehr als Problem.


Die Grenzen gesellschaftlicher Modernisierung im zeitgenössischen Russland

Trotz der positiven Wirtschaftsentwicklung zu Beginn der ersten Amtszeit Putins ist die Kritik am russischen Produktionsmodell nie verstummt. In dieser Zeit entstand eine neue Debatte, welche die Grenzen rohstoffbasierter Entwicklung stärker in den Blick nimmt. Unter dem Stichwort »Modernisierung« wird seitdem über eine Reduzierung der Rohstoffabhängigkeit diskutiert. Aufgrund des verschärften Konkurrenzdrucks globalisierter Märkte lautet das Ziel, Russlands internationale Konkurrenzfähigkeit zu erhalten. So fordern sogar Dimitrij Medwedjew oder der ehemalige Präsidentenberater Aleksej Kudrin ebenso wie internationale Akteure (World Economic Forum 2011, Weltbank 2011, 2013) eine Diversifikation der russischen Exporte und den Aufbau einer konkurrenzfähigen Industrie. Diese Debatte hat seit den Wirtschaftssanktionen an Bedeutung gewonnen.

Auffällig ist, dass die Modernisierungsdebatte in eine neoliberale Politikagenda eingebettet ist und überwiegend auf den wirtschaftlichen Bereich reduziert bleibt. So trieben die Regierungen Putin und Medwedjew den WTO-Beitritt Russlands konsequent voran. Dadurch gaben sie wichtige Handlungsspielräume, die für die wirtschaftliche Umgestaltung notwendig gewesen wären, weitgehend auf. Dies verstärkt die periphere ökonomische Entwicklung weiter, da es vor allem den global orientierten Rohstoffkonzernen neue Absatzmärkte ermöglicht. Auch einzelne Leuchtturmprojekte wie der Technologiepark Skolkovo, »das russische Silicon-Valley«,[20] sollten darüber nicht hinwegtäuschen. Es stellt sich somit die Frage, ob der Modernisierungskurs nicht als ein Bestandteil des ressourcenextraktivistischen Entwicklungsmodells zu verstehen ist. Aus dieser Perspektive dient das Narrativ des internationalen Konkurrenzdrucks dazu, auf nationaler Ebene eine neoliberale Politikagenda durchzusetzen. Ein weiterer Hinweis darauf ist, dass soziale Ungleichheit als Hindernis gesellschaftlicher Entwicklung kaum eine Rolle spielt.

Seit Beginn der Wirtschaftskrise gerät das ressourcenextraktivistische Entwicklungsmodell zunehmend unter Druck. Der Staat kann sein Konsumversprechen nur noch eingeschränkt gewährleisten. Die Proteste der Jahre 2011/12 und 2013 sollten in diesem Kontext nicht nur auf Anti-Putin-Proteste reduziert werden. Da sie zu dem Zeitpunkt eintraten, als die Wirtschaftskrise in Russland ihrem vorläufigen Höhepunkt zustrebte, wäre zu diskutieren, inwiefern sie als Teil der Auseinandersetzung um das ressourcenextraktive Modell analysiert werden können. Ein Hinweis darauf ist, dass es vor allem die städtische Mittelschicht war, die sich an den Protesten beteiligte. Neben der Entrüstung über die Wahlfälschungen gaben nach einer Umfrage des Levada-Instituts 73% der Befragten als Grund für ihre Teilnahme an den Demonstrationen ihren allgemeinen Unmut über die Entwicklung des Landes an und immerhin 42% ihre Unzufriedenheit mit der versprochenen Modernisierungspolitik.[21] Der system-inhärente Drang zur Ausweitung der in Wert zu setzenden Territorien kann zu einer Redefinition von Klassenkompromissen und damit Konflikten führen. Die hohen Devisenreserven des russischen Staates und die Zentralisierung der politischen Entscheidungsfindung haben die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verschoben. Das zeigt sich spätestens seit dem Beginn der Wirtschaftskrise. Diese ermöglichten Russland nicht nur einen Großteil der in den 1990er Jahren angehäuften Auslandsschulden zu begleichen. Im Rahmen von Anti-Krisen-Programmen und den gegenwärtigen Sanktionen stützt der Staat Banken und private Kapitalgruppen. Dadurch stärkt der Staat seine Rolle im Rohstoffsektor und intensiviert die Konzentration auf den Rohstoffexport. Die unerwartete Festnahme des Oligarchen Wladimir Jewtuschenko, Besitzer des Ölkonzerns Bashneft, lässt vermuten, dass die Auseinandersetzung um das russische Entwicklungsmodell keinesfalls entschieden ist.


Fazit

Die russische Politik seit den 2000er Jahren hat die Abhängigkeit vom Rohstoffexport stetig erhöht. Dafür sprechen der Beitritt zur WTO sowie die kostspieligen Pipeline-Projekte (North Stream, Sibirische Kraft) und die Erschließung neuer Ölförderstätten im arktischen Meer (Barentsee). Indem der Staat seine Beteiligung an Rohstoffkonzernen ausweitete (Gazprom, Rosneft), hat er sich selber an das ressourcenextraktivistische Entwicklungsmodell gebunden. Die Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft tragen maßgeblich zur Finanzierung des Staatshaushalts bei. Eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung wird unter diesen Bedingungen deutlich erschwert.

Seit Beginn der Wirtschaftskrise nimmt die Auseinandersetzung um das ressourcenextraktivistische Entwicklungsmodell zu. Das liegt unter anderem daran, dass der Staat im Vergleich zu den privaten Kapitalgruppen bisher gestärkt aus der Krise hervorging und durch seine hohen Devisenreserven in der Lage ist, seine Beteiligungen in profitablen Sektoren auszudehnen. Dies könnte langfristig eine Redefinition des bisherigen Klassenkompromisses bedeuten. Erste Anzeichen sind die Festnahme des Oligarchen Jewtuschenko sowie die Verschärfung der autoritären Herrschaft, die in Gesetzen gegen Minderheiten (Homosexuelle) und die politische Opposition (NGO-Gesetz) ihren Ausdruck findet.

Die aktuelle Krise in der Ukraine und die Annexion der Krim verdeutlichen den imperialen Charakter des russischen Staates. Der Erhalt des Imperiums ist äußerst kostspielig und war nicht zuletzt ein wichtiger Grund für die Auflösung der Sowjetunion.[22] Auch aus dieser Perspektive deutet vieles eher auf eine Intensivierung des Ressourcenextraktivismus hin. Ob sich daraus eine zukünftig aggressivere russische Außenpolitik ableiten lässt, hängt nicht zuletzt auch von den NATO-Staaten und ihrer Rolle im post-sowjetischen Raum ab.

Unter der Berücksichtigung der gegenwärtigen Verhältnisse sind progressiven Bewegungen in Russland auf absehbare Zukunft äußerst enge Grenzen gesetzt. Den Anspruch, eine politische und wirtschaftliche Alternative darzustellen, haben die politischen Eliten bereits mit der Auflösung der Sowjetunion aufgegeben.

Felix Jaitner, geb. 1986 in Köln, Politikwissenschaftler, promoviert zu Klimawandel in Russland und ist Mitglied der Forschungsgruppe Osteuropastudien an der Universität Wien. Soeben erschien von ihm im VSA: Verlag Hamburg: Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin.

[1] Aufschlussreiche Analysen zu Wahlfälschungen finden sich auf der Seite der russischen Nichtregierungsorganisation »Golos«: archive.golos.org (letztmaliger Zugriff: 23.9.2013).
[2] Während bspw. Aufmärsche regierungstreuer und z.T. sogar offen rechtsradikaler Bewegungen staatliche Unterstützung erfahren, werden oppositionelle Demonstrationen immer wieder verboten, massiv erschwert und durch Polizeigewalt unterdrückt. Ähnliches ließe sich über die Medienpräsenz sagen.
[3] Mommsen, Margareta/Nußberger, Angelika (2007): Das System Putin. Gelenkte Demokratie und politische Justiz in Russland, Bonn, S. 9.
[4] Stellvertretend für diese Debatte sei genannt: Shevtsova, Lilia (2006): Bürokratischer Autoritarismus – Fallen und Herausforderungen, in: APuZ, Nr. 11, S. 6-13.
[5] Tichonova, Nataliyja (2011): Armut in Russland, in: Russlandanalysen Nr. 222, S. 2-5.
[6] Schröder, Hans-Henning (2008): Stratifikation und soziale Ungleichheit in Russland, in: Russland-Analysen, Nr. 73, S. 9-12.
[7] Rosneft fusionierte im Jahr 2005 mit Gazprom.
[8] Hierzu: Wallerstein, Immanuel (2004): Die große Expansion. Das moderne Weltsystem III. Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert, Wien, hier: S. 184-275; Kagarlickij, Boris (2010): Ot imperij – k imperializmu. Gosudarstvo i vozniknovenie buržuaznoj civilizacii, Moskva.
[9] Goskomstat (2010): Tovarnaja struktura eksporta Rossijsskoj Federacii, abrufbar unter: www.gks.ru/bgd/regl/b11_13/IssWWW.exe/Stg/d6/25-08.htm (25.9.2014).
[10] Russland-Analysen (2014), Nr. 276, S. 7.
[11] Gudynas, Eduardo (2012): Der neue progressive Extraktivismus in Süd­amerika, in: FDCL/RLS (Hrsg.): Der neue Extraktivismus – Eine Debatte über die Grenzen des Rohstoffmodells in Lateinamerika, Berlin, S. 46-61, sowie: Acosta, Alberto (2013): Extractivism and Neoextractivism. Two sides of the same curse, in: Lang, Miriam/Mokrani, Dunia (2013): Beyond Development Alternative Visions from Latin America, Amsterdam/Quito, S. 61-86.
[12] Svampa, Maristella (2012): Bergbau und Neoextraktivismus in Latein­amerika, in: FDCL/RLS (Hrsg.): Der neue Extraktivismus – Eine Debatte über die Grenzen des Rohstoffmodells in Lateinamerika, Berlin, S. 14-21, S. 14.
[13] Brand, Ulrich/Dietz, Kristina (2014): (Neo-)Extraktivismus als Entwicklungsoption? Zu den aktuellen Dynamiken und Widersprüchen rohstoffbasierter Entwicklung in Lateinamerika, PVS, Sonderheft, 48/2014, S. 128-165.
[14] Vgl. Kagarlickij, Boris (2009): Periferijnaja Imperija: Cikly russkoj istorii, izdatel´stvo Algoritm, Moskva.
[15] Alexandrova, Olga (1996): Auf der Suche nach außenpolitischen Alternativen. Die »Dritte Welt« in den russischen Vorstellungen, in: BIOst, Nr. 31, S. 17.
[16] Grinberg, Ruslan/Kosikova, Lidija (1997): Russland und die GUS. Auf der Suche nach einem neuen Modell wirtschaftlicher Zusammenarbeit, in: BIOst, Nr. 50, S. 10ff.
[17] Buzgalin, Aleksandr/Kolganov, Andrej (1996): Rußland – die neue Gefahr aus dem Osten?, Berlin, S. 121.
[18] Dazu Jaitner, Felix (2014): Die Einführung des Kapitalismus in Russland, Hamburg.
[19] Mihail Zadronov: Vse ponimali, čto my stanovimsja političeskimi smertnikami, abrufbar unter: kommersant.ru/doc/1011188 (letztmaliger Zugriff: 11.11.2014).
[20] Siemens (2013): Das russische Silicon Valley, abrufbar unter: www.siemens.com/press/de/pressebilder/bilder-photonews/2013/PN201304/pn201304-01.htm (20.2.2014).
[21] Russland-Analysen (2012), Nr. 232, S. 11.
[22] Vgl. Jaitner, Felix (2014): Die Einführung des Kapitalismus in Russland, Hamburg.

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