25. März 2022 Klaus Dörre: Krieg, Exterminismus und die Utopie des Sozialismus

Das Zeitfenster schließt sich!

Der jüngste Bericht des Weltklimarates IPCC lässt keine Zweifel. Etwa die Hälfte der Menschheit leidet bereits unter den Folgen des anthropogenen Klimawandels.[1] UN-Generalsekretär Guterres erkennt darin kriminelles Versagen beim Klimaschutz. Obwohl sich das Zeitfenster für wirksame Gegenmaßnahmen schließt, steht bereits fest, dass die Hürden für eine Nachhaltigkeitsrevolution künftig noch höher werden. Hauptgrund ist der Krieg.

Am 24. Februar 2022 hat die Russische Föderation mit einem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine begonnen. Städte unter Raketenbeschuss, Millionen Geflüchtete, Gefechte an Atomkraftwerken, Zerstörung überlebenswichtiger Infrastruktur sowie tausende Tote und Verletzte auch unter Zivilisten – das ist die Schreckensbilanz der ersten Kriegswochen.

Seit dem Überfall steht im Westen Versorgungssicherheit politisch wieder vor Klimaschutz. Ein rascher Ausstieg aus der Kohleverstromung ist fraglich geworden, selbst verlängerte Laufzeiten für Atomkraftwerke sind wieder eine Option. Vorrang vor einer friedlichen, inklusiven Gesellschaft (Sustainable Development Goals 16) hat nun auch in Deutschland wieder die Aufrüstung. Laut Bundesregierung soll das Zwei-Prozent-Ziel der NATO bei den Rüstungsausgaben noch übertroffen und dem Militär zusätzlich ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro verfügbar gemacht werden. Kanzler Scholz hat diese Entscheidung von oben verfügt. Dennoch scheint Aufrüstung als Antwort auf die Aggression des Putin-Regimes mehrheitlich akzeptiert und politisch alternativlos zu sein. Derweil wird die Grenze zwischen Krieg und Frieden unscharf. Auch in Deutschland ist der Grundsatz, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, außer Kraft gesetzt. Wann die Schwelle überschritten ist, an der waffenliefernde Staaten zur Kriegspartei werden und der Bündnisfall eintritt, entscheidet im Grunde der Aggressor. Geradezu schlafwandlerisch könnte die internationale Staatengemeinschaft in einen dritten Weltkrieg, ja in eine nukleare Auseinandersetzung hineinschlittern. Macht es angesichts solcher Bedrohungen noch Sinn, einer »Utopie des Sozialismus« das Wort zu reden?

Auf eine Kriegssituation ist die »Utopie des Sozialismus« wahrliche nicht zugeschnitten, wie eine Rezensentin zurecht anmerkt.[2] »Nun herrscht also wieder Krieg in Europa. Die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen wird dadurch ja aber nur noch wichtiger«, schreibt mir Pascal Zwicky, Koordinator des Schweizer Think-Tanks Denknetz, anlässlich eines Podcasts zu meinem Sozialismus-Buch.[3] Trotz Zustimmung möchte ich andeuten, was künftig dennoch neu zu durchdenken und analytisch präziser zu fassen ist. Dabei will ich, notgedrungen selektiv und sehr knapp, auf einige Kritikpunkte eingehen, die in den Rezensionen, Kommentaren und Diskussionen zum Buch angesprochen werden.

Deshalb vorab eine Bemerkung zum Feld der Kritik, das sich von der scientific community, genauer: von den Öffentlichkeiten im Fach Soziologie oder den Sozialwissenschaften über die organischen Öffentlichkeiten im Grenzbereich von Wissenschaft und Politik bis hin zu Aktiven in den Klimabewegungen und der politischen Linken reicht. Dass ein Buch, das mit Utopie, Sozialismus und Revolution gleich drei Reizwörter im Titel führt, gespaltene Reaktionen auslösen würde. war mit bewusst.[4] Darauf, dass harte Kritik zu besseren Entwürfen führen würden, hatte ich geradezu gehofft. Auch auf Verrisse, die, in einigen wenigen Fällen tatsächlich, auf allenfalls oberflächlicher Lektüre beruhen, war ich vorbereitet. Eines fällt jedoch auf. Auf das erste Buchkapitel, das die Vision einer nächsten, nachhaltig-sozialistischen Gesellschaft enthält, geht kaum eine Rezension, kaum ein Kommentar wirklich ein.[5] Die Vision wird überwiegend mit einem achselzuckenden »Schön wär's!« beiseitegelegt. Das zeugt von einem verbreiteten Utopieverlust nicht nur in den Sozialwissenschaften, sondern vor allem auch in der politischen Linken, der auf einen selbst geschaffenen Ohnmachtszirkel verweist. Bewegt man sich in der Sphäre der sogenannten Realpolitik, heißt es, es fehle an Visionen einer besseren Gesellschaft. Beginnt man, sich eine solche Gesellschaft auch nur vorzustellen, wird rasch »kapitalistischer Realismus« mobilisiert, der jeglichen utopischen Überschuss im Keim erstickt. Wer sich freiwillig in diesen Zirkel begibt, hat schon verloren. Eine politische Linke, die sich eine bessere Gesellschaft nicht mehr vorstellen kann, die den Sozialismus selbst in seiner organischen Verbindung mit Demokratie aufgibt, die sich darauf beschränkt, einen 12-Euro-Mindestlohn mit einer 13-Euro-Forderung zu toppen, macht sich, leider, selbst überflüssig. Unfähig, sich eine bessere Gesellschaft auch nur vorzustellen, verharrt sie, wie Christoph Lieber in seiner wohlwollenden Besprechung meines Buchs bemerkt, in der »Politik des Negativen«.[6] Beginnen wir deshalb mit dem Ereignis, das den Utopieverlust verstärken und linke Politik vollständig marginalisieren könnte – dem Krieg gegen die Ukraine.

Putin, der Krieg und die exterministische Gefahr

Im Sozialismus-Buch bin ich auf die Sicherheitsarchitektur, die eine sozialistische Vision zu ihrer Verwirklichung benötigt, im Schlusskapitel eingegangen. Dort heißt es: »Man muss nicht zu den Beschönigern expansiver Bestrebungen des autoritären Putin-Regimes gehören, um anzuerkennen, dass Russland nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ein legitimes Interesse daran hat, seine Außengrenzen nicht mit konkurrierenden Militärbündnissen wie der NATO teilen zu müssen.

Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zuletzt schrieb er in Heft 03-2022 von Sozialismus.de zu »Sozialer Konflikt um Mobilität und Klimagerechtigkeit«.
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die erweiterte Fassung des Nachworts zur 2. (Taschenbuch-)Auflage von »Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution«.

[1] International Panel on Climate Change (IPCC, 2022): Climate Change 2022. Impacts, Adaption and Vulnerability. report.ipcc.ch/ar6wg2/pdf/IPCC_AR6_WGII_SummaryForPolicymakers.pdf. Zugriff: 6.3.2022.
[2] Gerlach, Ingeborg (2022): Rezension zu Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. In: Braunschweig Spiegel vom 11. März 2022. braunschweig-spiegel.de/rezension-zu-klaus-doerre-die-utopie-des-sozialismus/. Zugriff: 17.3.202.
[3] Das Gespräch mit Pascal Zwicky findet sich unter: www.denknetz.ch/.
[4] Ein Überblick über einen Teil der mittlerweile zahlreichen Rezensionen, Rundfunksendungen und Podcasts zum Thema findet sich auf meiner Homepage. www.klaus-doerre.de/.
[5] Eine sehr bemerkenswerte Ausnahme ist die ausführliche Kritik von Michael Brie. In: Sozialismus.de, Heft Nr. 12, Dezember 2021: Utopischer Überschuss und nüchterne Analyse. Zu Klaus Dörres Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Michael Brie bereitet ein eigenes Sozialismus-Buch vor: Brie, Michael (2022): SOZIALISMUS neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen von der Utopie zur Wissenschaft und zur Großen Transformation. Hamburg.
[6] Rezension von Christoph Lieber. In: Sozialismus.de, Heft Nr. 12. Dezember 2021: Utopie als Methodik politischer Arbeit. Klaus Dörres »verbindende Klassenpolitik«.

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