25. Juni 2014 Jörg Berlin: Kriegsbegeisterung und Kriegsgegnerschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Hamburg

»Dat sind all Lüt, de nich mit brukt.«

Mit Siegesparolen beschriftete Eisenbahnwaggons und jubelnde, begeisterte Menschenmengen – solche Szenen werden zumeist mit der Stimmung der Deutschen bei Ausbruch des 1. Weltkriegs assoziiert. Entsprechende Vorstellungen von Kriegsbegeisterung werden zudem durch populäre Darstellungen der Julikrise von 1914 verstärkt. Auch für Hamburg ist dieses Bild jedoch zu undifferenziert.

Entscheidungen hinter der Bühne

Bei einer Betrachtung der Stimmungen der Bevölkerung in den Tagen vor Kriegsbeginn ist stets zu bedenken, dass von den entscheidenden Planungen und Schritten, die hinter den Kulissen der diplomatischen Bühne überlegt und vorbereitet wurden, seinerzeit kaum etwas bekannt wurde. Nach dem Mord an dem österreichischen Thronfolger am 28. Juni 1914 im erst 1878 von der Doppelmonarchie okkupierten Bosnien rechnete die bestürzte und empörte deutsche Bevölkerung zwar mit einer entschiedenen Reaktion auch gegen Serbien. Unbekannt blieb, dass der deutsche Kaiser ebenso wie der Reichskanzler und der Generalstabschef die österreichisch-ungarische Führung ausdrücklich drängten, eine gründliche Abrechnung mit Serbien vorzunehmen und dabei von vornherein mit einem Krieg nicht nur gegen Serbien, sondern auch gegen Russland und Frankreich rechneten.

Verborgen blieb auch, dass die Entscheidungsträger in Wien ihre nahezu Tag für Tag mit deutschen Stellen abgestimmten Entscheidungen, die dann den Krieg auslösten, ohne das Drängen und die versprochene Rückendeckung aus Deutschland wohl kaum getroffen hätten. Das Reden von einem »Blankoscheck« war (und ist) in diesem Zusammenhang eine Propagandaformel. Das erklärte Interesse der deutschen Reichsleitung an einem Krieg zu diesem Zeitpunkt beruhte auf der Überzeugung, die angestrebten politischen und wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten seien durch Verhandlungen allein nicht zu erreichen. Konflikte wären unvermeidbar und wegen des im Rüstungswettlauf der letzten Jahre erreichten Vorsprungs siegreich zu führen.

Von einem »Hineinschlittern« in den Konflikt lässt sich deshalb sinnvoll nicht sprechen, zumal Vermittlungsbemühungen hintertrieben wurden, der Kriegsausbruch einkalkuliert war und nicht allein vom deutschen Kaiser eine endgültige »Abrechnung zwischen Germanentum und Slawentum« gefordert wurde. Vor der Öffentlichkeit wurden solche Absichten der herrschenden Kreise allerdings verborgen. Im Gegenteil: Die Presse sollte mithelfen, die öffentliche Meinung Europas und im eigenen Land von einer Friedfertigkeit Österreichs und Deutschlands zu überzeugen. Nicht einmal von einer Mitwisserschaft der deutschen Diplomatie bzw. von Berliner Regierungsstellen an Maßnahmen Österreichs berichteten die Hamburger Zeitungen. Einen expliziten Argwohn in Hinblick auf die Haltung der deutschen Regierung äußerte in diesem Zusammenhang auch die radikale Opposition nicht.

Allerdings gab es durchaus einzelne Artikel mit unüberhörbar kritischen Untertönen. Das »Hamburger Echo« (24.7.1914) schrieb in einem Leitartikel, Regierungen und Monarchen stünden ebenso wenig wie Behörden, Polizei, Justiz, Militärmacht usw. über den Parteien. Im »Klassenstaat ... verknüpfen sich immer engstens die Interessen der Regierung mit denen der herrschenden Stände und Klassen«. Das gleiche Blatt erinnerte zudem noch am 31. Juli an die Täuschung der Bevölkerung vor Beginn des Krieges 1870/71 gegen Frankreich, als es Bismarck durch eine trickreiche Veränderung der Emser Depesche gelungen sei, Kriegsbereitschaft zu wecken, die »einmal entzündet und unablässig geschürt« ganze Bevölkerungsschichten mit sich riss, die erst »später den ungeheuren Fehler erkannten, der da gemacht wurde«.


Erste Warnung vor »Kriegshetzern« in Hamburg

Bereits vor Bekanntwerden des Inhalts der österreichischen Note an Serbien erfuhren die »Echo«-Leser am 23. Juli, wie mit dieser in Wien »Kriegshetzerei« betrieben würde. Zwei Tage später war in einem Leitartikel zu lesen, die Note gleiche bereits im Ton »einer beabsichtigten Kriegsprovokation«, ihre Forderungen seien demütigend und inakzeptabel. Die österreichischen »Kriegshetzer« spielten mit dem Feuer, aus dem sich ein »Weltbrand entzünden« könnte. Die Völker hätten dann für die »Sünden ihrer Beherrscher zu büßen, bis sie endlich ihren eigenen Willen und die Vernunft zur Geltung« bringen würden. Das war eher eine rhetorische Aufforderung zum Regierungs- und Systemwechsel als ein Ausdruck »patriotischer Begeisterung«.

In der Ausgabe vom 26.7. setzte sich dieser scharfe Ton fort: Es werde die Zeit kommen, in der das militaristische System zusammenbrechen und auf den »Schuttberg der Weltgeschichte geschleudert werde«. Dabei verschwieg das Blatt nicht, wie sich in der Stadt bei »biederen Philistern«, am Stammtisch, an der Börse und vor den Aushängekästen bestimmter Zeitungen ein »Mordsrausch patriotischer Begeisterung« gezeigt habe, als gemeldet wurde, Serbien habe das österreichische Ultimatum nicht angenommen: »›Gott sei Dank, jetzt geht es endlich los!‹ brüllte so ein dickbäuchiger Maulheld, dem der brutalste Stumpfsinn anzumerken war, und ein ganzer Chorus Gleichgesinnter stimmt ihm lärmend zu. ... Auf dem Jungfernstieg entspinnt sich eine Schlägerei. Man hat irgendwie einen Serben entdeckt, auf den losgeprügelt wird.«

Berichte über allabendlich begeisterte, »patriotische« Lieder singende, Andersdenkende misshandelnde und mit Fahnen umherziehende Massen finden sich an allen folgenden Tagen in den Zeitungen: »Die allgemeine Erregung und freudige Begeisterung ... wuchs, indem sie immer weitere Kreise ergriff ... und sich in großartigen Kundgebungen Luft machte. ... Wo nur eine Kapelle die Nationalhymne oder eines unserer begeisternden Vaterlandslieder spielte, erhoben sich die Zuhörer und sangen mit. Wehe dem, der durch Sitzenbleiben Gleichgültigkeit oder gar eine andere Gesinnung an den Tag legen wollte!« (»Hamburger Nachrichten« vom 27.7.1914)

Die bürgerliche Presse behauptete, diese Stimmung sei gleichermaßen in allen Altersgruppen, Stadtteilen und Schichten anzutreffen. Hier lassen sich Zweifel begründen. Die Zeitungsberichte beziehen sich zumeist auf Beobachtungen in namentlich genannten Cafés und auf bestimmte Straßen zwischen Hauptbahnhof, Rathausmarkt, wo damals ein Kaiser-Denkmal stand, Alsterpavillon und Große Bleichen. Die Lokale in diesem Gebiet wurden seinerzeit bekanntermaßen vor allem von »gutbetuchten« bürgerlichen Kreisen besucht. Spontane »vaterländische« Kundgebungen gab es zudem in der Beneckestraße vor dem österreichischen Generalkonsulat und am Bismarckdenkmal.

Wenn von einer gleichermaßen »patriotischen« Gesinnung in Arbeiterkneipen und -vierteln die Rede ist, fehlen konkrete Angaben. Zivilfahnder der Polizei registrierten dort ganz andere Äußerungen. Sie hörten resignierte Stimmen, die meinten, man könne nichts ändern, aber auch solche, die nach einem Krieg nationale Erhebungen in den nichtdeutschen Teilen der k.u.k.-Monarchie prophezeiten. In einer Gastwirtschaft in der Mozartstraße verwiesen Arbeiter auf Streiks in Russland, die den Frieden bewahrten: »Soweit muß es hier auch erst kommen, dann wird’s den Hurrapatrioten auch schon vergehen.« Bei den Kundgebungen und Umzügen scheinen auch nicht alle Jahrgänge gleichermaßen beteiligt gewesen zu sein. Nach dem Bericht eines Wachtmeisters Zufall äußerten am 29.7. »einige bessere ältere Herren, dass diese ... Demonstrationszüge ... nur noch aus Jugendlichen bestünden« und die Polizei dem Unfug ein Ende bereiten sollte. Noch schärfer formulierte das »Echo« am 29.7., es handele sich bei den »Kaffeehaus-Demonstranten«, dem wüst lärmenden »nationalistischen Janhagel« um Leute, die sich auf dem »Jungfernstieg aus Antisemitenhymne, Coctail und Extrablättern« einen »Kriegsrausch« angesoffen hätten.

In einer Veranstaltung der SPD im Gewerkschaftshaus gab der Redner unter großer Zustimmung der Anwesenden die Aussage eines Straßenbahnschaffners, der die »patriotischen Hurra-Schreier« fortwährend vor Augen hatte, mit dem Satz wieder: »Dat sind all Lüt, de nich mit brukt.« In Hinblick auf das Alter wird die Beobachtung tendenziell zutreffen, hingegen in Bezug auf die Entschlossenheit, auch selbst zu den Waffen zu greifen, eher nicht.


Protestveranstaltungen gegen den »drohenden Weltkrieg«

Um die wirkliche Stimmung der Bevölkerungsmehrheit, d.h. deren Friedensliebe zu demonstrieren, führte die Sozialdemokratie im Großraum Hamburg, einschließlich Altona, Ottensen, Harburg, Wilhelmsburg und Schiffbek einundzwanzig Volksversammlungen zumeist am 28. Juli gegen die »Kriegsprovokation der österreichischen Regierung« durch. Die Redner wiesen die Schuld am Konflikt auf dem Balkan eindeutig Österreich und allgemein dem »Imperialismus« zu. Ein Krieg würde der Bevölkerung Europas nur Leid und Elend bringen, Nutznießer wären nur ein »paar Dutzend« an der Spitze der »imperialistischen, chauvinistischen und kapitalistischen Gesellschaft«.

Wichtiger als die Details der in Presse- und Polizeiberichten gut dokumentierten Reden und einhellig verabschiedeten Resolutionen ist jedoch in diesem Zusammenhang die Stimmung der Versammlungsbesucher. Die Räume und Säle waren, wie z.B. das »Fremdenblatt« am 30.7. berichtet, bereits lange vor Veranstaltungsbeginn übervoll:
»... der große Saal (war) bis auf den letzten Platz besetzt, die übervollen Tribünen konnten keinen Menschen mehr aufnehmen. Sogar in der Vorhalle und in dem Treppenhause standen die Menschen Kopf an Kopf wie eine undurchdringliche Mauer, und hunderte von Besuchern mussten unverrichteter Dinge wieder umkehren. Viele warteten geduldig ..., um sich später ... berichten zu lassen«.

Einzelne der Versammlungsredner schlugen durchaus auch radikale Töne an. Bei Sagebiel[1] wurde etwa auf die Möglichkeit einer »inneren Revolution« als Folge des Krieges verwiesen. In Eppendorf warnte der Referent sogar, bei einer Niederlage könne »es leicht so kommen, dass die Reichen, die in Glück und Herrlichkeit leben, nur so weggefegt werden«. Nach einer möglichen Mitverantwortung der deutschen Regierung an der Kriegsgefahr fragte jedoch niemand. Mehrere Redner sahen in ihr während der gegenwärtigen Krise sogar einen möglichen Verbündeten. Die unkritische Haltung gegenüber der Regierung ist durch einen raffinierten Schachzug des Reichskanzlers zu erklären. Er hatte in vertraulichen Gesprächen der SPD-Führung mitgeteilt, die Kundgebungen kämen ihm nicht ungelegen, sie würden eigene Ini­tiativen zur Erhaltung des Friedens in Wien und Petersburg unterstützen, er bitte jedoch, zu heftige Demonstrationen zu vermeiden, da sie die Gegner ermutigen könnten.

Wohin die politisch aufgeheizten Stimmungen ohne diese geschickte Dämpfung hätten führen können, zeigte sich am 29. Juli, als etwa 200 Mitglieder der sozialdemokratischen Jugendorganisation zunächst eine ausdrücklich gegen die SPD und ihre Friedenskundgebungen gerichtete »patriotische« Versammlung und dann nachfolgende Demonstrationen massiv störten, wobei es nicht beim Wettstreit im Gesang »Wacht am Rhein« gegen »Arbeitermarseillaise« blieb, sondern nach einem Bericht der »Neuen Hamburger Zeitung« vom 30.7. zu »Plänkeleien und Zusammenstößen«, »Tätlichkeiten« und einer »heftigen Schlägerei« kam. Wohl auch wegen dieser »Unordnungen und Ruhestörungen« erließ die Polizeibehörde am 30.7. ein generelles Kundgebungs- und Demonstrationsverbot. Der »General Anzeiger« tadelte den späten Zeitpunkt, die Behörde habe erst reagiert, »nachdem wir die Straßen-Zusammenstöße erlebt« haben.


Vom Krieg gegen Serbien zum Weltkrieg

Wie immer die zahlreichen, von über 25.000 Personen besuchten Protestveranstaltungen und die Störversuche der »vaterländischen« Kundgebungen sonst zu bewerten sind, sie verbieten es, die Kriegsbegeisterung und den Hurra-Patriotismus, die in einigen Teilen und Straßen Hamburgs von den dort zu Tausenden Zusammengeströmten demonstriert wurden, umstandslos als Kriegsbegeisterung einer deutlichen Mehrheit der Hamburger Bevölkerung auszugeben.

Allerdings registrierten die anwesenden Polizisten in den Protestversammlungen der SPD auf der Veddel, in Bergedorf, bei Sagebiel in der Neustadt sowie in Borgfelde Äußerungen der Referenten wie: Die Arbeiter wären »wohl für den Schutz des Landes«, also nicht unter allen Umständen gegen einen Krieg, dies gelte allerdings »nur dann, wenn das Vaterland von Feinden angegriffen« würde, »die uns das, was wir uns rechtlich erworben haben, wegnehmen wollen«. Solche Aussagen mögen zwar taktisch nicht klug gewesen sein – die Berichte im »Echo« erwähnten sie auch nicht –, im Kontext der Reden, in denen eindringlich vom Krieg als »Menschenschlachthaus« gesprochen wurde, sind sie aber auf keinen Fall als Anzeichen einer Neigung zu werten, Konflikte durch Waffengewalt auszutragen.

Die Reichsregierung nutzte jedoch die – nicht nur in der Hansestadt – erklärte Bereitschaft der sonstigen Kriegsgegner, im Verteidigungsfall mitzukämpfen, gezielt aus und stellte in ihrer erfolgreichen Propaganda die Mobilmachungsbefehle in Russland am 30. und 31. Juli als unmittelbar gefährliche Bedrohung und direkte Angriffsvorbereitungen nicht nur gegen Österreich, sondern insbesondere gegen Deutschland dar, denen – angeblich – nur zur Selbstverteidigung mit der eigenen Mobilmachung begegnet werden müsse. Die Bevölkerung habe auf die Extra-Blätter über »dieses weltgeschichtliche Ereignis« – berichtete der »Hamburgische Correspondent« am 2.8. – zunächst unterschiedlich reagiert, sie dann aber »überall ... mit schweigendem Ernst« entgegengenommen: »Vor dem Hauptbahnhof standen große Menschenmengen und der Jungfernstieg wie die übrigen Verkehrsstraßen waren dicht belebt, die Lokale bis auf den letzten Platz besetzt. Kein Lärm störte die feierlich-ernste und entschlossene Stimmung ...« In den Arbeitervierteln sei eine »antimilitärische Überzeugung nur in vereinzelten Fällen« zum Ausdruck gekommen. Zeitzeugen berichteten, vor dem Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof hätten sich Tag für Tag viele Männer eingefunden: »Wir standen dem Treiben ziemlich verständnislos gegenüber. Viele fragten sich: ›Bin ich verrückt oder sind es die anderen.‹«


Tatarenmeldungen und Cholerabazillen

Bereits am 1. August hatte das »Fremdenblatt« gemeldet: »Russen an der deutschen Grenze«, »schmählicher Betrug des Zaren« und »der Kampf (solle) erzwungen« werden. Zur Kennzeichnung der Stimmung der Bevölkerung verwendete die bürgerliche Presse am 1. und 2. August Adjektive wie »gefaßt«, »bereit«, »atemlos«. Bereits für den 1.8. wurden »Schüsse an der deutsch-russischen Grenze« gemeldet: »Ohne dass der Krieg erklärt gewesen wäre, sind bereits deutsche Soldaten auf deutschem Boden von Russen angegriffen worden.« Einen Tag später verkündete eine Überschrift »Russlands Angriff« und die Nachricht: »Amtlich wird gemeldet: Wir befinden uns im Kriegszustand mit Russland, da die Russen deutsches Staatsgebiete betreten haben.«

Solchen gezielten Falschmeldungen, d.h. der Propaganda der Reichsregierung ab dem 2. August gelang es, zunächst den Krieg gegen Russland und in der Folge den gegen Frankreich als reine Verteidigungsmaßnahme darzustellen. Da diese »Tataren-Meldungen« in Geschichtsdarstellungen meist nur am Rande behandelt werden, obgleich tatsächlich erst sie eine Kriegsbereitschaft größerer Teile der Bevölkerung produzierten, seien hier einige der gezielt gefälschten Nachrichten zitiert. Unter der Schlagzeile: »Die gerechte Sache Deutschlands« berichteten die »Hamburger Nachrichten« am 3. August: »Ehrlose französische Offiziere in deutschen Uniformen ... versuchten ... die Grenze zu überschreiten.« »Kriegsbeginn mit Frankreich ... französische Flieger (haben) in der Umgebung von Nürnberg Bomben abgeworfen.« »Cholerabazillen als französische Waffe. Ein französischer Arzt versuchte mit Hilfe zweier verkleideter französischer Offiziere, Brunnen mit Cholerabazillen zu infizieren ... Während sich noch kein deutscher Soldat auf französischem Boden befand, überschritten nach amtlichen Meldungen die Franzosen schon vor der Kriegserklärung kompagnieweise die deutsche Grenze.«

Das »Fremdenblatt« berichtete unter dem Aufmacher der ersten Seite »Deutschland wehrt sich« u.a. zusätzlich von Spionage- und Sabotageversuchen sowie französischen Luftschiffen über dem Rhein. (Falsch-)Meldungen über Spione führten auch in Hamburg zu zahlreichen Verfolgungen und Festnahmen Unschuldiger. Wie »erfolgreich« das Schüren dieser später als »Spionitis« bespöttelten Hysterie gelang, zeigt der Umstand, dass in Deutschland in diesem Zusammenhang etwa 28 Unschuldige erschossen wurden. Erst vor dem Hintergrund einer solchen systematischen Hetze werden Berichte von Übergriffen gegen (oft nur vermeintliche) Ausländer auch in Hamburg oder die Gewaltbereitschaft, die zur Demolierung des Alsterpavillons führte, sowie die Manie, alles Fremdsprachige aus dem Wortschatz zu tilgen, zumindest verständlich.

Das gilt im größeren Zusammenhang auch für die Stimmung vieler der abrückenden Soldaten. Sie fühlten sich im Recht und waren fest überzeugt, gemeinen, hinterhältigen und militärisch nicht gleichrangigen Angreifern eine Lektion erteilen zu müssen. Allerdings zeigen Fotos mit freudig erregten Gesichtern von Soldaten beim Abmarsch und Abtransport an die Front nur Momentaufnahmen und sicherlich bei manchen der Männer nicht nur wahre Gefühle; denn es gab feste Rollenzuweisungen und einen erheblichen Erwartungsdruck von Begleitern, Zuschauern, Kameraden und Vorgesetzten. Auch bei zurückgebliebenen Männern und den Frauen verwandelte sich die Ablehnung eines gegenseitigen »Abschlachtens von Menschen« selbst dann nicht automatisch in anhaltende Kriegsbegeisterung, wenn sie abrückenden Freunden und Verwandten am Hauptbahnhof zugejubelt hatten. Dies verhinderten bereits im August 1914 auch Alltagserfahrungen wie steigende Preise, Lohnkürzungen und Arbeitslosigkeit.

Literatur
Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.) (1989): August 1914. Ein Volk zieht in den Krieg, Berlin (Aufsätze zu verschiedensten Bereichen).
Kruse, Wolfgang (1993): Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen.
Laqueur, Walter/Mosse, George L. (Hrsg.) (1970): Kriegsausbruch 1914, München.
Muehlon, Walter (1989): Ein Fremder im eigenen Land. Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen eines Krupp-Direktors 1908-1914, Bremen.
Raithel, Thomas (1996): Das »Wunder« der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn.
Reye, Hans (1984): Der Absturz aus dem Frieden. Hamburg 1914-1918, Hamburg (viele Fotos und Faksimiles).
Stöcker, Michael (1994): »Augusterlebnis 1914« in Darmstadt. Legende und Wirklichkeit, Darmstadt.
Ullrich, Volker (1982): Kriegsalltag. Hamburg im Ersten Weltkrieg, Köln.
Verhey, Jeffrey (2000): Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg.

Jörg Berlin, Dr. phil., lehrte u.a. an der Universität Hamburg und der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen u.a. zur deutschen Sozialgeschichte und zum Völkermord an den Armeniern. Letzte Buchveröffentlichung: Bürgerfreiheit statt Ratsregiment. Das Manifest der bürgerlichen Freiheit und der Kampf für Demokratie in Hamburg um 1700.

[1] In den Sälen von »Sagebiels Etablissement« in der Großen Drehbahn konnten sich bis zu 10.000 (!) Personen versammeln. Es war der größte Komplex von Sälen in Hamburg, vielleicht sogar in ganz Deutschland.

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