1. Oktober 2004 Richard Detje und Jörg Köhlinger

Der Diebstahl an Zeit

1. Rückblick

Anfang Mai gab es ein Jubiläum zu feiern: 20 Jahre zuvor war der Einstieg in die 35-Stunden-Woche erkämpft worden. Ein Erfolg gegen – wie es damals hieß – "Kapital und Kabinett", Ausweis einer "offensiven Gewerkschaftspolitik in der Krise" (Hans Janßen u. Klaus Lang 1985), Nachweis des politischen Mandats der Gewerkschaften.

Aber es war von Beginn an ein begrenzter, ein konditionierter Erfolg. Begrenzt, weil – wie Detlef Hensche schon wenige Monate nach dem Arbeitskampf zu bedenken gab – "die soziale Bewegung nicht so, wie wir es wünschten, zustande gekommen ist. Wir haben den Kampf um die Köpfe nicht zufriedenstellend gewonnen." (Hensche 1985: 86) Begrenzt aber auch in der inhaltlichen Anlage und strategischen Reichweite: "In der Geschichte des Kampfes um Arbeitszeitverkürzung stand früher ... der Ausgleich für die ständige Intensivierung der Arbeit durch mehr Freizeit im Vordergrund... Wir sind mit der Überbetonung der Arbeitszeitverkürzung als Ersatz für Beschäftigungspolitik etwas mehr in die Defensive geraten, als uns allen gut tat." (ebd.: 88) Und konditioniert, da die negativen Effekte der dem Arbeitgeberlager zugestandenen Flexibilisierung hätten ausgeglichen werden müssen durch verbesserte Kontrolle der Arbeits- und Leistungsbedingungen "von unten" – durch aktive Betriebspolitik, durch erweiterte Mitbestimmungsrechte am Arbeitsplatz, in der Gruppe usw. –, damit Arbeitszeitverkürzung nicht nur als Leistungsintensivierung bei den Beschäftigten ankommt.

Schnee von gestern? Ganz und gar nicht, denn viele der damaligen Fragen sind aktueller denn je: die nach einer erneuerten und vitalisierten Betriebspolitik, danach, wie die Verfügungsgewalt der abhängig Beschäftigten über ihre Arbeit vergrößert werden kann, wie der Zusammenhang zwischen Arbeitszeit-, Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Sozial- und Verteilungspolitik ausgestaltet werden muss, und nach der Auseinandersetzung mit dem Alltagsbewusstsein, um Gegenprojekte initiieren, gesellschaftliche Bündnisse schließen und soziale Bewegungen befördern zu können.

Doch in der geschichtsvergessenen Zeit neoliberaler Hegemonie, in der sogar ein Roll-back noch als "Modernisierungs"leistung verkauft wird, hält man sich nicht mit Rückblicken auf. Die eingangs erwähnten Feiern zum Jahrestag der 35-Stunden-Woche fanden zumeist in kleinen Kreisen statt. Arbeitszeitpolitik ist in der Gegenwart kein mitreißendes gewerkschaftliches Gegenprojekt, sondern ein Restrukturierungsprojekt des Kapitals und der politischen Klasse.

2. Es brennt allerorten

Im vergangenen Jahr scheiterte die IG Metall daran, die arbeitszeitpolitischen Ost-West-Gräben zuzuschütten. Im Frühjahr setzte der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber gemeinsam mit seinen Kollegen Teufel und Koch die Ankündigung um, die Wochenarbeitszeit der Landesbediensteten um bis zu drei Stunden zu verlängern. Stoiber bemühte sich schon gar nicht mehr um ein Dementi, als bekannt wurde, dass er sich mit Siemens-Chef Heinrich von Pierer auf eine konzertierte Dammbruchaktion verständigt hatte. Mittlerweile wird in den Siemens-Werken in Bocholt und Kamp-Lintfort wieder 40 Stunden gearbeitet. Arbeitszeitverlängerung steht auch dort auf der Tagesordnung, wo – wie bei VW und Opel – Vereinbarungen zur Arbeitszeitverkürzung Beschäftigung sichern sollten. Und dort, wo schwarze Zahlen geschrieben werden, wo es also darum geht, die Eigenkapitalrendite auf höhere Niveaus zu schieben. Der IG Metall-Tarifabschluss vom Frühjahr sollte als Notdamm dienen – faktisch moderierte er den Einstieg in eine zweite Verhandlungsrunde in den Betrieben.

Mit einer ausgetüftelten Begründung hat man sich im Arbeitgeberlager gar nicht erst lange befasst. Man geht offenkundig davon aus, die medial aufbereitete Öffentlichkeit "in der Tasche" zu haben, sodass die eklatanten Widersprüche in der Begründung von Arbeitszeitverlängerungen nicht sonderlich auffallen.

  In den Industrieunternehmen verweist man auf "Globalisierungszwänge" – die Exporterfolge müssten noch getoppt werden, dann würde Arbeitszeitverlängerung auch zu mehr Beschäftigung führen.

  Im Öffentlichen Dienst soll die Arbeitszeit verlängert werden, damit Arbeitsplätze "eingespart" und somit die Haushaltskassen entlastet werden können.

  Im Handel sollen Verkäuferinnen demnächst rund um die Uhr für lockere Konsumstimmung sorgen, auch wenn der Bürger als Konsument auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als er/sie als Arbeitnehmer/in verdient.

  Und in Betrieben, in denen allenfalls sporadisch noch über 50jährige anzutreffen sind, soll bis zum 67. Lebensjahr gearbeitet werden, was weder etwas mit Arbeitsplätzen, noch mit Konsum, sondern ausschließlich etwas mit den finanziellen Nöten der Rentenversicherung zu tun hat.

Es bleibt "Wirtschaftsexperten" überlassen, dem Widersinn einen tieferen Sinn anzudichten. Über den Horizont der Gürtel-enger-schnallen-Philosophie geht das im Normalfall nicht hinaus. Damit der Gürtel nicht zu sehr zwickt, wird Arbeitszeitverlängerung als Lohnsicherungspolitik offeriert: Man würde ja nicht weniger verdienen, sondern "nur ein paar Stunden" länger im Werk oder im Büro bleiben. So versucht man, um den Punkt der Lohnsenkung zum Zwecke der Renditepflege herumzureden. Und damit um den Punkt, dass mit verlängerten Arbeitszeiten eine neue Runde der Schwächung der Binnenmärkte eröffnet wird. Doch in einer Zeit, in der Touristikunternehmen Vorreiter für die Streichung von Urlaubstagen und Urlaubsgeld sind, scheint man wenig von Logik zu halten.

So konzentriert man sich darauf, mit verkehrten Wirklichkeiten Propaganda zu machen. Das Wort vom Freizeitweltmeister Deutschland gehört dazu. Die Realität sieht ganz anders aus.

3. Von der 35- zur 40-Stunden-Woche und darüber hinaus

Die Phase der Arbeitszeitverkürzung währte ein Jahrzehnt: von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre. In dieser Zeit ging die durchschnittliche tarifliche Wochenarbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland von 40 auf 37,5 Stunden zurück. Doch das ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Auch bedingt durch die Erosion des Flächentarifvertrages liegen die betrieblich vereinbarten Arbeitszeiten mit 38,8 Wochenstunden (in 2002) deutlich über den tarifvertraglichen Regelungen (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Tarifliche und tatsächliche Arbeitszeiten (Quelle: Lehndorff 2003)

Grafik Arbeitszeiten 1

Wirft man schließlich einen Blick auf die tatsächlichen individuellen Arbeitszeiten, kommt man zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu dem ernüchternden Ergebnis: In Industrie und Dienstleistungen prägt die 40-Stunden-Woche wieder das Arbeitsleben der Vollzeit-Beschäftigten.

Durchschnittliche tarifvertragliche, betriebliche und tatsächliche Wochenarbeitszeit von Vollzeit-Arbeitnehmern in Deutschland (2001/2002; Quelle: Lehndorff 2004)
Tarifvertragliche Arbeitszeit (2002) -> 37,4 (West) -> 39,1 (Ost)
Betrieblich vereinbarte Arbeitszeit (2002) -> 38,8 (West) -> 39,6 (Ost)
Individuelle tatsächliche Arbeitszeit (2001) -> 40,0 (West) -> 40,0 (Ost)

Die Unterschiede zwischen tariflichen, betrieblichen und tatsächlichen individuellen Arbeitszeiten zeigen sich vor allem in der westdeutschen Metallindustrie. Im Vergleich zu den meisten anderen Wirtschaftsbranchen ist die tarifliche Arbeitszeit mit 35 Wochenstunden am kürzesten (Handel und Chemie: 37,5, Bau und Kreditgewerbe: 39) (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Differenz zwischen tarifvertraglichen und tatsächlichen Wochenarbeitszeiten von Vollzeit-ArbeitnehmerInnen (2001, Westdeutschland, Std./Woche; Quelle: Lehndorff 2004)

Grafik Arbeitszeiten 2

Und auch die tatsächlich geleistete Arbeitszeit ist in der Metallindustrie mit 38,4 Stunden noch die kürzeste. Aber in keiner anderen Branche ist die Differenz zwischen tariflich vereinbarter und tatsächlich geleisteter Arbeitszeit so groß wie in der Metallindustrie. "Die Flächentarifverträge zur Arbeitszeit erweisen sich zwar auch in der Metallindustrie für große Kernbereiche der Beschäftigten weiterhin als wirksam. Aber diese Wirksamkeit nimmt insbesondere bei Angestellten ab... Wenn die 'Drift' zwischen Arbeitern und Angestellten zunimmt, dann wird bereits wegen des zunehmenden Angestelltenanteils an allen Beschäftigten die Drift zwischen tatsächlichen und tarifvertraglichen Arbeitszeiten in Zukunft ebenfalls zunehmen, so lange es nicht gelingt, die tatsächlichen Arbeitszeiten der Angestellten wieder näher an das Tarifniveau heranzuführen." (Lehndorff/Wagner 2004: 21f.)

Bei den tatsächlichen Arbeitszeiten spielen selbstverständlich die Überstunden die maßgebliche Rolle. Auf dem Höhepunkt des letzten Konjunkturzyklus (1999) wurden im Durchschnitt 2,8 Überstunden pro Beschäftigten und Woche geleistet. Davon wurden aber nur 0,9 Stunden bezahlt, 0,8 Stunden waren von vornherein unentgeltlich, für 1,1 Stunden war Freizeitausgleich vorgesehen. Auch was letzteres betrifft, weicht die Realität erheblich von der Norm ab: Unternehmensbefragungen zufolge wurde nur in 14% der Betriebe mit Arbeitszeitkonten der vereinbarte Ausgleichszeitraum stets eingehalten. Und wo es zu Überschreitungen kam, wurde nur in 12% der Betriebe das Guthaben abgebaut – meist wird ausgezahlt, weitergeschoben oder die Arbeitszeitguthaben "verfallen". Der Handlungsbedarf, der hier deutlich wird, macht eine Intensivierung der Diskussion zur betrieblichen Arbeitszeitgestaltung dringend erforderlich.

Bemerkenswert ist, dass tatsächlich eine Angleichung zwischen den beiden Teilen Deutschlands stattgefunden hat. Aber nicht im Sinne einer Arbeitszeitverkürzung, sondern durch Anpassung der westdeutschen Arbeitszeiten an das höhere Ostniveau. Im Durchschnitt aller Wirtschaftsbereiche wird in Ost und West gleich lange gearbeitet: 40 Stunden in der Woche. (Wenn man so will ist dies eins der "Geheimnisse" des gescheiterten Arbeitskampfes Ost im vergangenen Jahr.)

Deutschland liegt mit einer tatsächlichen Arbeitszeit von 40 Stunden (Vollzeit-Beschäftigte) exakt auf dem Durchschnittsniveau in Europa und damit über den Arbeitszeiten der meisten EU-Mitgliedsländer – über Frankreich (37,7), Italien (38,5), die Niederlande (38,9) oder Dänemark (39,1). Auch in Spanien (40,4) und Portugal (40,3) wird kaum länger gearbeitet. Der Durchschnitt in Europa ist nach oben verzerrt durch die 43,3-Stunden-Woche in Großbritannien. Hier ahnt man, was die Nachahmung des angelsächsischen Sozialmodells bedeutet.

Arbeitszeitverlängerung erfolgt in Deutschland auf dem Hintergrund eines erheblich intensiveren und flexibleren Zeitregimes. "Deutschland ist in den 90er Jahren zu einem der Vorreiter betrieblicher Arbeitszeitflexibilisierung in Europa geworden: Nach einer im Jahre 2000 durchgeführten EU-Managementbefragung reagierten 84% der Unternehmen im deutschen verarbeitenden Gewerbe auf schwankenden Kapazitätsbedarf mit einer Anpassung der Arbeitszeiten, gegenüber 70% im EU-Durchschnitt. Insbesondere die Arbeitszeitkonten haben in Deutschland einen Boom erlebt wie in nur wenigen anderen europäischen Ländern." (Lehndorff 2003: 6)

4. Was steckt hinter dem Roll-back?

Die Offensive des Kapitals findet auf dem Hintergrund zweier aktueller Entwicklungsprozesse statt:

  Zwar ist richtig, dass sich das Kapital nie mit seiner partiellen Niederlage im Kampf um die 35-Stunden-Woche arrangiert hat und seitdem auf Revision drängt. Doch der aktuelle Druck ist Folge der langen Stagnationsperiode des beginnenden 21. Jahrhunderts. Arbeitszeitverlängerung ist eine Strategie, die Verwertung des eingesetzten Kapitals unter Bedingungen geringerer Produktivitätsfortschritte zu steigern. Unter entwickelten kapitalistischen Bedingungen ist die zügige Entwicklung der Produktivkräfte der entscheidende Ansatz zur Steigerung der Mehrwertrate. Doch dort, wo tendenziell Stagnation herrscht, entwickelt sich auch die gesamtwirtschaftliche Produktivität nur auf niedrigerem Niveau. Das führt dazu, dass die Verbilligung der Ware Arbeitskraft nur noch gebremst voranschreitet, und entsprechend bescheiden sind für das Kapital die Fortschritte in der Entwicklung der Mehrwertrate. Eine abgebremste Entwicklung der Mehrwertrate ist umso weniger in der Lage, den Fall der Profitrate aufzuhalten. Durch Arbeitszeitverlängerung können die unzureichenden Produktivitätseffekte kompensiert werden: jede Stunde unbezahlte Mehrarbeit steigert die Mehrwertrate. Und: Arbeitszeitverlängerung verringert zugleich den erforderlichen Fixkapitalvorschuss, wirkt insofern dem Fall der Profitrate entgegen. In der Stagnationskrise gewinnen Maßnahmen der absoluten Mehrwertproduktion wieder mehr Gewicht.[1]

  Hinzu kommen die arbeitszeitverlängernden Folgen der zunehmenden Entgrenzung von Arbeit im "flexiblen Kapitalismus". Flexibilisierung ist nicht mehr nur ein Ansatz der Intensivierung der Arbeit, sondern der Anpassung des Arbeitsprozesses an die Nachfrageschwankungen auf den Käufermärkten. "Die Leistungspolitik, die auf den Markt orientiert ist, hat im Prinzip kein Maß mehr, sie ist in der Tendenz schrankenlos. Damit tendiert auch die Leistungsverausgabung der Beschäftigten dazu, die noch vorhandenen tariflichen und gesetzlichen Begrenzungen zu überschreiten... Ist die Leistungsdichte bereits hoch, bleibt nur noch die Möglichkeit, Arbeitszeit zu Lasten der Lebenszeit auszudehnen." (Sauer 2004) Die Arbeitszeitregelung, die diesem Regime in höchstem Maße adäquat ist, ist die Vertrauensarbeitszeit, die sich nach Zielvereinbarungen richtet. Der Angriff auf tarifliche Arbeitszeitregulierung ist damit selbst Bestandteil der Auseinandersetzung um eine neue kapitalistische Betriebsweise.

Arbeitszeit im "flexiblen Kapitalismus" wird ihrer gesamtgesellschaftlichen oder sektoralen Bezüge entkleidet. Arbeitszeit wird individualisiert, dem einzelnen Beschäftigten oder den Arbeitsgruppen zugeschrieben. Es findet eine Verbetrieblichung der sozialen Auseinandersetzungen statt.

Das Bestreben, Gewerkschaften durch Öffnung der Tarifverträge aus der Arbeitszeitpolitik herauszukicken, ist also nicht nur Ausdruck einer generellen antigewerkschaftlichen Haltung, sondern von Veränderungen im Regulationsmodus. Die Folgen:
a) Die permanente (intensive und extensive) Überarbeit der Beschäftigten führt zu einem vorzeitigen Verschleiß der Arbeitskraft und damit zu einer erzwungenen Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Dies ist in der Vergangenheit durch diverse Vorruhestandsregelungen sozialstaatlich kompensiert worden. Deren Preis wird heute als zu teuer erachtet. Das hegemoniale politische Projekt heißt "Senkung der Lohnkosten" durch Sozialstaatsabbau.
b) Die Durchsetzung des 10- und 8-Stunden-Tages war ein Anstoß zur Entwicklung der Produktivkräfte, da bei gleichzeitiger Intensivierung und Extensivierung der Arbeit ein Knotenpunkt (MEW 23: 432) der wechselseitigen Paralysierung eintritt. Die Wirkung gesetzlicher Arbeitszeitbegrenzung als Produktivitätspeitsche spielt gegenwärtig in der Bundesrepublik (im Unterschied zur Entwicklung in Frankreich in den letzten Jahren) keine Rolle mehr. Auch im öffentlichen Sektor gehen Personalabbau und Mehrarbeit der verbliebenen Beschäftigten Hand in Hand.
c) Geht es nach der Mehrheit der politischen Klasse, dann ist die hegemoniale Auseinandersetzung zwischen Sozialstaat und Marktökonomie entschieden. Nicht "gesünder arbeiten" steht auf der Agenda, sondern "Effizienz" und "Flexibilität" gemäß den Marktanforderungen.

5. Die gesellschaftlichen Folgen der Arbeitszeitverlängerung

Die auf Flexibilisierung und Verlängerung zielende Arbeitszeitpolitik verändert das Sozialmodell des Kapitalismus.

a) Je besser die Arbeitszeiten in den Betrieben den Marktschwankungen angepasst werden ("atmende Fabrik"), umso geringer ist die Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitskräften, umso mehr findet eine Verfestigung von Massenarbeitslosigkeit auf höchsten Niveaus statt.

Je länger die Arbeitszeit – umso mehr Stress
Wochen-AZ ->B eschäftigte mit regelmäßigen Termin- und Leistungsdruck
1-34 Stunden: 35%
35-40 Stunden: 42%
41-45 Stunden: 67%
> 46 Stunden: 79%

Krank durch Überarbeit
Nervosität -> 24% (35-40 Stunden) -> 32% (> 45 Stunden)
Schlafstörungen -> 15% (35-40 Stunden) -> 25% (> 45 Stunden)
Psych. Erschöpfung -> 16% (35-40 Stunden) -> 25% (> 45 Stunden)
Magenschmerzen -> 14% (35-40 Stunden) -> 18% (> 45 Stunden)
Herz-Kreislaufprobleme -> 10% (35-40 Stunden) -> 14% (> 45 Stunden)

b) Die Beschäftigungsquote ist in Deutschland im Vergleich zu den skandinavischen Ländern sehr niedrig. Dies ist Ausdruck zum einen hoher Massenarbeitslosigkeit, zum anderen eines tradierten Modells geschlechtlicher Arbeitsteilung. Mit der erneuten Verlängerung der Arbeitszeiten wird die diskriminierende Geschlechterdifferenzierung perpetuiert – Arbeitszeitverlängerung bewirkt ebenso wie Steuerpolitik (Ehegattensplitting) und Erziehungs- und Bildungspolitik (keine verlässlichen Ganztagskindergärten und -schulen) den Ausschluss von Frauen aus dem Erwerbsleben bzw. ihre Einpferchung in kurze Teilzeitjobs.

c) "Die Planierungstendenzen im Zeitbegriff, die sich gegenwärtig zeigen, sind nicht verursacht durch ein neues kulturelles Selbstverständnis der Menschen, ein reiferes Bewusstsein von der Einheit der Zeit; sie entspringen eindeutig dem gesellschaftlichen Bedürfnis, der vergeudeten Lebenszeit der Menschen zu Leibe zu rücken und deren Zeitverfügung in die Logik von Kapital und Markt einzubinden", weshalb Negt (2001: 171) von Flexibilität als "Gegenbegriff von Kulturzeit" spricht.

"Zeitwohlstand" (Rinderspacher) ist gebunden an sichere und planbare Zeitperspektiven, damit an die Begrenzung der Imperative des Marktes, folglich an die – auch arbeitszeitpolitische – Dekommodifizierung der Arbeitskraft.

6. Sind Alternativen politisierungsfähig?

Längere Zeit hatte man einen negativen Eindruck. "Ungeachtet der Skepsis gegenüber dem ökonomischen Nutzen einer Arbeitszeitverlängerung besteht bei den Beschäftigten prinzipiell eine hohe Bereitschaft dazu. Sieben von zehn Erwerbstätigen (69%) wären bereit, ihren Beitrag in Form von ein oder zwei zusätzlichen Wochenstunden am Arbeitsplatz zu leisten, wenn dadurch Arbeitsplätze in Deutschland gesichert werden können. Lediglich drei von zehn (29%) bestehen rundweg auf der Beibehaltung ihrer jetzigen Arbeitszeit." (Infratest dimap, FR 8.11.2003) Auch innerhalb der Gewerkschaften steckt Arbeitszeitpolitik in einer tiefen Baisse. Das muss aber nicht so sein.

Individualisierung heißt nicht zwangsläufig Zerfaserung der Zeitbedürfnisse. "Die Arbeitszeitwünsche sind insgesamt homogener als die tatsächlichen Arbeitszeiten. Wer besonders lange arbeitet, möchte eher kürzer arbeiten, wer besonders kurz arbeitet, möchte eher länger arbeiten. Insgesamt zeichnet sich der Wunsch ab, kürzer zu arbeiten – im gesamteuropäischen Durchschnitt wollen die abhängig Beschäftigten knapp vier Stunden weniger arbeiten als derzeit üblich." (Bielenski u.a. 2002: 123)

Es gibt also durchaus bündelungsfähige arbeitszeitpolitische Interessenlagen. "Die Wünsche der Beschäftigten weisen in Richtung eines neuen Arbeitszeitstandards, der im Bereich (heutiger) kurzer Vollzeit oder langer Teilzeit liegt. Elemente eines neuen Arbeitszeitstandards könnten sein: der Schutz vor übermäßig langen Arbeitszeiten (Begrenzung der Arbeitszeit nach oben), die allgemeine Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit (Senkung des Vollzeitstandards), Wahlmöglichkeiten für Arbeitszeiten unterhalb des Vollzeitniveaus (verbunden mit sozialem Schutz), Förderung substanzieller Teilzeitarbeit und Abschaffung der Anreize für marginale Teilzeitarbeit (Minijobs)." (Wagner 2004)

Gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik befindet sich in einem von Widersprüchen durchzogenen Feld. Einerseits muss eine Politik der Begrenzung und Gestaltung von Lage und Verteilung der Arbeitszeit in einem Kapitalismus, der Rationalisierung in (begrenzter) Eigenregie fordert, "unmittelbarer als bisher an den Bedürfnissen und Interessen der einzelnen Beschäftigten ansetzen. Höhere Eigenverantwortlichkeit, höhere Qualifikations- und Kompetenzanforderungen enthalten auch Chancen individueller Entfaltung, die von den Beschäftigten positiv erfahren werden. Sie kommen den gewandelten Arbeits- und Erwerbsorientierungen – vor allem von Jüngeren und Höherqualifizierten – entgegen." (Sauer 2004) Andererseits erschließt die Aufwertung der betrieblichen Handlungsebene der gewerkschaftlichen Interessenvertretung zunächst jedoch kein Terrain, das zügig besetzt werden könnte. Die arbeitspolitischen Handlungsmöglichkeiten scheinen im "flexiblen Kapitalismus" vielmehr dramatisch reduziert zu sein: Marktsteuerung bis hin zum einzelnen Arbeitsplatz, betriebliche Wertrechnungs- und Steuerungssysteme, Benchmarks etc. scheinen Gestaltungsalternativen kaum noch zuzulassen.

Wie in der materiellen Verteilungspolitik sollte die Diskussion auch in der Arbeitszeitpolitik in Richtung eines Gesamtkonzepts gehen, in dem die verschiedenen Interventionsebenen aufeinander bezogen sind:

  Wichtig sind die Schnittpunkte zwischen der Tarifpolitik und dem aufgewerteten Feld der Betriebspolitik durch mehr dezentrale Einflussmöglichkeiten, verbesserte individuelle Wahlmöglichkeiten, neue Mitbestimmungs- und Kontrollrechte am Arbeitsplatz. "Den Beschäftigten selbst wird künftig eine aktive – wenn nicht die entscheidende – Rolle bei der Realisierung vereinbarter Arbeitszeitregulierung zukommen. Weil das so ist, bedarf es zunächst einer breiten Debatte über konsensfähige Leitbilder der Arbeitszeitregulierung. Nur wenn sich die Beschäftigten mit den Regelungen identifizieren, werden sie ihnen auch Geltung verschaffen." (Wagner 2004) Damit individuelle Bedürfnisse und Präferenzen zum Zuge kommen können, bedürfen sie der kollektiven Absicherung: geschützte Wahlmöglichkeiten zwischen Vollzeit- und substanzieller Teilzeitarbeit, Gleichstellung von Vollzeit und Teilzeit, Möglichkeiten, die Erwerbstätigkeit zu unterbrechen, Arbeitszeitkontenregelungen etc.

  Zum einen gilt nach wie vor, dass in Betrieben mit Betriebsrat kürzere Arbeitszeiten verteidigt worden sind; zum anderen geraten Betriebsräte durch die neuen marktorientierten Steuerungsformen und die Verbetrieblichung der sozialen Auseinandersetzungen unter Druck. "Die Betriebsräte fungieren also zunehmend als Anker der Arbeitszeitregulierung, aber das politische und institutionelle Umfeld, in dem sie agieren, bietet ihnen dafür einen schwächer werdenden Halt... Hilfreich sind Interventionspunkte, die in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen definiert werden und Situationen beschreiben, in denen der Betriebsrat ins Spiel kommen muss ('Mitbestimmungsschwellen')... Vielleicht entsteht daraus nach und nach ein neues Verständnis der Funktion und Gestaltung von Kollektivverträgen: Nicht allein als Schutzinstrument, sondern auch als Aktivierungshilfe." (Lehndorff/Wagner 2004: 24)

  Neben den gesundheitlichen Folgen von Arbeitszeitverlängerung kommt es vor allem auf die Bedeutung fixierter Regelarbeitszeiten als Referenzpunkte auch flexibler Arbeitszeitmodelle an – hängt doch daran die Unterscheidung von Normal- und Mehrarbeit. Mehr noch: Die Regelarbeitszeit ist das Scharnier zwischen Beschäftigungssystem und Sozialstaat, hängen doch daran Inanspruchnahme und Umfang der sozialstaatlichen Transfers. Und schließlich ermöglicht ein verallgemeinerter Referenzpunkt die notwendige Planbarkeit von Arbeit und Nichtarbeit. Der Zusammenhang von tarifpolitischer und sozialstaatlicher Entwicklung lässt sich positiv an den skandinavischen Ländern ablesen, wo "die Frauenerwerbstätigkeit seit den 1960er Jahren so stark angewachsen (ist), dass heute die Profile der Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern sogar im biografischen Erwerbsverlauf immer ähnlicher werden... Neben der selbstverständlichen Voraussetzung ausreichender Kinderbetreuungsangebote spielt dabei das in Skandinavien vorherrschende Individualprinzip in den Steuer- und Sozialversicherungssystemen – im Gegensatz zu den abgeleitetem Ansprüchen und anderen Formen öffentlicher Subventionierung geschlechtsspezifischer Erwerbs- und Arbeitszeitunterschiede wie in Deutschland – eine wichtige Rolle. Umfangreiche öffentliche Investitionen in den Bereich sozialer Dienstleistungen sind unverzichtbar für ein Positivsummenspiel oder gar einen Multiplikatoreffekt: Mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen sowohl die Nachfrage nach diesen Dienstleistungen als auch das Angebot an Arbeitskräften" (ebd.: 24).

Hier schließt sich der Kreis zu den eingangs erinnerten Defiziten des Kampfes für Arbeitszeitverkürzung vor zwei Jahrzehnten. Man kann der Arbeitszeitpolitik nicht die Aufgaben der Beschäftigungspolitik übertragen – damit würde man erneut scheitern. Arbeitszeitpolitik kann gleichwohl einen immens wichtigen Beitrag für eine gerechtere Verteilung der Arbeit leisten. Dann, wenn sie eingebettet ist in eine progressive Gesellschaftspolitik – oder wirtschaftspolitisch ausgedrückt: wenn sie Bestandteil einer keynesianischen Politik der Stärkung der wichtigen sozial- und bildungspolitischen Wachstumsfelder der Zukunft ist. Der Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Beschäftigung ist kein unmittelbarer, sondern ist vermittelt über das politische Mandat der Gewerkschaften.

Literatur
Bielenski, Harald / Bosch, Gerhard / Wagner, Alexandra (2002): Wie die Europäer arbeiten wollen: Erwerbs- und Arbeitszeitwünsche in 16 Ländern. Frankfurt a.M.
Hensche, Detlef (1985): Aktive Gegenwehrt. Arbeitszeitverkürzung gegen Wendepolitik, in: Ferlemann, Erwin / Janßen, Hans u.a.: Existenz sichern, Arbeit ändern, Leben gestalten. Hamburg, S. 81-93.
Janßen, Hans / Lang, Klaus (1985): Überwintern oder Überleben? Gewerkschaftspolitische Schlussfolgerungen aus dem Arbeitskampf um Arbeitszeitverkürzung, in: Ferlemann / Janßen, a.a.O., S. 7-37.
Lehndorff, Steffen (2003): Wie lang sind die Arbeitszeiten in Deutschland? IAT-Report 2003-07, www.wissentransfer.info
Lehndorff, Steffen (2004): Zurück zur 40-Stunden-Woche? In: WSI-Mitteilungen, S. 306-312.
Lehndorff, Steffen / Wagner, Alexandra (2004): Arbeitszeiten und Arbeitszeitregulierung in Deutschland, in: Bsirske, Frank / Mönig-Raane, Margret / Sterkel, Gabriele / Wiedemuth, Jörg (Hrsg.): Es ist Zeit. Das Logbuch für die ver.di-Arbeitszeitinitiative, Hamburg (im Erscheinen).
Negt, Oskar (2001): Arbeit und menschliche Würde, Göttingen.
Sauer, Dieter (2004): Arbeiten ohne (Zeit-)Maß. Über den Zusammenhang von Arbeitszeit-, Leistungs- und Beschäftigungspolitik, www.wissentransfer.info Ordner: Arbeitszeit.
Wagner, Alexandra (2004): Im Rückwärtsgang zur 40-Stunden-Woche. Tatsächliche und gewünschte Arbeitszeiten und wie man sie in Übereinstimmung bringen kann, www.wissentransfer.info Ordner: Arbeitszeit.

Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus und Mitarbeiter von WISSENTransfer; Jörg Köhlinger ist Gewerkschaftssekretär in der Bezirksleitung Frankfurt der IG Metall, zuständig für den Arbeitsbereich Wirtschafts- und Strukturpolitik/Betriebspolitik.

[1] "Es ist klar, ... daß die Tendenz zur Verminderung der Profitrate namentlich geschwächt wird durch Erhöhung der Rate des absoluten, aus Verlängerung des Arbeitstags stammenden Mehrwerts." (K. Marx, Das Kapital, 3. Bd., MEW 25, S. 244, Berlin 1971)

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