24. Februar 2011 Winfried Wessolleck: Kapitalistische Deformation der Nahrungskette

Der Dioxinskandal und ein neoliberalindustriehöriger Aktionsplan

Wenige Tage vor Weihnachten 2010 sickerten erste Nachrichten von einem »neuen Dioxin-Skandal« (Dioxingifte in Futtermitteln) an die Öffentlichkeit. Eine denkbar ungünstige Terminlage für landwirtschaftliche Katastrophenmeldungen, gilt doch Weihnachten hierzulande als das Fest der Freude, des Friedens und der Ankunft des christlichen »Retters der Welt«, einer Welt, die von global operierenden Finanzspekulanten, Chemie- und Agrokonzernen immer mehr als ein toxikologisches »Großraumlabor« missbraucht und – ohne Rücksicht auf Staats- und kontinentale Grenzen – vergiftet wird.

Weshalb die neoliberal konfirmierten Parteigänger der deutschen (Weihnachts-)Ideologie – verkörpert von Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU), der schwarz-gelben Konzern-Regierung und den bürgerlichen Massenmedien – ebenso schnell wie gleichgültig für die öffentliche Verdrängung und Vertagung des neuesten Dioxin-Gifthorrors sorgten. Die feierliche Rücksichtnahme war nur von kurzer Dauer, denn gleich zu Beginn des neuen Jahres geriet der Futtermittel-Giftskandal zum »Paukenschlag«, er wurde zum innen- und ernährungspolitischen Hauptthema aller Medien, drang in den Lebens- und Ernährungsalltag der Menschen ein und demontierte, wahrscheinlich endgültig, das geschenkte Vertrauen von Millionen von KonsumentInnen in vermeintlich giftfreie Tierprodukte und Lebensmittel. Dioxinverseuchte Eier, Brathähnchen, Puten und Enten, in deren »schmackhaftem« Fleisch sich Dioxinrückstände verbergen, Schweineschnitzel von denselben Tieren, die in industrieller Massentierhaltung vegetierend mit pestizidverseuchtem Kraftfutter gemästet werden – Nein danke!

Dass der land- und futtermittelwirtschaftliche Dioxin-Skandal sich gleichsam zu einem regierungspolitischen (Re-)Aktionsskandal verdoppelte, ist wirklich bestürzend und offenbart eine politische Krisendramatik, in der sich exakt widerspiegelt, wie abgehoben, konzeptionslos und technokratisch routiniert die Regierenden samt der von ihnen geleiteten Ministerialbürokratie im »Berliner Raumschiff« auf die reale landwirtschaftliche Dioxin-Katastrophe reagierten. Tagelang war von der Verbraucherschutzministerin nichts zu hören, klärende Abstimmungsgespräche und die Kleinarbeitung des katastrophalen Dioxin-Skandals mit der stramm konservativen Agrar- und Futtermittellobby hatten erkennbar Vorrang. Als die Ministerin endlich vor die Presse und die gespannte Öffentlichkeit trat, fanden vorher zirkulierende Spekulationen und Vermutungen ihre empirische Bestätigung, dass Frau Aigner mit dem staatspolitischen Krisenmanagement des Dioxin-Skandals ersichtlich überfordert war. Die Vorstellung ihres politisch kurzatmigen, perspektivisch-strategisch völlig unzureichenden und einseitig rechtsfixierten »Krisenmanagements«, das sie in einem zehn Punkte umfassenden »Aktionsplan Verbraucherschutz in der Futtermittelkette« feilbot, fiel eher blamierend aus und trägt, wie sich zeigt, unverkennbar die Handschrift der großindustriellen Futtermittel- und Agrarlobby.

Die Landwirtschaft im chlorchemischen Gift-Profit-System

Der gegenwärtige Dioxin-Skandal ist ein weiterer schlagender, mehr noch: dramatischer Beweis dafür, dass einmal in die außermenschliche Natur (Biosphäre, Wasser, Boden, Luft/Atmosphäre) freigesetzte Dioxine und Furane (zwei chlorierte Ultragifte der Kohlenstoffchemie) eine ubiquitäre Langzeitwirkung als hochtoxische, biozide und umweltpathologische Systemgifte in der Tier- und Pflanzenwelt, der Land- und Futtermittelwirtschaft und beim letzten Glied in der Nahrungspyramide, dem menschlichen Organismus, entfalten.

Vor diesem thesenartig benannten umwelttoxikologischen Problemhintergrund, der sich hier auf die exponierte Vergiftung von tierischen Futtermitteln mit Dioxin bezieht, kann deutlich gemacht werden, dass die Quellen, die Ursachen (und Verursacher) und die Eintragswege des extrem giftigen Dioxins (Mengen im Pikogrammbereich 1 x 10-12 g = 1 trillionstel Gramm) äußerst vielfältig, d.h. nur in subtiler Sucharbeit zu finden und einzugrenzen sein können. Im aktuellen Fall der Futtermittelvergiftung ist zumindest in Erwägung zu ziehen, dass die natürlich viel zu spät festgestellte Dioxin-Kontaminierung der ausgelieferten Mischfuttermittel nicht allein durch die importierten und verarbeiteten Mischfettsäuren verursacht wurde. Ebenso wäre zu prüfen, ob der chemische »Fingerabdruck« von Rückständen einer Chlorphenolverbindung stammt, wie sie als Pflanzenschutzmittel in der Landwirtschaft häufige Anwendung findet (siehe foodwatch paper vom 12.1.2011). Dann wären nämlich nicht die verarbeiteten Mischfettsäuren die Ursache der Dioxin-Kontaminierung, sondern chemische Pflanzenschutzmittel, in deren chlorierten Substanzen das Ultragift Dioxin als Neben- und Reaktionsprodukt, wahrscheinlich ohne eine Produktionsabsicht, mit enthalten ist. Eine unerkannte Dioxin-Kontamination kann, was ebenso denkbar und möglich ist, durch chlorierte Chemikalienreste, die sich in damit verschmutzten Futtersilos, Lagerhallen und Transportbehältern von LKWs befunden haben, erfolgt sein. Das heutzutage in der industrialisierten Landwirtschaft eingesetzte Futter ist zudem ein Mischfutter, das verschiedene Zusatzstoffe, Mineralien, Vitamine, pflanzliche und tierische Fette enthält. Von diesen Futterbestandteilen kann jeder einzelne Naturstoff oder synthetisierte Zusatzstoff, vor allem aber die genannten Fettstoffe, während seiner bzw. ihrer Produktionsphase, Weiterverarbeitung, selbst Lagerung und Transportierung von winzigen Dioxinspuren kontaminiert und hochgradig vergiftet worden sein.

Der heutige Bauer oder Landwirt produziert und versorgt seine Tiere nicht mehr mit eigenen Futtermitteln (Gras, Heu, andere Pflanzenprodukte). Futtermittelfabriken, die harte Branchenkonkurrenz betreiben, produktionskostensenkend und profitoptimierend arbeiten, haben die Herstellung, den Vertrieb (globaler Import/Export) und die Verteilung der Futtermittel und ihrer Mischfutter-Zusatzstoffe übernommen. Diese arbeitsteilige, global und europaweit strukturierte Produktionsform und Herstellungspraxis der Futterbestandteile stellt eine Enteignung der bäuerlichen Selbstversorgung mit selbst produzierten Futtermitteln, ihrer futterstofflichen Zusammensetzung, Qualität und Kenntnis dar!

Für dieses industriell-arbeitsteilige, warenproduzierende, naturindifferente und rein quantitativen Produktions- und Wachstumsimperativen folgende Futtermittel-Herstellungssystem, das den Gesetzen und Irrationalitäten kapitalistischer Verwertung, Expansion, Markteroberung etc. unterworfen ist, sind gerademal 200 staatliche Futtermittelkontrolleure bundesweit tätig (Futtermittelkontrolle ist Aufgabe der Länder). Selbst wenn es 3.000 amtliche Kontrolleure gäbe, so könnten sie maximal immer nur Futtermittel-Stichproben nehmen. Eine flächendeckende, kontinuierliche toxikologische Rückstandsanalytik und -bewertung von Futtermitteln und landwirtschaftlich erzeugten Lebensmitteln wie z.B. Eier ist mit diesem Kontrollsystem nicht einmal ansatzweise gewährleistet.

Die Aufdeckung und Diagnose der chlorchemisch induzierten Systemkrankheit der kettenförmigen Dioxinvergiftung (von Mischfuttermitteln nicht abbaubare, den tierischen und menschlichen Organismus schleichend oder akut vergiftende Dioxine der Chlorchemie) ist eine mehrfaktorielle und systembedingte, beruhend auf:

  1. dem völlig ungenügenden staatlichen Kontrollapparat,
  2. dem kritikwürdigen, drastisch zu reduzierenden Einsatz bekannter und neuer chlororganischer Pflanzenschutzchemie (Insektizide, Herbizide, Fungizide),
  3. global verschlungenen, unübersichtlichen Herstellungsorten und Lieferwegen der Futterbestandteile und Zusatzstoffe wie z.B. dioxinverseuchte Mischfettsäuren,
  4. und – nicht zuletzt – herstellendem Fehlverhalten, vorsätzlicher Verschleierung und kriminellen Manipulationen (Verdünnung flüssiger Zusatzstoffe), mit denen gefährliche Gifte im Mischfutter »gestreckt«, unter den zugelassenen Gift-Grenzwert gedrückt oder gar toxikologisch »unerkennbar« gemacht werden können.

Damit sind wesentliche, systemisch wirkende, von Profit- und Marktinteressen dominierte Wirkungs- und Handlungsfaktoren benannt, die in ihrem verschleiernden, betrügerischen bis kriminellen Zusammenspiel elementare gesundheitliche Verbraucherinteressen und Reproduktionsbedürfnisse, nämlich schadstofffreie, gesundheitlich verantwortbare Tierprodukte und Lebensmittel zu konsumieren, hintergehen und auf schwerste Art und Weise beschädigen.

Von Tätern und Mitwissern im Dioxin-Skandal

Im skandalproduzierenden, mafiaähnlich operierenden Epizentrum des »Dioxin-Skandals« steht der Futtermittelhersteller Harles & Jentzsch in Uetersen/Schleswig-Holstein. Diese Firma ist eine der »großen« in der Futtermittel-Branche, sie verarbeitet und handelt u.a. mit Futterfetten, die an andere Futtermittelhersteller verkauft werden. Diese verwenden die gekauften Futterfette für ihre eigenen Mischfutterproduktionen, die dann in mehrfacher Tonnengröße an die Bauernhöfe, Massentierfabriken und landwirtschaftliche Großbetriebe geliefert werden.

Am 4. Januar 2011 veröffentlichte das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit die Skandalnachricht, dass Harles & Jentzsch Fettsäuren von dem niederländischen Unternehmen Petrotec, ein Biodieselhersteller, erhalten und zur unzulässigen Weiterverarbeitung zu Futterfetten verwendet habe. Die gelieferten Fettsäuren des Biodieselproduzenten waren aber nicht für die Weiterverarbeitung zu oder in tierischen Futtersubstanzen, sondern ausschließlich als Schmiermittel für technische Anwendungszwecke im Industriesektor bestimmt – bestätigte unter Hinweis auf schriftliche Lieferverträge ein Pressesprecher von Petrotec. Er nannte die wissentliche bzw. mit Absicht vorgenommene Zweckentfremdung technischer Fettsäuren in der Futtermittelherstellung eine »kriminelle Handlung«.

War erst die Rede von 530 Tonnen mit technischen Fettsäuren vermischter Tierfutterfette, die an sieben weiterverarbeitende Futterbetriebe in Niedersachsen, NRW, Hamburg und Sachsen-Anhalt geliefert worden waren, so waren diese Liefermengen von Futterfetten nur die berühmte »Spitze des Eisbergs«, möglicherweise nicht einmal diese. Diese vorab erfolgte Einschätzung wurde sodann von der ermittelnden Staatsanwaltschaft Itzehoe im Rahmen angelaufener Strafermittlungen wegen Verstoßes gegen das Lebensmittelrecht, Betrug und Steuerhinterziehung etc. schnell bestätigt: Das offensichtlich glänzend laufende Mafia- und Tierfutterverfälschungs-Geschäft, das Harles & Jentzsch nach behördlichem Kenntnisstand wahrscheinlich schon seit dem 1. Quartal 2010 (oder seit Jahren?) betrieb, hatte weitaus umfangreichere, noch erschreckendere Produktions- und Vergiftungsdimensionen. Allein in den vergangenen zwei Monaten (November u. Dezember 2010) soll der gemeingefährliche, kriminelle Futtermittel-Vergifter mindestens 3.000 Tonnen dioxinkontaminierter Mischfutterfette in den Geschäftsverkehr gebracht haben. Diese enorme Tonnenquantität wurde an 25 Futtermittelhersteller in mehrere Bundesländer – darunter alle Länder im Osten der BRD, NRW, Hessen und Niedersachsen – geliefert. Einem Bericht des Bundeslandwirtschaftsministeriums zufolge wurde das verseuchte Futterfett von den belieferten Betrieben in ratenweiser Mengendosierung von 2 bis 10 Prozent in das Tierfutter für Mastgeflügel, Legehennen und Schweine eingemischt. Nach einer annähernden Berechnung könnten also insgesamt 150.000 Tonnen Tierfutter als verfütterte Futtermengen mit dem so »gestreckten« Dioxingift kontaminiert worden sein (die junge Welt vom 5./6.1.2011 publizierte dazu zwei Beiträge).

So gelangten die naturfremden, biologisch unverdaulichen und krebsinduzierenden Dioxin-Horrorgifte in die mehrstufige, verzweigte Futtermittelproduktion und unvermeidlich in die landwirtschaftliche Nahrungskette, landeten in den Futtertrögen der Legehennen und Schweine, in allen Massentierfabriken und – mit eherner ernährungsphysiologischer Konsequenz – schließlich im Frühstücksei, Puten- und Schweineschnitzel der tief empörten und sehr verunsicherten EndverbraucherIn. Nachdem die Dioxin-Giftfunde in den Landwirtschaftsprodukten und Lebensmitteln bereits gesamtgesellschaftlichen Informationswert (eher noch Besorgnis- und Angstwert) hatten, reagierten die zuständigen Länderbehörden, wenn auch reichlich verspätet, dann plötzlich mit geballter Kontrollmacht nach dem Feuerwehr-Prinzip: Mehrere Tausende von Legehennenbetrieben und Tiermastfabriken überwiegend in Ost- und Westdeutschland wurden (vorsorglich) gesperrt und unter amtliche Beobachtung gestellt. Im verabreichten Tierfutter, in eingesammelten Tierprodukten, Hühner- und Schweinefleisch wurde nach Dioxin-Giften »gefahndet«; wurden keine auffälligen Gifteinträge bzw. keine Überschreitung des zulässigen Dioxin-Grenzwerts festgestellt, gaben die Landesbehörden und ihre chemischen Analyseinstitute erstmal Entwarnung und die Quarantäne oder Sperre der Landwirtschaftsbetriebe wurde aufgehoben.

Aigners »Aktionsplan« – Rhetorik und Ankündigungen

»Je schockartiger die industriellen Selbstgefährdungen (wie der Dioxin-Skandal, W.W.) öffentlich bewusst werden, desto wichtiger wird es, das, was systembedingt erzeugt wird, nicht als systembedingt erscheinen zu lassen – unter Nutzung aller Mittel demonstrativer Aktivitätsschaumschlägerei.« (Beck 1988: 105) Das ist eine krisensoziologische und ökopolitische Leitthese, die geeignet ist, um das politisch-reaktive Verhalten, die rechtliche Regelungs-Technokratie und den kurzatmigen Aktionismus (eine ohnehin schwache »Aktivitätsschaumschlägerei«) der Landwirtschaftsministerin in ihrem neoliberal depravierten »Abwehrkampf« gegen den Dioxin-Skandal zu charakterisieren und zu kritisieren.
Unter der Überschrift »Sicherheit und Transparenz – Aktionsplan Verbraucherschutz in der Futtermittelkette« stellte die Verbraucherschutzministerin ihren 10-Punkte-Plan der Öffentlichkeit am 14.1.2011 vor. Die grundsätzliche agrarpolitische Charakterisierung und Kritik dieses »Aktionsplans« wird prinzipiell betonen müssen, dass dieser Aktionsplan

  1. eine vollkommen verspätete Reaktion auf die seit Jahren sich häufenden Gift- und Lebensmittelskandale in der Landwirtschaft, der Futtermittelherstellung und der Lebensmittelüberwachung ist;
  2. ein Maßnahmenpapier der verbraucherpolitisch-normativen Ankündigungen ist, bei denen Anspruch und Wirklichkeit (Kernziele: eine giftfreie, ökologische Landwirtschaft, gesellschaftlich-rationale Ernährungsbasis, gesunde Tierprodukte und Lebensmittel) noch weit auseinanderklaffen und zu befürchten ist, dass die nicht untätige Agrar- und Futtermittellobby selbst dieses technokratische Regelwerk stark beeinflussen und verwässern wird;
  3. ein technokratisch-rechtliches Stückwerk-»Konzept« ist, das auf die exponierten toxikologischen, ökologischen und verbraucherpolitischen Krisensynergismen, Struktur- und Umbauprobleme der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion nicht nur im nationalen, sondern im europäischen und globalen Problemzusammenhang keine hinreichenden und überzeugenden Antworten gibt (rechtlicher Voluntarismus, politischer Neoliberalismus und Sir Poppers liberal-partikularistische Stückwerkideologie lassen grüßen).

Die Inhaltsanalyse und -kritik des »Aktionsplans«, dessen Punktekatalog die Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe, Trennung der Produktionsströme, d.h. Trennung der Produktion von Futterfetten und technischen Fetten (eigentlich eine selbstverständliche, strikt zu beachtende Trennungspraxis), Ausbau toxikologischer Futtermittelkontrollen über ein Dioxin-Monitoring bis hin zur Erhöhung der Transparenz für Verbraucher umfasst, wird sich hier auf die wesentlichen neuralgischen Kritikpunkte, Konzeptdefizite und Umsetzungsprobleme konzentrieren.

Im äußerst wichtigen operativen Kernpunkt des Aktionsplans heißt es: »BMELV (das Bundesverbraucherministerium, W.W.) wird die Eigenkontrolle durch rechtliche Vorgaben untermauern und vorschreiben, dass Betriebe bei Futtermitteln eine Eingangsuntersuchung auf Dioxine, dioxinähnliche PCB (...), wie z.B. persistente chlorierte Kohlenwasserstoffverbindungen oder bestimmte natürliche Toxine durchführen müssen.« (Aktionsplan, S. 4) Genau das fordert die »kleine«, öffentlich und fachpolitisch unüberhörbare Verbraucherschutzorganisation foodwatch bereits seit mehreren Jahren, nämlich die Futtermittelhersteller zu verpflichten, dass jede einzelne Charge der Futtermittelzutaten (wie oben genannt) auf Dioxine zu untersuchen sind. Das muss in dieser getrennten Bearbeitungs- und Kontrollfolge geschehen, d.h. bevor die einzelnen Futterbestandteile zu Mischfutter verarbeitet werden, weil es anders keinen toxikologisch-analytischen Sinn macht. Wenn Frau Aigner aus den zurückliegenden (sich wiederholenden) Vergiftungsskandalen und dem aktuellen Dioxin-Skandal echte präventive Lehren zieht, dann »darf es dieses Mal keine Kompromisse mit der Futtermittellobby geben und keine weitreichenden Ausnahmen, die die Test-Pflicht löchrig machen.« (foodwatch Mitteilung vom 14.1.2011) Aber genau diese Ausnahmen, die wiedermal ein vorauseilendes Zugeständnis an die Agrarlobby sind, werden jedoch im Aktionsplan »festgeschrieben«: »Von der Untersuchungspflicht sollen solche Futtermittel ausgenommen werden, die als risikoarm einzustufen sind.« (Aktionsplan, S. 4)

Mit Punkt 5, in dem es um die »Futtermittel-Positivliste« geht, werden »offene Scheunentore« eingerannt, denn hierzulande gibt es diese längst. Auf EU-Ebene gibt es eine solche »Positivliste« allerdings noch nicht. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass weder die bestehende Positivliste noch das so genannte Qualitätssicherungssystem (QS-System) der Futtermittelbranche diesen jüngsten Dioxin-Skandal verhindert haben. Gegen ein ausgebautes »Dioxin-Monitoring«, das als »Frühwarnsystem« (Punkt 8) fungieren soll, werden sich keine Einwände erheben, dies aber nur unter der wissenschaftlich-materiellen Voraussetzung, dass die in Deutschland randständigen und vernachlässigten Disziplinen der Umwelt- und Biotoxikologie die ganz dringend notwendige gesellschaftliche, staatliche und universitäre Aufwertung, finanzielle Förderung und materiell-finanzielle Forschungsausstattung erfahren bzw. bekommen (mehr Toxikologen, Studiengänge, Lehrangebote, Forschungsprojekte für Umwelttoxikologie, Umwelt- und Arbeitsmedizin etc.). Dioxin-Monitoring darf nicht nur Datensammlungs- und Berichtstechnik sein, sondern erfordert besondere wissenschaftliche Theorie- und Forschungsansätze und Interpretationsfähigkeiten, in denen toxikologisch-chemische, biologische und sozial-ökologische Fachkenntnisse, Empirie und transdisziplinäres Kontextwissen systematisch (synthetisch) zusammenfließen.

Unter Punkt 10 wird die Novellierung des Verbraucherinformationsgesetzes (VIG) angekündigt, um »Konsequenzen aus dem aktuellen Dioxin-Geschehen (zu) ziehen«. Diese Terminologie (»Dioxin-Geschehen«) ist ebenso verharmlosend wie verdummend und zeugt von einer kritikwürdigen ministeriellen Naivität, Sorglosigkeit und Unwissenheit über die biotoxikologisch katastrophalen Dioxin-Ereignisse, die es in diesem Land nicht erst seit ein paar Wochen gibt.

Und wer ausschließlich in rechtlichen (und juristischen) Kategorien denkt und von »Rechtsverstößen durch Grenzwert überschreitungen« spricht, der hat die real wirksamen toxikologisch-biologischen, gesundheitlichen und zeitextensiven Gefahrensyndrome, Dauerrisiken und Akutgefährdungen für Tiere, Pflanzen und Menschen durch die Dioxin-Dauervergiftung überhaupt nicht begriffen. Die bestürzten, fragenden und nachdenkenden VerbraucherInnen wollen nicht nur wissen, »welche Lebensmittel mit unzulässigen Schadstoffen belastet sind«, um mit diesen Giftinformationen »gefüttert«, eher aber unwissend oder desinformiert ihre eigene gesundheitliche Selbstgefährdung, toxisch-bedingte Erkrankungsgefahr und die ihrer Kinder, sogar der noch ungeborenen Nachkommen, zu betreiben – im »Idealfall« mit dem novellierten VIG in den Händen. Sie wollen – und das mit dem gebotenen gesundheits- und verbraucherpolitischen Nachdruck – von der Verbraucherschutzministerin und ihrem Ministeriumsstab endlich wissen, wann sie ihre industriehörige, gesellschaftlich nicht mehrheitsfähige Interessenpolitik der Agrar- und Lebensmittelindustrie aufgibt, um eine gesamtgesellschaftliche, ökonomisch und ökologisch verantwortungsvolle Ernährungs- und VerbraucherInnenpolitik zu konzipieren und durchzusetzen, die diesen gesellschaftlich legitimen ethisch-moralischen Namen wirklich verdient.

Literatur
Beck, Ulrich (1988): Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt/M.
Bultmann, Antje/Schmithals, Friedemann (Hrsg.) (1994): Die käufliche Wissenschaft. Experten im Dienst von Industrie und Politik. Mit einem Vorwort von Carl Amery, München
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 14.1.2011: Sicherheit und Transparenz – Aktionsplan. Verbraucherschutz in der Futtermittelkette, 12 Seiten
Carson, Rachel (1968): Der stumme Frühling, München
Friege, Henning/Claus, Frank (Hrsg.) (1988): Chemie für wen? Chemiepolitik statt Chemieskandale. Mit Beiträgen von Andreas Borgmann u.a., Reinbek b. Hamburg
Henseling, Karl-Otto (2008): Am Ende des fossilen Zeitalters. Alternativen zum Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen, München
Reichl, Franz-Xaver (2008): Taschenatlas der Toxikologie. Substanzen – Wirkungen – Umwelt, 2. aktualisierte Auflage, Hamburg
Robin, Marie-Monique (2010): Mit Gift und Genen. Wie der Biotech-Konzern Monsanto unsere Welt verändert, München
Schmidt, Götz/Jasper, Ulrich (2001): Agrarwende oder die Zukunft unserer Ernährung, München
Schöndorf, Erich (1998): Von Menschen und Ratten. Über das Scheitern der Justiz im Holzschutzmittel-Skandal, Göttingen
Wassermann, Otmar/Alsen-Hinrichs, Carsten/Simonisi, Udo-Ernst (1990): Die schleichende Vergiftung. Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht, Die Notwendigkeit einer unabhängigen Umwelttoxikologie, Frankfurt/M.
Wassermann, Otmar (1994): Fälschung und Korruption in der Wissenschaft; in: Bultmann, Antje/Schmithals, Friedemann, a.a.O., S. 196-268

Winfried Wessolleck arbeitet als Sozialwissenschaftler und Wissenschaftsjournalist in Berlin.

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