25. April 2019 Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

Der gesetzliche Mindestlohn und die Folgen für das Tarifsystem

Am 1. Januar 2015 wurde in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde eingeführt. Heute, im fünften Jahr und nach zwei Anhebungen, zunächst auf 8,84 Euro, dann Anfang 2019 auf 9,19 Euro, kann eine Einschätzung der Folgen aus Sicht der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gezogen werden.

Die prognostizierten Vorteile eines gesetzlichen Mindestlohns haben sich bestätigt:

  • Die Tarifverträge wurden angepasst. Die untersten tariflichen Entgelte wurden nahezu flächendeckend auf Mindestlohnhöhe und darüber hinaus angehoben. Wo das nicht der Fall ist, gelten inzwischen die Mindestlohnsätze statt verbliebener niedrigerer Tarife.
  • Das Tarifsystem hat sich stabilisiert. Betriebliche Erpressungssituationen – entweder werden die unteren Entgelte weiter abgesenkt oder der Bereich wird ausgelagert bzw. privatisiert – gibt es weniger. Stattdessen wurden die Tarife der untersten Tarifgruppen überdurchschnittlich erhöht.
  • Einen bezifferbaren Arbeitsplatzabbau – das vorhergesagte Szenario der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik – hat es nicht gegeben. Der Nachfrageschub durch höhere Niedriglöhne hat eher konjunkturstützend gewirkt.

Doch weiter gehende Erwartungen haben sich nicht erfüllt:

  • Die im MEMORANDUM 2016 geforderten Verbesserungen der Mindestlohnregelungen sind nicht erfolgt. Es gab keine Zurücknahme der Ausnahmen (Jugendliche unter 18 Jahren, Langzeitarbeitslose) und keine Erhöhung der Kontrolldichte hinsichtlich der Einhaltung des Mindestlohns. Daher gibt es nach wie vor viele faktische Unterschreitungen.
  • Statt höhere Löhne zu zahlen, wurden vor allem bei geringfügig Beschäftigten die Arbeitszeiten verkürzt, um die zu zahlende Lohnsumme gleich zu halten (so Jan Zilius, Vorsitzender der Mindestlohn-Kommission).
  • Die Erhöhung der Mindestlohnsätze vollzog lediglich die Preissteigerungsrate und die Reallohnentwicklung allgemein nach. Eine darüber hinausgehende Niveauanhebung des Mindestlohns fand nicht statt.
  • Gleichzeitig wurden auch geforderte und medial hochgejazzte Verschlechterungen abgewehrt. Dazu gehörten die Aufweichung der Dokumentationspflichten und Ausnahmen für Flüchtlinge sowie für Asylbewerber*innen.

Der Mindestlohnsatz von aktuell 9,19 Euro ist weit davon entfernt, gegen Armut zu schützen. Das gilt sowohl für die »working poor« als auch in Bezug auf eine auskömmliche Rente. 12,63 Euro müsste ein Stundenlohn betragen, um eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu erhalten. Der gegenwärtige Mindestlohn liegt auch deutlich unterhalb der Niedriglohnschwelle (zwei Drittel des Medianlohns). Das waren 2014 zehn Euro pro Stunde, heute sind es mehr als elf Euro.

Viele Kräfte in Politik und Zivilgesellschaft haben sich inzwischen auf die Forderung nach einem Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde festgelegt.

Auszug aus: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum 2019. Alternativen der Wirtschaftspolitik. Köln: Papyrossa Verlag, Mai 2019. Kapitel 7 (gekürzt). Wir bedanken uns bei den Autor*innen und dem Verlag für die Genehmigung zum Vorabdruck.

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