1. September 2000 Jay Mazur

Der neue Internationalismus der Gewerkschaften

Die aufflammenden Proteste, die das Treffen der WTO in Seattle im letzten November begleiteten, haben gezeigt, wie wichtig Themen wie Globalisierung und Handel für die arbeitende Bevölkerung Amerikas sind. Zusammen mit Umweltschutzorganisationen, VerbraucheranwältInnen und MenschenrechtsaktivistInnen hätte die Botschaft der Arbeiterbewegung nicht klarer sein können: Die Ära der geheimen und von geschützten Eliten ausgemachten Handelsabkommen, die ihre konkurrierenden kommerziellen Interessen hinter verschlossenen Türen abwägen, ist vorbei. Die Globalisierung ist an einem Wendepunkt angekommen.

Die Zukunft ist ein hart umkämpftes Feld politischer Entscheidungen, die die Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts prägen werden. Die Kräfte hinter dem globalen ökonomischen Wandel – die die Deregulierung vorantreiben, die den Konzernen dienen, die die sozialen Strukturen unterhöhlen und die die Bedenken der Bevölkerung ignorieren – können nicht konserviert werden. Globalisierung hinterlässt gefährliche Instabilitäten und zunehmende Ungleichheit. Sie schadet zu vielen und nützt zu wenigen. Wie Präsident Clinton selber sagte, muss der globale Markt den arbeitenden Familien etwas bringen, wenn er überleben will. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre es, wenn Arbeitnehmerrechte, Umweltschutzbestimmungen und soziale Standards in Handelsabkommen eingebaut und mit derselben Energie verteidigt würden, wie das bisher nur bei Eigentumsrechten üblich war.

Die Anliegen der Gewerkschaftsbewegung werden häufig als protektionistisch, engstirnig und abgehoben von der Realität der globalen Ökonomie karikiert. Dies ist ein gefährliches Missverständnis. Verwechselt man das Interesse der Arbeiter an Gerechtigkeit mit zunehmendem Isolationismus, wird die Durchführung der notwendigen Reformen nur verhindert. Handelspolitik, die die Rechte und Bedürfnisse der abhängig Beschäftigten ignoriert, bedeutet Rückschritt für die ganze Welt. Das Stimmengewirr in den Straßen von Seattle repräsentiert die Herausforderung der Zukunft, nicht die Verklärung der Vergangenheit. Die DemonstrantInnen stellten sich eine Welt vor, in der der Wohlstand auch unter denjenigen geteilt wird, die ihn produzieren, in der die Länder einander sowie die Erde und ihre Menschen mit Respekt und Würde behandeln. Sie verlangten Rechenschaft von den Mächtigen und eine Stimme für die Stimmlosen. Solcher Idealismus hat praktische Auswirkungen. Geteilter Wohlstand vergrößert die Kaufkraft der ArbeiterInnen und schafft neue Nachfrage, um diejenigen Überkapazitäten abzubauen, die gegenwärtig für die Rezession auf den globalen Märkten verantwortlich sind. Die fragilen Institutionen der sich herausbildenden globalen Ökonomie werden durch eine demokratische Fassade gestützt, wenn der arbeitenden Bevölkerung am ökonomischen und politischen Verhandlungstisch ein Platz eingeräumt wird. Wie John Gray, ein ehemaliger Berater von Margaret Thatcher es formulierte, sind der globale Markt und Freihandel keine naturgegebenen Phänomene, sondern »Resultat von Sozialtechnik und hartnäckigem politischen Willen«. Der Versuch, ein derartiges System beibehalten zu wollen, muss unweigerlich eine demokratische Antwort hervorzubringen.

Die dunkle Seite der Globalisierung

Tragischerweise werden viel zu viele arbeitende Menschen zu VerliererInnen der neue ökonomische Weltordnung. Der UN Development Report dokumentiert, wie die Globalisierung Ungleichheit in den Nationen ebenso wie zwischen ihnen dramatisch vergrößert hat – während sie gleichzeitig die Menschen mehr denn je zuvor miteinander in Kontakt bringt. Eine Welt, in der die Vermögenswerte der 200 reichsten Menschen größer sind als das gemeinsame Einkommen von mehr als 2 Milliarden Menschen am anderen Ende des ökonomischen Spektrums, sollte jeden und jede nachdenklich stimmen. Solche Inseln konzentrierten Reichtums in einem Meer des Elends waren historisch schon immer ein Vorbote des Aufruhrs.

Die Früchte der Weltwirtschaft werden von der unverhältnismäßig kleinen Anzahl von Ländern und Konzernen geerntet, die die Regeln diktieren und den Markt gestalten. Der Großteil der Investitionen und des Handels findet zwischen den industrialisierten Nationen statt und wird von transnationalen Unternehmen beherrscht, die ein Drittel der Weltexporte kontrollieren. Unter den 100 größten Ökonomien der Welt befinden sich 51 Konzerne. Private Finanzströme haben schon seit langem die Entwicklungshilfe überholt und sind erstaunlich konzentriert: 80% der ausländischen Direktinvestitionen in Entwicklungs- und Schwellenländer flossen in gerade einmal 20 Länder, das meiste davon nach China.

Zunehmender Handel hat nicht annähernd zu gleichmäßigem Wachstum geführt. Zwischen 1980 und 1996 haben es nur 33 Länder geschafft, ein jährliches BSP-Wachstum von 3% pro Kopf zustande zu bringen; in 59 Länder nahm es ab; 80 Länder haben heute ein niedrigeres BSP als vor einem Jahrzehnt. Und entgegen landläufigen Erwartungen sind diese zurückfallenden Länder häufig am stärksten in den Welthandel integriert. Das Afrika südlich der Sahara beispielsweise hat gemessen am BSP eine höhere Exportrate als Lateinamerika, allerdings exportiert es hauptsächlich Grundstoffe, so dass diese Länder für die Volatilität der Märkte besonders anfällig sind. Die neue Africa Trade Bill – vom Kongress ohne Bestimmungen über den Schuldenerlass oder Maßnahmen zur Einhaltung von Arbeitsrechten und Umweltstandards verabschiedet – bietet kaum mehr als alten Wein in neuen Schläuchen.

Millionen ArbeiternehmerInnen verarmen in einer Weltwirtschaft, die die traditionellen Ökonomien zerstört und die Fähigkeit der Regierungen, ihnen beizustehen, deutlich schwächt. Sie sind sich selber überlassen und müssen gegen Elend, Hungersnöte und Seuchen kämpfen. Sie werden zur Migration gezwungen, müssen ihre Arbeitskraft zu Löhnen verkaufen, die kein Auskommen ermöglichen, ihre Kinder opfern sowie die natürliche Umwelt und oft auch noch ihre eigene Gesundheit – alles für den verzweifelten Versuch, zu überleben.

Um fair zu sein: Einigen Ländern hat die Globalisierung dramatische Vorteile gebracht. Ausgerechnet Ostasien verzeichnete die größten Erfolge, damit gerade jene Länder, die sich nicht an die Spielregeln des Washington-Konsenses hielten: Privatisierung, Deregulierung, Austeritätspolitik und Abbau von Handelsbarrieren. Viele diese Länder haben ihre Märkte geschützt, Land verteilt, in Bildung investiert, ihre Exporte subventioniert und bewusst Handelsbilanzüberschüsse in Kauf genommen – alles Maßnahmen, von denen Washington im Kalten Krieg vorgab, sie abzulehnen. Aber in den vergangenen Jahren mussten viele Länder dem Druck nachgeben, ihre Ökonomien öffnen und ihre Finanzsysteme deregulieren. Das Ergebnis war, dass sie die Hauptopfer der letzten globalen ökonomische Krise wurden, die buchstäblich Millionen von arbeitenden Menschen in die Armut stieß. Wie Paul Krugman in »The Return of Depression Economies« feststellte, waren diese asiatischen Volkswirtschaften nicht wegen des »crony capitalism« störanfällig, sondern weil »sie ihre Finanzmärkte geöffnet hatten, weil sie also bessere freie Marktwirtschaften geworden waren, nicht schlechtere.«

Die letzte Finanzkrise war nur hinsichtlich ihrer Dimensionen ungewöhnlich. Wie der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, bemerkte, hat die deregulierte Weltwirtschaft einen »Pleitenboom« hervorgebracht – Finanzkrisen von zunehmender Tiefe und Regelmäßigkeit. Während Spekulanten häufig »ausgeholfen« wird, heben ArbeiterInnen nicht dieses Glück. Ausgaben für Bildung und Gesundheit werden gekürzt, um Schulden abzubauen. Kinder werden von der Schule genommen. Millionen verlieren ihre Arbeitsplätze. Reallöhne fallen drastisch. Familien zerbrechen. Soziale Unruhe, Kriminalität und Gewalt nehmen zu. Kurz gesagt: Makroökonomische Daten können zentimeterweise nach oben kriechen, aber arbeitende Familien leiden jahrelang unter den Folgen. Thailand, Indonesien und Südkorea werden selbst dann noch von Armut und Verzweiflung heimgesucht, wenn ausländisches Kapital zurückkehrt. Mexikos Wirtschaft mag sich von seiner Krise 1996 erholt haben – aber viele kleine Ladenbesitzer sind nach wie vor ruiniert. Seit dem NAFTA-Vertrag von 1994 hat die arbeitende Bevölkerung Mexicos ein Viertel ihrer Kaufkraft eingebüßt. Gerade die Lösungen, die der IWF den Krisenländern vorschreibt – Abwertung, Austerität und Kürzung der Sozialleistungen, um ausländische Spekulanten anzulocken – gewährleisten, dass Lohnabhängige, einheimische Produzenten und Bauern für eine Krise bezahlen, die sie selber nicht zu verantworten haben.

Eine bleibende Auswirkung der wiederkehrenden finanziellen Instabilität ist verlangsamtes Wirtschaftswachstum. Die Volatilität der spekulativen Kapitalströme gebietet es, dass die Regierungen eine strikte Geld- und Steuerpolitik verfolgen. Im Ergebnis wurde die Deregulierung der letzten 25 Jahre von langsameren Wachstumsraten in den Industrie- wie auch in den Entwicklungsländern begleitet, wie die Ökonomen John Eatwell und Lance Taylor gezeigt haben. Für die arbeitende Bevölkerung bedeutet verlangsamtes Wachstum Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, stagnierende Löhne und wachsende Unsicherheit.

Auf der ganzen Welt stehen die Resultate in krassem Gegensatz zu den rosigen Bildern, die von den Protagonisten der Globalisierung gemalt werden. Während Millionen von Menschen vom Land in die Stadt ziehen, von den Bauerndörfern in die informellen Sektoren der urbanen Ökonomien, hat sich der Lebensstandard in einigen Ländern drastisch verbessert. Aber die Weltbank berichtet auch darüber, dass die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut lebt (also weniger als 1$ pro Tag zur Verfügung haben), seit 1987 um 200 Millionen zugenommen hat – eine erstaunliche Statistik angesichts des relativen Erfolgs der chinesischen Ökonomie. In großen Teilen Lateinamerikas wurde die verlorene Dekade der 80er Jahre von der Stagnation der 1990er Jahre abgelöst. In weiten Teilen Afrikas wird Entwicklung durch Schulden, Verelendung und Krankheit blockiert. Russland, früher ein industrialisiertes Land, geht am Bettelstab. Sogar in den industrialisierten Ländern, die am meisten von der globalen Ökonomie profitieren, sieht es widersprüchlich aus. Japan kämpft immer noch, um sich von einem Jahrzehnt der Stagnation zu erholen. Europa leidet unter schwachem Wachstum, chronischer Arbeitslosigkeit sowie dem Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Und in den USA haben sich die Reallöhne in dem seit den 60er Jahren längsten Wirtschaftsaufschwung noch keineswegs wieder von ihrem Rückgang während der letzten Jahrzehnte erholt. Lohnunterschiede haben ein Niveau erreicht, wie es seit dem Gilded Age der 1890er Jahre nicht mehr zu zeichnen war. Immer weniger abhängig Beschäftigte haben eine ausreichende Krankenversicherung oder Rente. Mit geringerer Arbeitsplatzsicherheit arbeiten die Leute mehr Stunden am Tag und laufen schneller, um nur am selben Platz zu bleiben.

Global gesehen bedeutet dies, dass zunehmende Ungleichheit, langsames Wachstum und fallende oder stagnierende Löhne dazu führen, dass die Überkapazität in der Industrie wächst und das weltweit. Die arbeitende Bevölkerung verdient nicht genug, um die Produkte zu kaufen, die sie produziert. Sogar Fed-Chef Alan Greenspan hat sich laut über Deflationsgefahren Sorgen gemacht, als die Asienkrise die ganze Welt bedrohte.

Diese Probleme kommen von oben. Wie der Weltbank-Mann Stiglitz bemerkte, interessiert sich der Washington-Konsens nicht für Ungleichheit oder »Äußerlichkeiten« wie Umweltverschmutzung, Kinderarbeit oder gefährliche Arbeitsbedingungen. Das in den Welthandelsrunden – hauptsächlich durch und für die multinationalen Konzerne – entwickelte Regelsystem verlangt von den Ländern, dass sie Handelsgesetze umschreiben, dass sie die traditionelle Landwirtschaft entwurzeln und Patentrechte schützen. Aber das System übernimmt keine Verantwortung für die sozialen Kosten dieser Maßgaben.

Eine ganz neue Welt

Es überrascht nicht, dass Gewerkschaften sich an der Spitze der durch die Globalisierung gestellten Herausforderung gestellt haben. Sie haben schon immer grenzüberschreitend gehandelt; ihre ideologischen Wurzeln entstammten der internationalistischen Perspektive der europäischen Arbeiterbewegung im letzten Jahrhundert. Während sich amerikanische Firmen hinter Handelsbarrieren verschanzten, haben Lohnabhängige internationale Assoziationen geschaffen, die auf den Prinzipien von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit basierten. Diese Werte haben die Gewerkschaften permanent in die globale Arena eingebracht, in der es um große Themen wie Krieg und Frieden, Demokratie und Despotie ging. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass die Korrelation zwischen starken, unabhängigen Gewerkschaften und authentischer Demokratie keineswegs zufällig ist – eine Lehre von höchster Bedeutung für die sich entfaltende Debatte über die Regeln der neuen Weltwirtschaft.

Möglicherweise hat die organisierte Arbeiterschaft zu langsam auf Globalisierung reagiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg betonten die in unterschiedlichen Industrieländern geschlossenen sozialdemokratischen Kompromisse die Vollbeschäftigung und den sozialen Ausgleich; 25 Jahre lang wurden Unternehmen und Lohnabhängige gemeinsam wohlhabend. Der internationale Handel hatte nur bescheidene Auswirkungen auf die Volkswirtschaften – und wenn doch, dann waren Exporte eine Quelle der Beschäftigung; nur einige besonders störanfällige Industriezweige wurden durch Importe negativ getroffen. Währenddessen war die internationale Rolle der Arbeiterbewegung eher geopolitisch als industriepolitisch fundiert: Im Kalten Krieg erblickte die AFL-CIO ihre internationale Mission primär durch das Prisma des Antikommunismus. Die wichtigsten Strukturen der internationalen Arbeiterbewegung, die International Confederation of Free Trade Unions (ICFTU), und sogar die industrienahen internationalen Handelssekretariate wurden als Instrumente im bipolaren Kampf gegen der Kommunismus angesehen, die allesamt aktive Unterstützung seitens der Regierung genossen. Starke, unabhängige Gewerkschaften galten als unerlässlich, um die Demokratie zu stärken und um die Vorteile der Prosperität zu verteilen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion veränderte die Einstellung der Regierungen im Hinblick auf die organisierte Arbeiterschaft. Gewerkschaften gelten inzwischen als politisch weniger relevant, als Hindernisse auf dem Weg der Durchsetzung von Unternehmensinteressen. Eine breit angelegte ideologische Offensive der Konzerne stellt die Gewerkschaften als altmodische Relikte einer vergangenen Epoche dar. Aber während das Big Business globale Dimensionen angenommen hat und einen zunehmend aggressiven Kampf gegen die Gewerkschaften führt, ist die Arbeiterbewegung internationalistischer geworden. Fast jeder große Arbeitskampf in den USA hat eine internationale Dimension. Firmen machen nicht nur von der Drohung Gebrauch, ins Ausland abzuwandern, um die Lohn- und Gehaltsansprüche der Beschäftigten zu drücken. Viele Firmen sind ausländischer Herkunft. Ein Drittel der eine Million Mitglieder der United Food and Commercial Workers Union wird von nicht-amerikanischen Firmen beschäftigt. Übernahmen und Allianzen beschleunigen die globale Integration des Kapitals.

Die Gewerkschaften müssen ebenfalls länderübergreifend agieren und dieselben strategischen internationalen Verbindungen zwischen den Lohnabhängigen und ihren Verbündeten aufbauen, die die Konzerne hergestellt haben, um die neue Ökonomie zu gestalten. Sie müssen sich verstärkt mithilfe der modernen Technologien vernetzen, die es Firmen ermöglicht haben, ihre Mobilität zu vergrößern. Vor einigen Jahren fand eine Umfrage unter den AFL-CIO-Gewerkschaften heraus, dass zwei Drittel von ihnen international tätig waren; 87% gaben an, dass sie in dieser Richtung noch mehr tun müssten. Es ist noch nicht allzu lange her, dass die internationale Arbeit einer großen Gewerkschaft von einer einzigen Person erledigt werden konnte, die daneben vielleicht sogar noch weitere organisatorische Verpflichtungen hatte. Das ist heute nicht mehr möglich. Die fortgeschrittensten Gewerkschaften beziehen viele ihrer Abteilungen – Organisation, Forschung, politische Aktivitäten, Öffentlichkeitsarbeit, Bildung, Rechtsberatung, Gesundheitspolitik etc. – in die internationale Arbeit mit ein. So entstehen effektive Beziehungen zu ausländischen Partnern, um Arbeitskämpfe zu koordinieren, Lobby-Arbeit zu erledigen, juristische Schritte einzuleiten und um gleichzeitig alle diese Aktivitäten in mehr als nur einem Land zu veröffentlichen.

Die Macht der Netzwerke

Die Gewerkschaften haben begriffen, dass sie ein vollständiges Bild der globalen Struktur eines Unternehmens benötigen, um effektiv an den Schwachstellen Druck ausüben und Verbindungen mit den Beschäftigten bzw. Gewerkschaften auf der ganzen Welt herstellen zu können. Ein Beispiel für diese Strategie war der Streik bei United Parcel Service (UPS) 1997, an dem sich 185.000 Mitglieder der International Brotherhood of Teamsters beteiligten. Der Streik wurde nach zwei Wochen erfolgreich beendet; viele meinten, dies sei ein Zeichen der wiedergewonnenen Kraft der Arbeiterbewegung. Zum Erfolg wurde der Streik durch die Vorbereitungsarbeit von Teamsters-Mitgliedern bei UPS, die in den ganzen USA mobilisierten und eine effektive Kampagne organisierten, um die Unterstützung der Öffentlichkeit zu gewinnen. Internationale Solidarität spielte dabei eine wichtige Rolle. Als das führende Unternehmen auf dem amerikanischen Kuriermarkt hätte UPS einen langen landesweiten Streik durchaus durchstehen können. Aber die Teamsters wussten, dass UPS gegen starke Konkurrenz in Europa ankämpfte und sich zum obersten Ziel gesetzt hatte, im europäischen Markt einzusteigen. Europa war von daher die schwache Stelle in der globalen Struktur der Firma – und genau da haben die Gewerkschaften zugeschlagen.

Bei der Ausarbeitung dieser Strategie haben die Teamsters sich auf ein breites internationales Netzwerk der Unterstützung verlassen, das sie über viele Monate hinweg aufgebaut hatten. Ein Jahr vor dem Streik hatten die Teamsters mit Hilfe der International Transport Workers Federation den UPS-Weltbetriebsrat ins Leben gerufen. Zwischen den UPS-Gewerkschaften fand ein regelmäßiger Austausch statt und mit Repräsentanten aus Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Italien, Spanien, Kanada, Deutschland, Brasilien, Irland und den USA wurde eine Serie von Treffen abgehalten. Die Bedingungen waren extrem unterschiedlich: Viele vertraten Beschäftigte von UPS; andere versuchten erst, sie zu organisieren; weitere vertraten KollegInnen von konkurrierenden Unternehmen, die davon betroffen worden wären, wenn UPS es schaffen würde, die Standards der Branche zu unterbieten. Einige hatten recht gute Beziehungen zu ihrem Arbeitgeber, andere nicht. Kampfkraft und Militanz varierte von Land zu Land; Aktivitäten, die in einem Land verboten waren, waren woanders erlaubt. – Dies sind nur einige der außerordentlichen Schwierigkeiten, mit denen sich Gewerkschafter beim weltweiten Organisieren von abhängig Beschäftigten konfrontiert sehen. Trotz allem fanden die Gewerkschaften genügend gemeinsame Interessen, so dass der Rat einen Forderungskatalog für den UPS-World Action Day im Frühling des Jahres 1997 aufstellen konnte. Es wurde zu einem Treffen in Washington D.C. aufgerufen, das mit den letzten Phasen der Teamsters-Verhandlungen mit UPS zusammenfiel.

Als die Repräsentanten von UPS vom Verhandlungstisch aufsahen und ihnen gegenüber die »Gäste« der Teamsters aus aller Welt erblickten, realisierten sie, dass der Schaden, den dieser Streik anrichten würde, nicht auf die USA begrenzt werden konnte. Am UPS-World Action Day fanden weltweit mehr als 150 Job Actions oder Demonstrationen statt, in Italien und Spanien sogar Arbeitsniederlegungen. Große Kunden in Europa stellten die Zuverlässigkeit der Firma in Frage. Die glaubhafte Drohung, dass dieser Streik sich ausbreiten und dadurch ein entscheidendes Element der Firmenstrategie unterminieren könnte, wurde durch eskalierende Solidaritätsaktionen unterstrichen. Einen Tag, nachdem die Firma davon Wind bekommen hatte, dass eine französische Transportarbeitergewerkschaft plante, die Geschäfte von UPS am Pariser Flughafen Orly zum Erliegen zu bringen, wurde der Streik beendet – nach Gewerkschaftsangaben vor allem wegen der bis dahin einmaligen internationalen Kampagne.

Die Schwierigkeiten, einen Kampf dieses Ausmaßes zu organisieren, dürfen nicht unterschätzt werden, die Resultate aber auch nicht. Die meisten Gewerkschaften verstehen, dass sie sich in einer globalen Ökonomie mit der Mobilität und Flinkheit der Arbeitgeber messen können müssen. Und die Beschäftigten verstehen, dass Bedingungen im Ausland ihre Situation vor Ort erheblich beeinflussen.

»Race to the Bottom«

Am zerstörerischsten ist die Globalisierung dort, wo es keine unabhängigen Gewerkschaften gibt und wo es den Lohnabhängigen verboten ist, sich eigenständig zu organisieren. Viele Entwicklungsländer preisen ihre exportorientierten Fertigungszonen als gewerkschaftsfreie Räume an, um Investoren anzulocken; die Sweatshop-maquilla-Fabriken in Zentralamerika sind nur ein Beispiel. Eine Studie der International Labor Organization (ILO) über 850 dieser Zonen in der ganzen Welt fand heraus, dass unabhängige Gewerkschaften und minimale Arbeitsstandards »extrem selten« sind.

Die Masse der unorganizierten ArbeiternehmerInnen stellt die zentrale Herausforderung der internationalen Gewerkschaftsbewegung dar. Obwohl viele in den so genannten Entwicklungsländern konzentriert sind, leben und arbeiten Millionen in den industrialisierten Ländern. Ohne die Möglichkeit, sich zu organisieren, Tarifverhandlungen zu führen oder zu streiken, befinden sich diese Beschäftigten immer häufiger in einem gnadenlosen Unterbietungswettkampf.

Mit einer Masse von unorganisierten ArbeiterInnen in der ganzen Welt konfrontiert, fallen Gewerkschaften immer mehr auf eine alte Strategie zurück, die aus der Textilindustrie bekannt ist: »following the work« – der Arbeit hinterherziehen. Nachdem ArbeiterInnen eine Gewerkschaft in New York City in den 1920er Jahre gegründet hatten, zogen die Arbeitgeber auf der andere Seite des Hudson River nach New Jersey in die »foreign zones« (außerhalb New Yorks) auf der Suche nach billigeren und passiveren Arbeitskräften. Die Gewerkschaft reagierte, indem sie den Firmen folgte und auch am neuen Produktionsstandort ArbeiterInnen organisierte. Als die Firmen dann nach Philadelphia und in den mittleren Westen zogen, folgten ihnen abermals die Gewerkschaften, ohne indes zu verkennen, dass grundlegende nationale Standards benötigt wurden, um den ArbeiterInnen einen Halt zu geben. Viele andere Gewerkschaften sind zum selben Ergebnis gekommen und haben gemeinsam eine Kampagne für das geführt, was 1938 der Fair Labor Standards Act wurde. Mit diesem Gesetz wurden die Zahl der Arbeitsstunden, Arbeitsbedingungen und ein Mindestlohn festgelegt. Diese Kombination von dynamischer Organisationstätigkeit und gesetzlich regulierten nationalen Standards schuf eine mächtige Gewerkschaftsbewegung, die den Lebensstandard von Millionen arbeitender Familien verbesserte und die Ideale der amerikanischen Demokratie stützte.

In den vergangenen Jahren haben die Nachkommen dieser Unternehmer den nächsten Schritt gemacht und die Produktion auf die andere Seite des Erdballs verlagert, und es schien zunächst, als wären sie völlig verschwunden. Aber das Ausspielen amerikanischer Arbeiternehmer gegen ihre ausländische KollegInnen, die dazu gezwungen werden, ihr Dasein am Rand der menschlichen Existenz zu fristen, hat sich letzendlich doch in den USA bemerkbar gemacht: in Form niedrigerer Löhne und verschlechterter Standards. Die kläglichen Arbeitsbedingungen in Asien und Zentralamerika werden zum Maß für die notorischen Sweatshops, die 1995 beispielsweise in El Monte, Kalifornien, entdeckt wurden. Die Gewerkschaften mussten erneut lernen, der Arbeit hinterherzuziehen, überall für Arbeitsrechte und Standards zu kämpfen und um sicherzustellen, dass die weltweiten Regeln zu Hause und im Ausland respektiert werden würden. UNITE zum Beispiel arbeitet seit fünf Jahren eng mit ihrem Gewerkschaftssekretariat, der International Textile, Garment and Leather Workers Federation zusammen, um die halbe Million TextilarbeiterInnen in Zentralamerika und in der Karibik zu organisieren. Obwohl politische Grenzen diese ArbeiterInnen von denen in Mexiko, den USA, und Kanada trennen, haben die Handelsabkommen, die die Globalisierung in der Region vorantreiben, und die Outsourcing-Strategien der großen amerikanischen Hersteller und Einzelhändler letztendlich einen einheitlichen Arbeitsmarkt in dieser Branche geschaffen, der schätzungsweise zwei Millionen ArbeiterInnen umfasst.

Die Fortschritte waren zwar langsam, aber real. Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen haben beschämende Arbeitsbedingungen von Frauen und Kindern aufgedeckt. Tausende ArbeiterInnen in ganz Lateinamerika haben Gewerkschaften gegründet. Multinationale Konzerne werden gezwungen, wenigstens verbal Verantwortung für die Arbeitsbedingungen in ihren riesigen globalen Produktionsketten zu übernehmen. Regierungen fühlen sich von BürgerInnen unter Druck gesetzt, Konzerne von KonsumentInnen. Firmen wie Nike haben das zu spüren bekommen.

Zumindest die Hälfte der Kleidung, die von AmerikanerInnen gekauft wird, ist in Sweatshops in den USA und im Ausland hergestellt worden. Konzerne behaupten gerne, dass KundInnen sich nur dafür interessieren würden, ein Schnäppchen zu machen, aber Umfragen bestätigen, dass Menschen bereit sind, etwas mehr zu bezahlen, wenn sie wissen, dass ihre Kleidung nicht in Sweatshops hergestellt worden ist. Währenddessen hat sich eine ganze Generation studentischer AktivistInnen der Gewerkschaftsbewegung im Kampf gegen die Sweatshops angeschlossen. Kirchen haben Resolutionen verabschiedet und Broschüren an Gemeindemitglieder verteilt. Stadträte und Staatsregierungen haben den Ankauf von Sweatshop-Waren verboten. Eine soziale Bewegung, die potenziell gewaltige Kräfte auslösen könnte, hat angefangen, Gestalt anzunehmen, die die Gesetze und die Mindeststandards des Landes beeinflussen könnte.

Ein Platz am Verhandlungstisch

Zuversichtlich, dass dies keine politischen Folgen haben würde, haben Regierungen jahrelang die Forderung ignoriert, Arbeits- und Umweltschutzrechte in die Handelsabkommen aufzunehmen. Dies ändert sich jetzt. Gewerkschaften verbünden sich mit Umweltschutz-, Menschenrechts-, Verbraucherorganisationen und Kirchen. Das vielleicht dramatischste Beispiel für die politische Kraft dieser Allianz war die Ablehnung der »fast-track« Autorität für Präsident Clinton durch den US-Kongress – nicht ein-, sondern gleich dreimal in den letzten zwei Jahren. Dieses neue Bündnis pocht darauf, dass alle mit Handelsfragen befassten Unterhändler als Bedingung für die Aufnahme von Verhandlungen Arbeitsbedingungen und Umweltschutzmaßnahmen berücksichtigen. Die meisten Abgeordneten im Repräsentantenhaus unterstützen diese Position ebenso wie die Mehrheit der Bevölkerung und die meisten WählerInnen in beiden Parteien. Die Verhinderung von »fast-track« hat deutlich gemacht, dass VertreterInnen dieser neuen populären Bewegung einen Platz am Verhandlungstisch haben müssen.

Die Debatte über »fast-track« und über die Handelspolitik generell kann nicht mehr als ein Streit zwischen Freihandel und Protektionismus dargestellt werden. Die Forderung nach einklagbaren Arbeitsrechten in weltweiten Handelabkommen, die in die Regelwerke der internationalen Finanzinstitutionen eingebaut und schließlich als Handelsverträge und Gesetze in den USA verabschiedet werden, ist kein Versuch, neue Mauern in der globalen Ökonomie hochzuziehen. Es ist vielmehr ein Versuch, Regelungen einzubauen, einen Boden einzuziehen und Löhne ebenso wie Arbeitsbedingungen zu heben, statt sie zu drücken.

Glücklicherweise gibt es bereits eine große Übereinstimmung über die Substanz fundamentaler Arbeitnehmerrechte. Im letzen Jahr sind VertreterInnen von Unternehmen, Gewerkschaften und Regierungen aus 173 Ländern darin überein gekommen, dass Arbeitsrechte Menschenrechte seien und die Versammlungs- ebenso wie die Koalitionsfreiheit beinhalten. Sie sprachen sich für die Abschaffung von Zwangsarbeit, Kinderarbeit und Diskriminierung am Arbeitsplatz aus. Fast jeder unabhängige Gewerkschaftsverband unterstützt die Forderung der ICFTU, Arbeitnehmerrechte in das Welthandelssystem zu integrieren. Die Kluft verläuft nicht zwischen Nord und Süd, sondern zwischen den Lohnabhängigen dieser Welt und den großen Kapitalkonzentrationen mitsamt den von ihnen beherrschten Regierungen.

Nach Seattle können die Forderungen nach Einhaltung von Arbeitnehmerrechten und anderen sozialen Standards nicht länger ignoriert werden. Wenn die WTO und andere Institutionen diesen Forderungen nicht entgegenkommen, werden sie geschwächt und nicht die Bewegung, die das System verändern will. Öffentliche Aufmerksamkeit wird auf die nationale und lokale Politik gelenkt werden, Widerstand gegen Handelsabkommen anwachsen und die Unterstützung für protektionistische Maßnahmen und Subventionen wird zunehmen. Firmen werden in die Defensive geraten und immer öfter befürchten müssen, dass ihre Praxen aufgedeckt und durch KonsumentInnen-Boykotts und -Proteste publik gemacht werden. BürgerInnen werden verlangen, dass ihre Lebensmittel geschützt, ihre Luft nicht vergiftet und ihr Wasser nicht verschmutzt werden. MenschenrechtsaktivistInnen werden fordern, dass barbarische Regime mit Sanktionen belegt werden. ArbeiterInnen werden Revanche verlangen. Werden sie ignoriert, dann erhalten die gefährlichen Impulse des Isolationismus Auftrieb.

Die Gewerkschaftsbewegung fühlt sich diesem Kampf um Reformen und dem Aufbau eines neuen Internationalismus verpflichtet. Dies ist ein Kampf, der am Fabriktor, in lokalen und nationalen Parlamenten sowie in internationalen Verhandlungen stattfindet. Die Transformation der Weltwirtschaft führte bisher noch nicht zu einer entsprechenden Veränderung der politischen Institutionen. ArbeiternehmerInnen, AktivistInnen, Bürger fangen an, für diese Veränderungen zu mobilisieren. Zukünftige Generationen werden schwer begreifen können, weshalb die Führungskräfte von heute nicht darüber debattiert haben, wie diese Reformen implementiert werden sollten, sondern sich darüber stritten, ob sie überhaupt in Betracht gezogen werden müssten.

Jay Mazur ist Präsident der »Union of Needletrades, Industrial and Textile Employees (Unite)« und Vorsitzender des Internationalen Komitees der AFL-CIO in den USA. Sein Beitrag erschien unter dem Titel »Labor’s New Internationalism« in »Foreign Affairs«, Vol. 79, No. 1, Jan./Feb. 2000, S. 79ff.; er ist hier leicht gekürzt.
Aus dem Amerikanischen von Amy Holmes und Malte Meier, Marburg.

Zurück