27. Januar 2011 Joachim Bischoff

Deutschland als Konjunkturlokomotive?

Kategorie: Ökonomie

Nach einem turbulenten Jahr 2010 ist zum Jahreswechsel etwas Ruhe an den Finanzmärkten eingekehrt. Der Schutzschirm für den Euro, der Ankauf von Staatsanleihen seitens der EZB und andere Rettungsmaßnahmen haben die manifeste Krise an der europäischen Peripherie entschärft. In den USA hat die lockere Geldpolitik der Notenbank (Fed) »wagemutigeren« Investoren Erträge beschert, die die Markterwartungen übertroffen haben. Größere Abschreibungen blieben ihnen erspart, es kam weder zu einer Deflation noch zu einem »Double Dip«. Die größten Risiken bestehen darin, dass die Rechnungen für den Waffenstillstand auf den Finanzmärkten nicht beglichen sind.

Die Ursachen der Finanzmarktkrise sind nicht beseitigt. Weltweit registrieren wir eine Zunahme der ökonomischen Ungleichgewichte. In Europa werden neue Feuer aufflackern, Schuldenrestrukturierungen sind nicht auszuschließen. Großbritannien musste im Schlussquartal 2010 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 0,5% hinnehmen; mit einer steigenden Mehrwertsteuer (auf 20%) und dem einschneidenden »Sparprogramm« der konservativ-liberalen Regierung sehen die Perspektiven für das laufende Jahr eher nach Stagnation denn nach Aufschwung aus. In den USA treiben die historischen Niedrigstzinsen die Anleger in risikoreichere Anlagen. Faktisch ist die Zinssteuerung, die wichtigste Plattform der Distribution von anlagesuchendem Kapital, immer noch außer Funktion. Dies birgt die Gefahr von neuen Blasen, Fehlallokationen und mehr Inflation in den Schwellenländern.

Globale Ungleichgewichte – Verlagerung des Zentrums


Mit der Euro-Krise hat die latente Debatte über die Zukunft des Kapitalismus neue Nahrung erhalten. Die realwirtschaftliche Entwicklung der EU-Mitgliedsstaaten verläuft sehr unterschiedlich. Griechenland steckt seit annähernd drei Jahren in einer Rezession, gleichfalls Irland. In Portugal und Spanien stagniert die Ökonomie seit dem 2. Quartal 2009. Deutschland hingegen weist den optimistischsten Wert seit 1991 auf und zieht den gesamteuropäischen Durchschnitt kräftig nach oben. Aber auch in Belgien, den Niederlanden und Frankreich ist der wirtschaftliche Erholungsprozess nicht schlecht.

Dieses heterogene Bild wird auch in Zukunft fortbestehen. Während das Konsumentenvertrauen in Deutschland, Belgien und den Niederlanden nach oben klettert, liegt es vor allem in Portugal und Griechenland am Boden. Neben den befürchteten Auswirkungen der Schuldenkrise spiegeln die Unterschiede im Wesentlichen die sehr heterogene Entwicklung am Arbeitsmarkt wider. Während Deutschland mittlerweile die niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung aufweist und auch einige andere Volkswirtschaften wie Frankreich oder die Niederlande recht glimpflich durch die Krise gekommen sind, liegen die Raten insbesondere in Spanien, Irland und Griechenland deutlich über dem EU-Durchschnitt. Daher ist in diesen Ländern vorerst mit keinem Zuwachs des privaten Konsums zu rechnen. Auch der öffentliche Konsum ist in Griechenland seit Beginn des letzten Jahres und in Irland bereits seit zwei Jahren rückläufig. Wegen der anhaltenden Kürzungsoperationen bei den öffentlichen Ausgaben ist in diesen Ländern sowie in Spanien und Portugal auch kein positiver Wachstumsbeitrag des Staatskonsums zu erwarten.

Auch abgesehen von den Turbulenzen um die Gemeinschaftswährung gibt es genügend Indikatoren, die auf eine Schwächung Europas hindeuten. Der Anteil der EU am globalen Bruttoinlandsprodukt geht seit 1969 kontinuierlich zurück. Der europäische Anteil an der Weltbevölkerung sinkt. Demografen haben errechnet, dass die Arbeitsbevölkerung in Westeuropa in den nächsten 20 Jahren um 12 Millionen schrumpft – wobei diese Prognose auf der Annahme basiert, dass 20 Millionen Migranten vor allem aus Afrika nach Europa kommen. In den USA soll die Arbeitsbevölkerung hingegen wachsen. Gleichwohl ist die Position der USA in der Welt machtpolitisch wie wirtschaftlich erodiert. Auch mit der gewaltigsten Militärmaschinerie der Welt kann in Afghanistan keine Lösung erzwungen werden,. Während Washington im Irak zwar militärisch, allerdings zu hohen Kosten, erfolgreich war, so ist der Iran seit Saddam Husseins Sturz in der Region stärker denn je.

Von einem kräftigen Aufschwung kann in den USA nicht die Rede sein. Die US-Wirtschaft ist – nach dem Rückschlag 2009 um 3,4% – im vergangenen Jahr um 2,7% gewachsen. Die Prognosen für 2011 mit 1,8% und 2012 mit 2,0% zeigen, dass der weitere Aufschwung, gemessen an den Wachstumsraten der Vorkrisenzeit, deutlich abgeschwächt verläuft. Mit knapp 10% verharrt die offizielle Arbeitslosenquote für die dortigen Verhältnisse auf einem exorbitant hohem Niveau, zumal die verdeckte Arbeitslosigkeit wächst. Außerdem stagnieren die Reallöhne. Das heißt, mittelfristig bleiben die Bedingungen für den Konsum durchwachsen und die Vermögensverluste während der Krise werden sich in einer anhaltend hohen Sparquote niederschlagen. Zudem hat die schwere Rezession die äußerst angespannte Finanzlage der Bundesstaaten und Kommunalverwaltungen aufgedeckt. Von daher ist für die mittlere Frist nicht mit kräftigen Zuwächsen der Konsumausgaben zu rechnen.

Fed-Chef Bernanke sieht das offenkundig anders. Für das laufende Jahr hält er ein Wirtschaftswachstum von bis zu vier Prozent für möglich und geht damit noch über die letzte Konjunkturprognose der Fed hinaus, die im November eine Erholung im Bereich von 3,0 bis 3,6% vorhergesagt hatte.

Diese optimistischen Einschätzungen werden von der Weltbank nicht geteilt. Sie erwartet für 2011 ein verlangsamtes Wachstum der Weltwirtschaft von rund 3,3%, nach 3,9% im vergangenen Jahr. Während die Schwellen- und Entwicklungsländer voraussichtlich um 6% expandieren werden, erwartet die Weltbank für die kapitalistischen Hauptländer ein Plus von lediglich 2,4%. Das reicht auch nach Einschätzung der Weltbank nicht aus, um die Arbeitslosigkeit und die Flaute in den am stärksten betroffenen Wirtschaftssektoren zu bekämpfen.

Die Verlagerung des Zentrums der kapitalistischen Globalökonomie nach Asien wird kaum mehr bestritten. Konjunkturexperten in China erwarten im laufenden Jahr ein Wirtschaftswachstum von 9,8% bei einer Inflationsrate von 3,7%. 2010 wuchs das Bruttoinlandsprodukt in China nach offiziellen Zahlen um 10,3% und die Inflation kletterte im November auf 5,2% – den höchsten Wert seit 28 Monaten. Die Zentralbank hat die Leitzinsen seit Oktober zweimal erhöht und viermal die Mindesteinlagen der Geschäftsbanken angehoben. Damit soll der Preisanstieg gebremst und eine Überhitzung der Konjunktur verhindert werden.

China verfügt aufgrund seiner Handelsbilanzüberschüsse über die größten Währungsreserven der Welt. Die Devisenreserven erreichten zu Beginn des Jahres 2011 den neuen Rekordstand von 2,85 Bio. $ (2,2 Bio. Euro) – 18,7% mehr als im Vorjahr. Bisher waren die Chinesen verlässliche Geldgeber für die amerikanische Defizitfinanzierung. Sie sind offiziell im Besitz von Staatsanleihen im Wert von 907 Mrd. $ und damit der größte Gläubiger der US-Regierung. Doch um dieses Risiko etwas zu mindern, bemüht sich China seit Jahren um eine stärkere Diversifizierung seiner Devisenreserven. Nach Angaben des Finanzministeriums hat die chinesische Zentralbank 2010 den Anteil europäischer Bonds in ihrem Devisenportfolio erhöht; Details gibt sie nicht bekannt. Währungsreserven sind zwar kein Inlandvermögen, doch die damit verbundene Kaufkraft im Ausland verleiht Peking wachsenden politischen Einfluss. Die Direktinvestitionen sind Teil einer langfristigen Strategie, mit der Peking ein gutes Verhältnis zu europäischen Staaten aufbauen und die Aufhebung von Handelsrestriktionen wie dem Waffenembargo und Einschränkungen bei Hochtechnologieexporten erwirken will. Allerdings ist auch der Kauf von europäischen Anleihen in China nicht unumstritten.

Ausgenommen von der Prosperitäts­konstellation im neuen Zentrum in Asien ist freilich Japan. Zwar hat die japanische Wirtschaft 2010 mit einer Wachstumsrate von 4,4% überdurchschnittlich zugelegt. Damit ist ein Großteil des durch die Finanzkrise bedingten Einbruchs wieder wettgemacht worden. Für das laufende Jahr ist allerdings mit einer deutlichen Abkühlung zu rechnen. Derzeit ist von einer Wachstumsrate von nur noch 0,8% in diesem Jahr auszugehen, die zum Teil mit negativen Quartalswachstumsraten einhergeht. Im Zuge der etwas anziehenden Konjunktur in den anderen kapitalistischen Metropolen könnte dann – aktuellen Prognosen zufolge – 2012 wieder ein Zuwachs von 1,5% erreicht werden.

Ein neues Wirtschaftswunder?

Auf dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise war heftig gerätselt worden, welchen Verlauf die Konjunktur nehmen würde. Musste man mit einem L rechnen – einem scharfen Einbruch und danach langer Stagnation? Würde es eher ein U werden, eine schleppende Erholung nach der Rezession? Oder konnte man auf ein V hoffen, einen steilen Aufstieg aus dem Krisental?

Wenn man auf die Konjunkturentwicklung in Deutschland im abgelaufenen Jahr blickt, kann man nur sagen: Was für ein V! Niemand hätte Anfang 2010 für möglich gehalten, dass sich die deutsche Wirtschaft so schnell erholen könnte. Nach dem schwersten Einbruch in der Geschichte der Bundesrepublik ist die deutsche Wirtschaft doppelt so schnell gewachsen wie der Durchschnitt der Europäischen Union. Sie ist damit zur Konjunkturlokomotive in Europa geworden. Die Verantwortung für das starke Wirtschaftswachstum von 2010, das sich in diesem Jahr etwas schwächer fortsetzen soll, reklamiert Wirtschaftsminister Brüderle für das eigene Lager: »In Deutschland regiert die Zuversicht. In Deutschland regiert das Wachstum. In Deutschland regiert der Fortschritt. In Deutschland regiert Schwarz-Gelb.«

Die deutsche Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um 3,6% gewachsen und damit stärker als jemals zuvor seit der Vereinigung. Damit hat sie sich sehr schnell von dem abrupten Einbruch um 4,7% nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers erholt. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten, dass die deutsche Wirtschaftsleistung in diesem Jahr wieder das Niveau von vor der Krise erreichen wird.

Der starke Aufschwung des Gesamtjahres war das Gegenstück zum Einbruch: Genau die Wirtschaftsbereiche, die in der Krise 2009 gelitten hatten, erlebten ein Revival: Exporte und die Investitionen der Unternehmen haben das Wachstum angetrieben. Vor allem die Industrie hat davon profitiert, dass Schwellenländer wie China und Indien stark wachsen und dass deutsche Unternehmen genau die Güter produzieren, die dort im Moment gefragt sind: Maschinen, Produktionsanlagen und teure Autos. Die hohe Nachfrage aus dem Ausland hat damit die überraschende Erholung angestoßen und bei den Unternehmen für volle Auftragsbücher gesorgt. Die Firmen ihrerseits haben mehr Geld in neue Produktionsanlagen und Fahrzeuge gesteckt: Die Investitionen der Unternehmen waren für 1,8 Prozentpunkte des Wachstums verantwortlich und die Exporte ebenfalls für gut einen Prozentpunkt.

In den vergangenen Monaten haben die privaten Haushalte ebenfalls begonnen, mehr auszugeben; Ökonomen erwarten – etwas kühn –, dass diese Entwicklung sich fortsetzt und dass der private Konsum einer der Haupttreiber der Konjunktur sein wird. Die Mehrheit der Prognostiker von Instituten und Banken erwartet, dass die Wirtschaft in diesem Jahr zwischen 1,5 und 3% wachsen wird – behalten die Optimisten recht, wäre das ein für deutsche Verhältnisse überdurchschnittlich starkes Plus. Aber die Konjunkturexperten warnen auch vor Risiken für den Aufschwung, beispielsweise einer Eskalation der Schuldenkrise in Europa und steigenden Rohstoffpreisen.

Die wirtschaftliche Erholung und der stabile Arbeitsmarkt haben dafür gesorgt, dass die Bundesregierung trotz der Konjunkturprogramme weniger Schulden machen musste, als befürchtet. Noch Anfang 2010 erwartete sie ein Haushaltsloch in Höhe von rund 5,5% des Bruttoinlandsprodukts. Tatsächlich betrug das Haushaltsdefizit 88,6 Mrd. Euro. Das ist zwar immer noch ein historischer Rekord, aber der Wert entspricht nur 3,5%.

Die deutsche Ökonomie unterscheidet sich von vielen Reproduktionsprozessen in anderen kapitalistischen Hauptländern, die noch mit großen strukturellen Problemen kämpfen. Deutschland kennt keine heimische Immobilienkrise; der Bankensektor ist zwar großteils marode, aber gemessen an der Gesamtwirtschaft klein; die traditionell wichtige Exportindustrie profitierte enorm davon, dass sich der Welthandel vor allem aufgrund der hohen Nachfrage aus den BRIC-Staaten schnell erholte. Der preisliche Wettbewerbsvorteil war exzellent, weil die bundesdeutschen Arbeitseinkommen massiv hinter der entsprechenden Entwicklung in den anderen Hauptländern zurückblieben.

Gleichwohl: Viele BürgerInnen im Land lässt ein mulmiges Gefühl nicht los. Fast die Hälfte der Bevölkerung äußert Zweifel an der »sozialen Marktwirtschaft« und daran, dass die Ursachen der Krise wirklich therapiert sind. Man kennt die Diagnose aus der Medizin. Der Patient leidet seit längerem an diversen Krankheiten. Jede ist für sich genommen nicht besorgniserregend. Doch dann überlagern sich die Gebrechen zu einem komplexen und nicht mehr steuerbaren Ganzen. Die Ärzte können ohnmächtig nur noch multiples Organversagen konstatieren. Deutschland ist ein Kandidat dafür – trotz der positiven Entwicklung des Jahres 2010.

»Die Währungsunion ist ein Experiment«, das eine Verbesserung der Exportposition des bundesdeutschen Kapitals bewirken, aber auch Instabilität programmieren kann – das war die Mehrheitsmeinung in der politischen Klasse. Momentan spricht – blickt man nach Irland, Griechenland, Portugal, Belgien und Spanien – manches dafür, dass das Experiment scheitert. Deutschland ist mitgefangen. Bei einem Zerfall der Währungsunion drohen gewaltige Vermögensverluste. Privatleute und Unternehmen aus Deutschland haben über drei Bio. Euro in den übrigen 15 Mitgliedsländern der Euro-Zone angelegt, denen eine Abwertung droht. Außerdem wird beim Untergang des Euro der europäische Binnenmarkt in Gefahr geraten und zunehmender Protektionismus Spuren hinterlassen. Das träfe die deutsche Wirtschaft tief ins Mark: Gut zwei Drittel der deutschen Exporte gehen in die EU. Aber selbst wenn der »worst case« ausbleibt, zeichnen sich heftige Turbulenzen für die Einheitswährung infolge des Auseinanderdriftens der schwachen Länder an der Peripherie und des vergleichsweise starken Kerns der Währungsunion ab: Deutschlands Konjunktur könnte höhere Notenbankzinsen vertragen; von Griechenland bis Irland ist man hingegen gezwungen, kräftig zu konsolidieren. Und selbst halbwegs gesunde Länder wie Frankreich sind aufgefordert, ihre Kürzungsprogramme zu forcieren. Dort hört man von der wirtschaftlichen Elite und dem Großteil der politischen Klasse Lobeshymnen über den deutschen Nachbarn. Präsident Nicolas Sarkozy lässt keine Gelegenheit aus, die Deutschen als wirtschaftliche Musterschüler zu loben, und sein Integrationsminister Eric Besson möchte analog die Arbeitskosten senken um die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs zu verbessern. Während Deutschland mit rabiaten Arbeitsmarkt»reformen« und harten sozialen Einschnitten seine Konkurrenzposition ausgebaut hat, ließ sich eine solche Austeritätspolitik in Frank­reich wegen des anhaltenden Widerstands der Gewerkschaften und von Teilen der Zivilgesellschaft nicht durchsetzen. Die Kehrseite: In Deutschland ist die Armutsquote (unter 60% des Medianeinkommens) seit 2005 von 12,5% auf 15,5% gestiegen – zwar nicht die höchste Quote, aber der schnellste Anstieg in der Europäischen Union.

Das ungewisse Schicksal des Euro ist in den nächsten Jahren für Deutschland nicht die einzige Gefahr. Kurzfristig dürfte am stärksten ins Gewicht fallen, dass die Wirtschaft ihr hohes Wachstumstempo nicht wird durchhalten können. Auf der Nachfrageseite sind kräftige Dämpfer zu erwarten. Die Konjunkturprogramme laufen weltweit aus, Austerität ist ab 2011 angesagt, was zulasten der Ausfuhr geht. Deutschlands wichtiger Exporthelfer, China, muss, um den Preisanstieg einzudämmen, seinen Aufschwung bremsen und dürfte damit als Lokomotive weitgehend ausfallen. Dass die deutschen Konsumenten die Lücke füllen und wie verrückt kaufen, ist wegen der Asymmetrie in der Verteilung, der alternden Bevölkerung und des  Sicherheitsbedürfnisses der Mehrheit der Bevölkerung nicht zu erwarten. Von der Angebotsseite her dürfte sich die Drehzahl verringern, weil laut überwiegender Expertenmeinung die IT-getriebene Innovationswelle abebbt.

Die alles überlagernde Hoffnung bleibt, dass aus dem V nicht doch noch ein W wird – eine doppelte Rezession. Wenn die Euro-Krise nicht weiter eskaliert, die USA nicht erneut abrutschen und vor allem die Schwellenländer stabile Wachstumsmotoren bleiben, sind die Chancen vorhanden – wenn…

Die politische Unruhe dürfte weiter zunehmen. Die größte Befürchtung: dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis auch in Deutschland verstärkt wieder Rechtspopulisten in die Parlamente einziehen. Auch die LINKE könnte der westeuropäischen Normalisierung unterworfen werden, denn die systemkritische Linke hat in Europa nicht die Massen an ihrer Seite. Rechtspopulistische FührerInnen wie Madame Le Pen, der Österreicher Heinz-Christian Strache und der Niederländer Geert Wilders bieten sich an, den Protest der Ressentiments in die Parlamente zu tragen und damit auf dem politischen Feld zu etablieren. Die Erfolgsgeschichte von Sarrazin deutet darauf hin, dass die Bespielung des politischen Feldes durch eine Sammlung der rechtspopulistischen Masse der Unzufriedenen ein neues Zeitfenster erhalten hat. Die politische Zivilität in Deutschland ist – wie die Demokratie in den anderen Hauptländern – bedroht, der soziale Zusammenhalt des Landes zersetzt.

Noch steht das Zeitfenster zum Gegensteuern offen. Die politische Unsicherheit und die Verunsicherung wächst. Der Veränderungsdruck ist groß. In welche Richtung sich das System in Deutschland bewegt, ist offen.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.


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