24. April 2023 Joachim Bischoff: Ein Blick auf die ökonomisch-politischen »Schocks«, die auf uns zukommen

Die aktuellen Polykrisen

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 eine »Zeitenwende« konstatiert. Die politischen Folgen nach dieser Zäsur: Jahrzehntelang praktizierte Grundsätze der westlichen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik gelten seither nicht mehr.

Statt internationaler Kooperation, Globalisierung, internationaler Governance und gemeinsamer Sicherheit sind jetzt Abgrenzung, Aufrüstung und nationale Resilienz innerhalb des westlichen Bündnisses die leitenden Handlungsmaximen.

In Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine haben die NATO-Staaten mit bisher zehn Sanktionspaketen die russische Wirtschaft, aber auch die eigenen Ökonomien beschädigt. Alle restriktiven Maßnahmen zielen darauf, die politischen Eliten und die Wirtschaft Russlands zu schwächen, wenngleich dies ohne Beschädigung der westlichen Ökonomien nicht zu haben ist. Neben der Sanktionierung von Finanzgeschäften und Banken sind es vor allem die großen Energie-, Finanz- und Technologieembargos, die bisherige Kooperationen aufheben. Dazu gehören zuvorderst das Import-Verbot von russischem Rohöl oberhalb einer festgelegten Preisgrenze, der Ausschluss der russischen Banken aus dem Swift-System zur Regulierung der internationalen Finanzströme und die massive Einschränkung des Zugangs zu auch kriegsrelevanten Schlüsseltechnologien.

Die Aggression Russlands ist nur eine Facette einer mehrdimensionalen internationalen Krise: Pandemie, Klimawandel, Inflation und Energiekrise, aber auch die Fragilität Europas, die unwägbare Zukunft der USA und das Machtstreben Chinas bündeln sich zu einer umfassenden Polykrise. Der Begriff der Polykrise bedeutet, dass sich die Wirkungen der jeweiligen Krisen gegenseitig verstärken. Der Begriff Polykrise, also das zeitliche Zusammenfallen mehrerer großer Krisen, trifft die gegenwärtige Realität präziser als »Zeitenwende«.

Vor welchen Herausforderungen steht die EU nach dem turbulenten Jahr 2022? Für die kapitalistische Produktionsweise – also die Wettbewerbsverhältnisse der kapitalistischen Nationen – ist der kritische Punkt die möglichst preiswerte Energieversorgung. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine kamen die Hälfte der deutschen Gas- und Kohleimporte und sogar ein Drittel des Öls aus Russland. Wegen hoher Energiepreise verliert Europa strukturell an internationaler Wettbewerbsfähigkeit.

Seit Beginn des Krieges versucht die Bundesregierung, Alternativen zu russischen Energieimporten zu finden. Nach dem weitgehenden Ausfall der russischen fossilen Energien geht es um die Neugruppierung des Energiemixes und mit dem Ausbau der regenerativen Energien um eine Beschleunigung des European Green Deal oder den Übergang zu einer dekarbonisierten und weitgehend digitalisierten Betriebsweise des Kapitals. Im Hintergrund aller Reformanstrengungen steht die Klimakrise als existenzielles Menschheitsproblem im Zeitalter des Anthropozäns.

Die Energiekrise hat eine verstärkte Inflation ausgelöst. So kommt es mit der nicht nur auf die Ukraine beschränkte Flucht- und Migrationsbewegung, der Corona-Pandemie und der von der Explosion der Energiepreise verstärkten Inflation zu Kaufkraft- und Wohlstandsverschiebungen oder gar -brüchen. Die verschiedenen und sich verstärkenden Krisen sind jeweils eingebunden in gesellschaftliche Bewegungen und politische Konflikte. Die aktuellen Verteilungskonflikte verstärken die Entfremdung gegenüber gesellschaftlichen Institutionen und lösen eine zunehmende politische Entfremdung und Polarisierung aus. Denkbar wird, dass durch die Dynamik die Polykrise in einen Kipppunkt umschlägt, der nicht nur eine Verschiebung der nationalen politischen Kräfteverhältnisse bewirkt, sondern den Rückhalt für politische Parteien im demokratischen Wettbewerb gefährdet.

Fakt ist: Die westlichen Gesellschaften stolpern von einem Schock in den nächsten: »Es ist viel los, es schlägt viel auf uns ein. Diese Schocks bewegen sich sehr schnell, und sie potenzieren sich gegenseitig.«[1]

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.de.

[1] Adam Tooze, »Nie da gewesene Gefahren kommen auf uns zu, mit immer grösserer Gewalt«, NZZ Standpunkte 24.10.2022.

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

Zurück